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Meine Geschichte der deutschen Literatur

Vom Mittelalter bis zur Gegenwart

AutorMarcel Reich-Ranicki
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl576 Seiten
ISBN9783641141776
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Marcel Reich-Ranicki über die ihm wichtigsten Werke der deutschen Literatur
Zeit seines Lebens trat Marcel Reich-Ranicki unermüdlich für die Literatur ein und scheute sich dabei nie, eine ganz eigenwillige Auswahl der bedeutendsten Autoren und ihrer Werke zu treffen. Denn »der Verzicht auf einen Kanon«, so seine Überzeugung, »würde den Rückfall in die Barbarei bedeuten«. Hier erscheint nun eine umfassende Sammlung der wichtigsten und besten Essays dieses leidenschaftlichen Kritikers.

Marcel Reich-Ranicki, geboren 1920 in Polen, lebte von 1929 bis 1938 in Berlin. Nach der Deportation durch die Nazis überlebte er nur knapp das Warschauer Ghetto und kehrte nach dem Krieg nach Deutschland zurück, wo er seine Karriere als Literaturkritiker begann: Er war von 1960 bis 1973 Literaturkritiker der 'Zeit' und leitete von 1973 bis 1988 den Literaturteil der 'FAZ', wo er noch bis zu seinem Tod als Kritiker und Redakteur der 'Frankfurter Anthologie' tätig war. Von 1988 bis 2001 leitete er 'Das Literarische Quartett' des ZDF. Nahezu alle Deutschen kennen Marcel Reich-Ranicki - er war 'der' Kritiker und enfant terrible der Medienlandschaft. In seinem geschriebenen wie gesprochenen Wort spürte man jederzeit die Leidenschaft und Konsequenz, mit der er sich für Literatur einsetzte. Seine 1999 erschienene Autobiographie 'Mein Leben' wurde zum Millionenbestseller und 2008 von Dror Zahavi mit Matthias Schweighöfer in der Hauptrolle verfilmt. Er erhielt zahlreiche literarische und akademische Auszeichnungen. Marcel Reich-Ranicki verstarb 2013 in Frankfurt am Main.

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Leseprobe

Das Herz – der Joker der deutschen Dichtung

Mit dem Herzen hat es eine eigene Bewandtnis. Es ist – sagt der Prophet Jeremias – »das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?« Ohne das Herz, weiß jedes Kind, kann niemand existieren. Nur stellt sich meist heraus, dass gerade die herzlosen Menschen lange und gut leben. Man kann sein Herz verschenken: »Ich schenk mein Herz nur dir allein« – singt die Madame Dubarry in Millöckers Operette. Man kann sich auch ein Menschenherz als Geschenk wünschen, ohne deshalb der Grausamkeit bezichtigt zu werden. Aus dem »Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach« kennen wir ja das wunderbare Lied, das mit den Worten beginnt: »Willst du dein Herz mir schenken, /so fang es heimlich an …« Bisweilen sind jene Menschen besonders glücklich, die ihr Herz verschenkt oder die es ganz einfach verloren haben, beispielsweise in Heidelberg.

Verwunderlich ist auch, was das Herz alles vermag. Denn es kann schlagen und klopfen, pochen und hämmern, es kann zittern und flattern, aber auch schmachten und jubeln, es kann stillstehen, aber auch aufwachen und erglühen, es kann stocken und versagen, brechen und zerspringen. Das Herz kann sich an sehr verschiedenen Orten befinden, mitunter sogar gleichzeitig. Man kann es auf der Zunge haben, aber es kann einem auch in die Hose rutschen. Es kann einem im Leibe lachen, aber sich auch im Leibe umdrehen. Man kann es auf dem rechten Fleck haben, aber auch stehlen und erobern.

Man kann sich ein Herz fassen, aber auch sein Herz an jemanden hängen. Man kann seinem Herzen Luft machen und ihm einen Stoß geben, es kann einem ein Stein vom Herzen fallen. Man kann etwas auf dem Herzen haben und ein Kind unter dem Herzen tragen.

