Gleich zu Beginn des Films »Im Auftrag des Drachen« schlendert Clint Eastwood in die schwach erleuchtete Zentrale von C-2, um sich zu erkundigen, wen er als nächstes ausschalten soll. Dragon, der finstere Albino, der die CIA-ähnliche Organisation leitet, erklärt Eastwood, daß man zwar noch nicht den Namen der Zielperson kenne, aber schon herausgefunden habe, daß »unser Mann diesen Sommer in den Alpen klettern wird. Und wir wissen auch schon, an welchem Berg: am Eiger.«
Für Eastwood ist gleich klar, welche Route er nehmen wird – »Die Nordwand selbstverständlich« –, und er läßt einfließen, daß er mit dieser Wand vertraut ist. »Ich habe zweimal versucht, sie zu durchsteigen, und sie hat zweimal versucht, mich umzubringen … Wenn die Zielperson beabsichtigt, den Eiger zu besteigen, habe ich gute Chancen, daß der Berg die Arbeit für mich erledigt.«
Das Problem beim Durchsteigen der Eiger-Nordwand ist, daß man nicht nur senkrechte 1800 Meter brüchigen Kalkstein und schwarzes Eis hinauf, sondern auch einige furchterregende Legenden überwinden muß. Die schwierigsten Schritte bei jedem Aufstieg sind immer die mentalen, die psychischen Verrenkungen, die die Angst in Schach halten sollen, und die grimmige Aura des Eiger ist einschüchternd genug, jeden aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die Dramen, die sich in der Nordwand abgespielt haben, sind durch mehr als 2000 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel in allen gräßlichen Details ins kollektive Unterbewußtsein der Welt eingegangen. Die Umschläge von Büchern wie Todeswand Eiger erinnern uns daran, daß die Nordwand »Hunderte besiegt und vierundvierzig getötet hat«. Diejenigen, die abgestürzt sind, wurden – manchmal erst nach Jahren – ausgetrocknet und zerschmettert gefunden. Der Körper eines italienischen Bergsteigers hing unerreichbar, aber für die Neugierigen im Tal gut sichtbar, drei Jahre im Seil, abwechselnd in den Eispanzer der Wand eingefroren, dann wieder im Sommerwind hin und her schwingend.
Die Geschichte der Berge ist voll von Kämpfen solch heroischer Gestalten wie Buhl, Bonatti, Messner, Rebuffat, Terray, Haston und Harlin, von Eastwood ganz zu schweigen. Die Namen einiger Passagen der Wand – Hinterstoisser-Quergang, Eisschlauch, Todesbiwak, Weiße Spinne – sind für aktive Alpinisten wie für Flachlandtouristen von Tokio bis Buenos Aires geläufige Begriffe, deren bloße Erwähnung die Hände jedes Kletterers feucht werden läßt. Die Steinschläge und Lawinen, die pausenlos durch die Nordwand poltern, sind berüchtigt. Und das ist auch das Wetter: Selbst wenn der Himmel über dem übrigen Europa wolkenlos ist, brauen sich über dem Eiger heftige Stürme zusammen, jenen düsteren Wolken ähnlich, die in Vampirfilmen immer über den transsylvanischen Schlössern schweben.
Überflüssig zu sagen, daß all das die Eiger-Nordwand zu einer der begehrtesten Kletterrouten der Welt gemacht hat.
Die Nordwand wurde 1938 zum ersten Mal vollständig durchstiegen und hat seitdem über 150 Begehungen erlebt, darunter eine Solobegehung im Jahr 1983, die ganze fünfeinhalb Stunden dauerte, aber erzählen Sie um Gottes willen Staff Sergeant Carlos J. Ragone von der amerikanischen Luftwaffe nicht, daß der Eiger zu einem landschaftlich reizvollen Spaziergang geworden sei. Im letzten Herbst saß ich mit Marc Twight vor unseren Zelten oberhalb der Kleinen Scheidegg, der Ansammlung von Hotels und Restaurants am Fuß des Eiger, als Ragone unter einem prallgefüllten Rucksack ins Lager spazierte und verkündete, daß er die Nordwand durchsteigen wolle. In dem Gespräch, das sich nun ergab, erfuhren wir, daß er sich unerlaubt von der Truppe, einem Luftstützpunkt in England, entfernt hatte. Sein Kommandeur hatte sich geweigert, Ragone Urlaub zu geben, als er erfahren hatte, wie Ragone ihn verbringen wollte, aber Ragone war trotzdem losgezogen. »Diese Tour kostet mich wahrscheinlich meine Uniform«, meinte er, »aber andererseits, wenn ich die Mutter hier hochkomme, vielleicht befördern sie mich dann.«
Unglücklicherweise kam Ragone die Mutter nicht hoch. Der September war als der nasseste seit 1864 in die schweizerischen Annalen eingegangen, und die Wand befand sich in einem erbärmlichen Zustand, noch schlimmer als üblich, mit einer Eiskruste überzogen und vollgepackt mit Lockerschnee. In der Wettervorhersage war von anhaltenden Schneefällen und Sturm die Rede. Zwei Gefährten, mit denen Ragone hatte zusammentreffen wollen, waren aufgrund der widrigen Umstände ausgestiegen. Ragone hatte jedoch nicht vor, aufzugeben, nur weil er keine Begleiter mehr hatte. Am 3. Oktober ging er die Tour allein an. Noch im unteren Wandbereich, nahe dem Kopf des Ersten Pfeilers, unterlief ihm ein Fehltritt. Seine Eispickel und Steigeisen brachen aus dem spröden Eis, und Ragone flog aus der Wand. 150 Meter weiter unten schlug er auf.
