EINLEITUNG
Als eine herausragende, ebenso imponierende wie impulsgebende Gestalt in der Geschichte der Christenheit trat Francesco, der heilige Franziskus, der Arme von Assisi, an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert in Erscheinung. Zweifellos gehört er bis heute zum Kreis derer, die auch im außerkirchlichen Raum ihrer spirituellen Bedeutung nach bekannt und geschätzt sind. Als ein Mensch der Gottes- wie der Menschenliebe hat er, der enthusiastische Liebhaber der „Frau Armut“ (Donna povertà), der Poverello und Dichter des Sonnengesangs, seiner geschwisterlichen Beziehung zu den Elementen der Erde wie zu allen Geschöpfen einen beispielgebenden Ausdruck verliehen. So gilt er Ungezählten als einer der liebsten – wie Rilke sagt: „der Innigste und Liebendste von allen“ –, der menschlichsten und damit der glaubwürdigsten Heiligen. Einen solchen Heiligen verkörpert er nicht zuletzt deshalb, weil ihm aller Pomp und alles Gepränge einer der Veräußerlichung wie der Macht verschriebenen Kirche fremd geblieben sind. Frei und unbelastet von der Fessel des Besitzes, hat er Unzähligen seit Jahrhunderten ein Beispiel gegeben, auch wenn sie ihm mit der ihm eigenen Radikalität nicht nachzufolgen vermochten.
Seine Erscheinung erweckt trotz seiner mitunter auch befremdlich anmutenden rückhaltlosen Verzichtsbereitschaft liebende Anteilnahme. Von seiner Lebensführung geht seit Jahrhunderten – um es nochmals zu sagen – eine anrührende, eine beispielgebende geistliche Kraft aus! Dennoch bedarf Franz von Assisi keiner künstlichen Idealisierung.
In der Tat, mit der konkreten Gestalt seines durch Entschiedenheit gekennzeichneten Lebens mag er nicht immer Zustimmung finden. Aber durch seine von großer Schlichtheit geprägte elementare Frömmigkeit hat der durch die Christus-Stigmata Gezeichnete ein weithin leuchtendes, zugleich ein fortdauerndes Signal gesetzt. Franziskanische Bedürfnislosigkeit scheidet die Geister. Sie vermag zu jeder Zeit zur Besinnung zu rufen. Unsere Zeit hat sie nötiger denn je!
Es war Rainer Maria Rilke, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts im dritten Teil seines Stundenbuches an Franziskus und an einige Stationen seines inneren Lebens mit diesen Worten erinnert hat:
O wo ist der, der aus Besitz und Zeit
zu seiner großen Armut so erstarkte,
dass er die Kleider abtat auf dem Markte
und bar einherging vor des Bischofs Kleid.
Der Innigste und Liebendste von allen,
der kam und lebte wie ein junges Jahr,
der braune Bruder deiner Nachtigallen,
in dem ein Wundern und ein Wohlgefallen
und ein Entzücken an der Erde war.
Denn er war keiner von den immer Müdern,
die freudeloser werden nach und nach,
mit kleinen Blumen wie mit kleinen Brüdern
ging er den Wiesenrand entlang und sprach.
Und sprach von sich und wie er sich verwende,
sodass es allem eine Freude sei;
und seines hellen Herzens war kein Ende,
und kein Geringes ging daran vorbei.
Er kam aus Licht zu immer tieferm Lichte,
und seine Zelle stand in Heiterkeit.
Das Lächeln wuchs auf seinem Angesichte
und hatte seine Kindheit und Geschichte
und wurde reif wie eine Mädchenzeit.
Und wenn er sang, so kehrte selbst das Gestern
und das Vergessene zurück und kam;
und eine Stille wurde in den Nestern,
und nur die Herzen schrien in den Schwestern,
die er berührte wie ein Bräutigam.
Dann aber lösten seines Liedes Pollen
sich leise los aus seinem roten Mund
und trieben träumend zu den Liebevollen
und fielen in die offenen Corollen
und sanken langsam auf den Blütengrund.
Und sie empfingen ihn, den Makellosen,
in ihrem Leib, der ihre Seele war.
Und ihre Augen schlossen sich wie Rosen
und voller Liebesnächte war ihr Haar.
Und ihn empfing das Große und Geringe.
Zu vielen Tieren kamen Cherubim
zu sagen, dass ihr Weibchen Früchte bringe –
und waren wunderschöne Schmetterlinge:
Denn ihn erkannten alle Dinge
und hatten Fruchtbarkeit aus ihm.