Man kann die Zwietracht, zumal die deutsche, mitten ins Herz treffen. Und wes das Herz voll ist – wir wissen es aus der Bibel –, des kann der Mund übergehen. Und da man sich einer Sache mit halbem Herzen zuwenden kann, lässt es sich offenbar auch halbieren. Natürlich kann man aus seinem Herzen eine Mördergrube und, häufiger noch, keine Mördergrube machen. Auch kann man jemanden in sein Herz schließen, ja, dort ist so viel Platz, dass sich sogar ein ganzer Chor ins Herz schließen lässt. Und weil das Herz, wie man schon im Mittelalter zu wissen glaubte, eben verschließbar ist, kann es gewisse Schwierigkeiten und auch Möglichkeiten geben – nämlich mit dem Schlüssel. In einem der ältesten und schönsten deutschen Liebesgedichte, in jenem, das aus nur sechs Versen besteht und mit den Worten beginnt: »Du bist min, ich bin din: /Des solt du gewis sin«, ist die oder der Geliebte im Herzen verschlossen, zu dem es ein Schlüsselein gibt; aber es ist abhanden gekommen, und so muss sie oder er immer darin, im Herzen also, bleiben.

Es gibt kaum ein Substantiv, das die Menschen, jedenfalls in Europa, so häufig und in so vielen Verbindungen gebrauchen wie dieses eine: das Herz. Es gibt auch kaum ein Eigenschaftswort, das man nicht früher oder später mit der Vokabel »Herz« gekoppelt hätte. Ein Herz kann warm und weich sein, treu und traurig, klein und kalt, heiß und hart, gütig und großzügig, stolz und steinern. Kurz: Es kann alles sein. Groß ist auch die Zahl der deutschen Adjektive, die aus dem Wort »Herz« gebildet wurden. Wir sprechen von barmherzigen, engherzigen und hartherzigen, von herzlichen und herzhaften, von herzlosen und herzgläubigen Menschen.

Mehr noch: Das Herz, ein Körperteil, kann seinerseits, so wollen es manche Dichter, und nicht die schlechtesten, ebenfalls Körperteile haben, zumindest Knie. Jedenfalls schrieb Kleist am 24. Januar 1808 an Goethe, dem er das erste Heft des »Phoebus« zuschickte: »Es ist auf den ›Knien meines Herzens‹, daß ich damit vor Ihnen erscheine.« Allerdings hat Kleist die Wendung »Knien meines Herzens« mit Anführungszeichen versehen.

Woher stammen diese Worte? Wir wissen es nicht, doch wurde vermutet, er habe jenen Autor zitiert, den die Schriftsteller am liebsten zitieren – nämlich sich selbst. Denn in seiner »Penthesilea« heißt es: »O du, /Vor der mein Herz auf Knien niederfällt …« Es kann aber auch sein, dass Kleist – fleißige Germanisten haben es nachgewiesen – artigerweise seinen Adressaten zitiert hat, dem diese Wendung schon in frühen Jahren unterlaufen ist. Nur hat auch Goethe die »Knie des Herzens« keineswegs erfunden, es gab sie schon bei Petrarca. Und auch dieser hat sie entliehen, nämlich aus der Bibel.

Was immer das Herz betrifft oder mit dem Herzen zusammenhängt – es hat eine lange, eine uralte Tradition. Seit die Menschen denken und ihre Gedanken ausdrücken und notieren konnten, war für sie das Herz ungleich mehr als nur ein Muskel. Und so unterschiedlich die alten Völker das Herz beurteilt haben, so wurde ihm doch stets eine zentrale Funktion zugesprochen.

Klare, wenn auch falsche Vorstellungen von der Funktion des Herzens hatten die alten Ägypter: Sie waren überzeugt, in ihm sei das Gewissen des Menschen untergebracht. Daher haben sie auch, um sich von der Redlichkeit eines Verstorbenen zu überzeugen, dessen Herz gewogen: Je schwerer es war, desto besser war sein Charakter. Die Chinesen wiederum glaubten, das Herz sei das intellektuelle Zentrum des Menschen. Auch die alten Griechen, Aristoteles zumal, haben das Herz keineswegs unterschätzt: Sie hielten es für das wichtigste Organ des Körpers, sie waren sicher, dass alle anderen von ihm abhingen. Aber zugleich meinten sie, in ihm sei die Seele des Menschen zu finden.

Und die Liebe? Schon in dem berühmten »Gilgamesch«, dem vor über viertausend Jahren entstandenen babylonischen Nationalepos, hat das Herz mit der Liebe zu tun. So wird hier in einer eindeutig erotischen Episode ein Jäger von einer hübschen Frau, offensichtlich einer Hure, zärtlich betreut: »Er wurde« – lesen wir – »heiter, und sein Herz war voll Freude …«

Doch sind derartige Verweise in der alten Literatur nur selten, nur in Ausnahmefällen zu finden: Noch hat man erotische Gefühle keineswegs, wie immer wieder in späteren Zeiten, dem Herzen zugeschrieben. Und dies gilt, trotz der aristotelischen Lehre von der Allmacht des Herzens, auch für das alte Griechenland. Erst aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert stammt eine bemerkenswerte, wenn nicht gar bahnbrechende Geschichte.

