Einleitung
Viele, die sich mit Kaiserin »Sisi« beschäftigen, kennen den Namen Gräfin Marie Festetics. Sie kennen sie als Hofdame der Kaiserin und als Verfasserin eines Tagebuches. Als Person blieb sie jedoch unbekannt, ihre Schriften kennt man nur in einigen wenigen Auszügen. Bereits die Zeitgenossen hätten gerne gewusst, was die Vertraute der Kaiserin darin täglich notierte.
Die einen hatten Bedenken, ob man die Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zumuten könne, so Erzherzogin Marie Valerie: »Ich bat und erhielt ihr Versprechen, dass sie nach ihrem Tode ihre Tagebücher mir oder meiner Familie vermachen werde … denn ich glaube nicht, dass ihre Aufzeichnungen wahrheitsgetreu genug sind, um etwa ohne weiteres veröffentlicht zu werden.«1 Andere wiederum waren überzeugt, dass die Gräfin eine wichtige Zeitzeugin vieler bedeutender Ereignisse war. 1907 schrieb der berühmte Historiker Heinrich Friedjung an den k.u.k. Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal: »Ich verkehre hier in Campiglio viel mit Gräfin Marie Festetics, deren Umgang für mich als Forscher und Geschichtsfreund lehrreich und genußvoll ist. In fesselnden Schilderungen zieht an mir der Hof unseres Kaisers und seiner Gemahlin vorüber; ich gewinne zum ersten Male klaren und überzeugenden Eindruck von der menschlichen und Frauengröße der unglücklichen Herrscherin, die Gestalten Deáks und Andrássys wie der jetzt wirkenden Generation werden mir lebendiger als je. Wieder einmal drängt sich mir die Erkenntnis auf, um [wie] viel eine kluge, hochgesinnte Frau tiefer in die Seele der Mitlebenden eindringt als selbst ein geistig hochstehender Mann. So viel wie von Gräfin Festetics habe ich von Niemandem über die Charaktere der von 1860 bis 1895 wirkenden Generation gelernt.«2
Das Tagebuch der Gräfin Marie Festetics ist tatsächlich eines der wichtigsten Zeugnisse aus der Zeit der Habsburgermonarchie. Der Historiker Egon Cesar Conte Corti benützte es als Erster für seine 1934 erschienene Biografie über Kaiserin Elisabeth; ein halbes Jahrhundert später bediente sich auch Brigitte Hamann der Tagebücher für ihre Monografien.3
Doch das Tagebuch selbst wurde niemals publiziert. Damit stellt sich die Frage, warum dies bisher nicht geschehen ist, wo die Aufzeichnungen doch seit Jahrzehnten öffentlich einsehbar waren. Die Tagebücher sind eine hochinteressante, jedoch schwer zu enträtselnde Quelle. Die Handschrift der Gräfin ist in Kurrent und teilweise sehr schwer leserlich. Sie schrieb nicht in ganzen Sätzen, sondern in Notizform, außerdem setzte sie keine Satzzeichen, sondern nur Gedankenstriche an beliebigen Stellen. Der Originaltext musste daher sprachlich behutsam aufbereitet werden, um leichter lesbar und verständlich zu sein. Die Hauptsprache, in der Marie Festetics schreibt, ist Deutsch, obwohl sie Ungarin war. Etliche Passagen sind in Ungarisch geschrieben, andere in Französisch und einige wenige in Englisch. Aufgrund des Umfanges der Tagebücher – zehn Bücher mit insgesamt über 2000 Seiten – konnte nicht alles in diesem Buch wiedergegeben werden, sondern wir mussten eine Auswahl treffen und Einträge kürzen. Die Tagebücher umfassen den Zeitraum von 1871 bis 1884, dann klafft eine Lücke bis zum Jahr 1904, die Jahre bis 1906 sind wiederum erfasst. Es konnte noch ein Tagebuch aus den Jahren 1917 bis 1918 ausfindig gemacht werden, das bisher zur Gänze unbeachtet geblieben ist und das die Eindrücke der Gräfin während des Ersten Weltkrieges wiedergibt. Wann die fehlenden Bücher verschwunden sind und wer sie entwendet oder vernichtet hat, ist nicht geklärt. Der Verlust ist sehr schade, denn Marie Festetics’ Schilderung etwa der Ereignisse rund um den rätselhaften Tod des Kronprinzen Rudolf wäre sehr spannend und aufschlussreich gewesen.
Trotz dieser zeitlichen Lücken bieten die Tagebücher reichlich Stoff für einen aufschlussreichen Blick hinter die Kulissen des Lebens der Kaiserfamilie und deren Charaktere. Fast täglich machte die Gräfin einen Eintrag, wodurch ihre Eindrücke sehr unmittelbar und lebendig wirken. »Dieses Buch ist mir wirklich ein Lebensbedürfniß geworden«, schreibt sie am 9. Oktober 1874. Und sie verfolgte damit, neben einer seelischen Entlastung, einen weiterreichenden Zweck: Es sollte der Nachwelt beweisen, wie großartig ihre Herrin in Wahrheit gewesen war – entgegen allem Hofklatsch.