Und als er starb, so leicht wie ohne Namen,
da war er ausgeteilt: sein Samen rann
in Bächen, in den Bäumen sang sein Samen
und sah ihn ruhig aus den Blumen an.
Er lag und sang: Und als die Schwestern kamen,
da weinten sie um ihren lieben Mann.
O wo ist er, der Klare, hingeklungen?
Was fühlen ihn die Jubelnden und Jungen,
die Armen, welche harren, nicht von fern?
Was steigt er nicht in ihren Dämmerungen –
der Armut großer Abendstern.
Diese und ähnliche Fragen verstärken sich eher noch, wenn man sieht, wie frühzeitig sich ein Kranz von Legenden um die schlichte, gleichwohl außerordentliche Lebensgeschichte dieses Mannes legte. Dichtung und historische Wahrheit durchdrangen sich bisweilen. Sie verschmolzen zu einem eigentümlichen Ganzen, zu einer Rühmung dieser rückhaltlosen, zugleich unnachahmlichen Christus-Nachfolge.
Freilich, nur ein gerade ausreichendes, somit knappes Minimum an belegbaren Fakten und an authentischen Selbstzeugnissen liegt vor, um sein Leben und seine Jesus-Liebe nachzeichnen zu können. Wer wollte im Übrigen den Wahrheitsgehalt einer deutenden Dichtung in Zweifel ziehen, die, eindringlicher als aktenmäßig notierte Daten es vermögen, eine geistige Wirklichkeit bezeugt? Mit bloßen abstrakten Begriffen allein lässt sich die von ihm gestiftete, von Generation zu Generation gelebte franziskanische Spiritualität nicht definieren, denn das hieße, einen in seiner Art einzigartigen Menschen begrenzen.
So spricht die Legende vom exemplarischen Leben des heiligen Franz und von seinem zeichenhaften Tun eine bisweilen überzeugendere, eine tiefere Wesensschichten erschließende Sprache, nämlich die Sprache seiner eigengeprägten christlichen Mystik. Auch sie hebt sich von anderen Gestalten innerer Erfahrung in markanter Weise ab. Das gilt es anhand seiner Biografie zu prüfen. Daher bedurfte es stets auch der behutsam deutenden Schilderung durch bildende Künstler seiner Zeit – unter ihnen etwa Giotto oder Fra Angelico –, die uns des Franziskus Antlitz und Gebärde, seine anrührende Demutsgebärde einzuprägen bemühten. So stehen neben den zeitgenössischen Aufzeichnungen, neben jenen wenigen Zeilen aus seinem Mund, und neben der ersten und zweiten Franziskus-Vita eines Thomas von Celano1 die poetisch verklärenden Fioretti, die Blümlein. Es handelt sich um „jenen Blütenkranz altitalienischer Berichte und Legenden, den man dem geliebten Volksheiligen etwa hundert Jahre nach dem Tode umgewunden hat. Diese Blümlein entwachsen dem historischen Grunde, den sie heiter überkleiden und gewiss auch überwuchern, immer neu wird man sich an ihnen erfreuen.“2 – Es versteht sich, dass die biografische Vergewisserung sich, abgesehen von den Texten des Franziskus, an die relativ nüchtern gehaltenen Aufzeichnungen des Thomas von Celano halten wird, so poetisch ansprechend die späteren Idealisierungen sein mögen.
FRANZISKUS IN SEINER ZEIT
War es der antiken Christenheit im Laufe eines etwa dreihundert Jahre währenden Prozesses3 der Verfolgung und des Ringens um Anerkennung gelungen, im römischen Weltreich religiöse Gleichberechtigung (313) zu erreichen und dann darüber hinaus vor allen anderen Religionen die Privilegien einer Staatskirche in Anspruch zu nehmen, so bedeutete dieser Aufstieg noch keinen Stillstand. Im Gegenteil: Noch ehe das erste nachchristliche Jahrtausend vergangen war, hatte die lateinische Kirche dank kaiserlicher Förderung den Status einer in sich ruhenden, eigenständigen Weltmacht erlangt. Doch ist in diesem „Sieg der Kirche“ etwa ein erstrebenswerter „Erfolg“ zu sehen? Kaiserreich und Kirche, Imperium und Sacerdotium, zwei letztlich nicht miteinander zu vergleichende Streithähne auf der weltpolitischen Bühne, kämpften Jahrhunderte lang...