Unglaublich, aber sein Sturz wurde durch eine Ansammlung von Pulverschnee am Fuß der Wand so abgefangen, daß Ragone mit lediglich ein paar Schrammen und einer leichten Prellung am Rücken davonkam. Er humpelte durch den Schneesturm ins Bahnhofsbuffet, fragte nach einem Zimmer, ging nach oben und schlief sofort ein. Irgendwo auf seinem Sturz zum Wandfuß hatte er einen Eispickel und sein Portemonnaie verloren, in dem sich all seine Papiere und sein Geld befanden. Als es am nächsten Morgen Zeit war, die Zimmerrechnung zu begleichen, konnte Ragone nur seinen verbliebenen Eispickel als Bezahlung anbieten. Der Chef vom»Bahnhof« war nicht sehr erbaut. Bevor er sich aus der Scheidegg stahl, kam Ragone noch bei uns im Lager vorbei und fragte, ob wir daran interessiert wären, seine restliche Kletterausrüstung zu erstehen. Wir machten ihm klar, daß wir ihm zwar gerne geholfen hätten, aber selbst gerade etwas klamm seien. Ragone, der den Eindruck machte, für eine Weile keine sonderlich große Lust zum Klettern zu haben, erklärte daraufhin, daß er uns das Zeug schenken wolle. »Dieser Berg ist ein Monster«, giftete er und warf einen letzten Blick auf die Nordwand. Dann trottete er durch den Schnee davon Richtung England, um sich dem Strafgericht seines Kommandeurs zu stellen.
Wie Ragone waren auch Marc und ich in die Schweiz gekommen, um die Nordwand zu durchsteigen. Marc, acht Jahre jünger als ich, trägt zwei Ringe im linken Ohr und hat purpurne Haare, die jedem Punker zur Ehre gereichen würden. Außerdem ist er ein leidenschaftlicher Kletterer. Ein Unterschied zwischen uns war der, daß Marc unbedingt die Eigerwand durchsteigen wollte, während ich nur unbedingt die Eigerwand in meiner Erfolgsbilanz haben wollte. Marc ist in dem Alter, in dem die Hypophyse im Überfluß Hormone ausschüttet, die differenziertere Emotionen wie etwa Angst unterdrücken. Er neigt dazu, Dinge wie Klettern um Leben oder Tod mit Spaß zu verwechseln. Ich bin ein freundlicher Mensch und beabsichtigte, Marc an all den besonders spaßigen Passagen der Nordwand vorsteigen zu lassen.
Im Gegensatz zu Ragone waren Marc und ich nicht bereit, in die Wand einzusteigen, wenn sich die Bedingungen nicht besserten. Da die Nordwand leicht konkav geformt ist, sind bei Schneefall nur wenige Abschnitte nicht lawinengefährdet. Im Sommer, wenn alles gutgeht, braucht eine starke Seilschaft normalerweise zwei oder drei Tage, um die Wand zu durchsteigen. Im Herbst, wenn die Tage kürzer und die Bedingungen eisiger sind, sind drei bis vier Tage die Norm. Um möglichst gute Chancen zu haben, den Eiger ohne unangenehme Zwischenfälle hinauf- und wieder herunterzukommen, brauchten wir, wie wir meinten, mindestens vier Tage gutes Wetter am Stück: einen Tag, damit der Neuschnee als Lawinen abgehen konnte, und drei Tage für die Durchsteigung der Wand sowie den Abstieg über die Westflanke.
Jeden Morgen krochen wir aus unseren Zelten an der Scheidegg, pflügten durch die Schneewehen hinunter zum Bahnhof und riefen in Genf und Zürich an, um uns eine Wettervorhersage für vier Tage geben zu lassen. Jeden Tag bekamen wir das gleiche zu hören: weiterhin unbeständiges Wetter, in den Tälern Regen, in den Bergen Schnee. Uns blieb nichts als zu fluchen und zu warten, und das Warten war schrecklich. Das sagenumwobene Gewicht des Eiger lastete vor allem an den verlorenen Tagen schwer auf uns, und man wurde leicht veranlaßt, zuviel nachzudenken.
An einem Nachmittag fuhren wir, um uns abzulenken, mit der Bahn zum Jungfraujoch, einer Zahnradbahn, die von der Kleinen Scheidegg zu einem Sattel oben im Eiger- und Jungfraumassiv führt. Das erwies sich als ein Fehler. Die Bahn durchquert die Eingeweide des Eiger in einem Tunnel, der 1912 in den Berg gesprengt wurde. Auf halbem Weg liegt eine Zwischenstation mit ein paar riesigen Fenstern, durch die man in die senkrechte Nordwand blickt.
Der Blick aus diesen Fenstern ist so schwindelerregend, daß auf den Fensterbänken Spucktüten liegen – die gleichen, die im Flugzeug in den Sitzlehnen stekken. Direkt vor den Scheiben wirbelten die Wolken. Der schwarze Fels der Nordwand, der dort, wo er überhing, mit filigranen Reifgebilden und Eiszapfen überzogen war, verschwand lotrecht in den Nebelschwaden. Kleine Lawinen zischten vorbei. Falls wir während unserer Tour in ähnliche Verhältnisse geraten sollten, würden wir in größte Schwierigkeiten kommen. Unter solchen Bedingungen zu klettern würde katastrophal, wenn nicht unmöglich sein.
Am Eiger vermischen sich Phantasiegebilde irgendwie mit der Wirklichkeit, und die Station in der Eigerwand ähnelte etwas zu sehr der Szene aus einem Traum, den ich seit Jahren immer wieder träume und in dem ich bei Sturm in einer nicht enden wollenden Bergtour um mein Leben kämpfe und schließlich an eine Tür im Fels komme. Die Tür führt in einen warmen Raum mit einer Feuerstelle, Tischen, auf...