Es geschah, dass der Sohn des Königs von Syrien, der Kronprinz Antiochus, schwer erkrankt war. Niemand konnte ihn heilen. Da ließ der alte König den berühmten Arzt Erasistratos rufen. Dieser untersuchte und beobachtete den Patienten sorgfältig und fand heraus, dass dessen Puls besonders schnell ging, sobald er seine Stiefmutter, die junge und schöne Königin, zu sehen bekam. Die Diagnose des Arztes lautete: Der Kronprinz sei herzkrank, doch heilbar. Er leide an der Liebe zur Stiefmutter. Sein Vater war klug und wollte nichts von König Philipps Glück. Er verzichtete also auf seine jugendliche Gemahlin, und der Kronprinz wurde gesund und glücklich: Die Don-Carlos-Tragödie fand in Syrien nicht statt. Erasistratos, der also bestimmte Herzleiden zu heilen vermochte, war natürlich kein Kardiologe, vielmehr ein Arzt, der sich vor allem auf die psychischen Ursachen der Erkrankungen verstand. Seitdem sind über zweitausend Jahre vergangen, und in der Dichtung ist, schon seit dem frühen Mittelalter, von dem Herzen die Rede. Aber in der Regel sind es nicht die Kardiologen, die den Helden der Literatur helfen könnten.

Nicht etwa, dass die Ärzte angesichts dieser Leiden überflüssig wären. Im Gegenteil, auch und gerade jene Menschen, von denen wir in Romanen, in Dramen und Gedichten hören, brauchten oft die Mediziner. Patienten sind sie allemal, nur fallen ihre Krankheiten wohl eher in die Kompetenz der Psychotherapeuten, wenn nicht gar der Psychiater. Sicher ist jedenfalls, dass schon in den ältesten deutschen Dichtungen, in den Epen des 9. Jahrhunderts, auf »Herz« »Schmerz« gereimt wurde und dass diesen Schmerzen nicht die Ärzte ihre Einkünfte verdankten, sondern die Literaten.

Wenn das Herz keine Leiden bereitete, zahllose Gedichte wären ungeschrieben geblieben und viele Romane und Dramen ebenfalls. Das Motto der Deutschen Herzstiftung – »Hab’ ein Auge auf dein Herz« – ist gewiss ein guter Spruch, ein notwendiger Appell an uns alle. Nur an eine Adresse braucht man ihn nicht zu richten: an die Literatur. Ja, mir will es scheinen, dass sich viele Jahrhunderte hindurch die Dichtung mehr um das Herz gekümmert hat als die Medizin. Und heute wird den Schriftstellern bisweilen vorgeworfen, dass sie sich allzu intensiv und extensiv mit dem eigenen Herzen, mit der eigenen Person beschäftigen.

In alten Zeiten wurde allerdings in deutschen Ländern das Herz, wenn man der Literatur trauen kann, oft gegessen. So hat, der »Edda« zufolge, Siegfried das Herz des Riesen Fafnir verspeist und dadurch die Sprache der Vögel erlernt; bei Richard Wagner wird dieser aus linguistischen Gründen erforderliche Konsum deutlich eingeschränkt: Hier genügen, um das Vogelidiom zu erlernen, schon einige Blutstropfen. Im »Atlilied« geht es noch barbarischer zu: Gudrun setzt ihrem Gatten, dem König Atli, auch Attila genannt, die Herzen ihrer Kinder zur Mahlzeit vor. Aus dem frühen Mittelalter wird noch von einem anderen Herzkonsum berichtet, der mir, bei aller Grausamkeit, doch etwas zweideutig scheint. Es seien, heißt es, Hexen oft ausgeflogen, um sich an Männerherzen gütlich zu tun: Sie rissen ihren Opfern das Herz aus dem Leibe, um es zu verschmausen. Sonderbarerweise blieben aber die Männer, denen das Herz auf diese Weise entwendet wurde, am Leben. Jene Hexen mögen verwerflich gewesen sein, ob sie auch abstoßend waren – dessen bin ich nicht so...

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