Marie Festetics selbst schreibt über ihre Motive, das Tagebuch über Jahrzehnte so akribisch zu führen: »Ich berieth lange mit mir, ob ich das alles niederschreiben soll! Darf?? Das Herz sagt ja! Einst vielleicht wird Ihrem Andenken Gerechtigkeit dadurch widerfahren.«4 Und an anderer Stelle schreibt sie: »Es ist früh noch – ich benütze den Moment – ich sehne mich nach meinem Buche – dem stillen Freund, der geduldig meine Eindrücke aufnimmt, mich nicht mißversteht und nicht plaudert! Und ich? Ich schwäzte aber, beschreibe Blatt um Blatt, lege Herz und Seele da hinein, möchte ›Ihr‹ ein bleibend Denkmal setzen. Und dann wieder frage ich mich, zu welchem Zwecke? Damit der Wind sie einst verweht, nachdem ich vielleicht in alten Tagen noch einmal wehmüthig darüber hinblätternd mir sage: ›Das ist das Einzige, das von meinem so bewegten Leben, nach so viel Entsagen, so viel Weh, nach versäumter Jugend, versäumtem Glück übrig blieb!‹ «5
Ihre Notizen stammen aus unmittelbarem Erleben und sind daher absolut authentisch. Da die Gräfin eine außerordentlich wahrheitsliebende Frau war, sind die Aufzeichnungen auch glaubwürdig. Gräfin Festetics war nicht nur eine schöne Frau – wie ihre Herrin und Freundin Kaiserin Elisabeth –, sondern auch eine besonders kluge. Ihre scharfsinnigen und schonungslosen Analysen und Beobachtungen, die sie am Wiener Hof machte, notierte sie gewissenhaft und ungeschminkt in ihren Tagebüchern. Sie hatte Gelegenheit, sowohl das Privatleben der Kaiserfamilie als auch die politischen Ereignisse der Zeit aus nächster Nähe zu erleben und zu beobachten. Das macht ihre Notizen zu einer einzigartigen Quelle und einem spannenden Lesestoff.
Hofdame zu sein war einer der wenigen Berufe, die Damen der höheren Gesellschaft ergreifen konnten, wenn sie für eine Heirat zu wenig zu bieten hatten: zu wenig Geld oder zu wenig Schönheit. Als andere Möglichkeit blieb nur das Kloster. Es war ein echter Beruf, mit einem guten Gehalt, Kost, Logis, Urlaubsanspruch und gesellschaftlicher Anerkennung. Die Aufgabe einer Hofdame war es, ihre Herrin überall hin zu begleiten, ihr Gesellschaft zu leisten, Sekretariatsaufgaben zu erledigen und Repräsentationspflichten zu erfüllen. Im Idealfall wurden Hofdamen enge Vertraute ihrer Herrin. Für eine Dame eines regierenden Hauses war es unbedingt notwendig, ein Gefolge zu haben, das unter anderem aus den Hofdamen gebildet wurde. Diese erhielten dadurch tiefe Einblicke auch in das Privatleben der Monarchen, weshalb Diskretion die oberste Maxime war.6
Marie Festetics nahm Diskretion besonders ernst; nur ihren Tagebüchern vertraute sie an, was sie erlebt und beobachtet hatte. Sie beschrieb die berühmten Persönlichkeiten ihrer Zeit – von Kaiser Wilhelm über Queen Victoria bis zum russischen Zaren und Richard Wagner; und sie berichtete vom Verhältnis der Mitglieder der allerhöchsten Familie untereinander: von Kaiser Franz Joseph und seiner Liebe zur Kaiserin, von den kaiserlichen Schwestern, an denen Marie Festetics kein gutes Haar ließ, und von den Erzherzoginnen und Erzherzögen. Sie gab wieder, was ihr Kaiserin Elisabeth an Seelennöten anvertraute, und so erhalten wir heute einen unmittelbaren Einblick in die Gedankenwelt der legendenumwobenen »Sisi«.
Die Funktion der Gräfin Festetics als Hofdame war nicht nur ein persönlicher Dienst, sondern auch eine politische Aufgabe: Besonders schätzte sie Graf Gyula Andrássy, in den sie offenbar auch ein wenig verliebt war. Er vermittelte sie an den Wiener Hof, um der Sache Ungarns zu dienen. Aus diesem Grund wurde sie von den Gegnern des ungarischen »Ausgleichs«, also der Gleichstellung Ungarns als Königreich im Verbund der Monarchie, als »Spion Andrássys« bezeichnet, was sie sehr kränkte. Der Vorbehalt war jedoch insofern berechtigt, als sie in allem die Sache Ungarns förderte und verteidigte. Gefürchtet war ihre unmittelbare, ehrliche und offene Art: Sie sprach direkt an, was am Wiener Hof in der feinen Gesellschaft nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen (oder besser: getratscht) wurde.
Marie Festetics’ Blick auf die kaiserliche Familie und das Zeitgeschehen ist naturgemäß subjektiv, und wir geben die Aufzeichnungen auch in diesem Sinn originalgetreu wieder. Wir haben aus der Textfülle die unserer Ansicht nach interessantesten und spannendsten Stellen ausgewählt und thematisch geordnet, um eine kurzweilige Lektüre zu bieten. Zur besseren Orientierung und Verständlichkeit haben wir immer wieder kurze Überleitungstexte...