Göttliche Komödie
Urreliquie der Christenheit: Der österliche Blick
Ein Regenbogen wölbte sich über die Berge. Daneben wand sich die Autobahn Rom – Pescara im Dezemberlicht auf den großen Tunnel zu, der uns eine Viertelstunde später auf der östlichen Flanke des Apennin wieder freigeben würde. Doch der Regenbogen wollte auch jenseits des Tunnels nicht weichen. Manchmal verdoppelte er sich im Spiel mit den Wolken. Eine halbe Stunde später blieb er links unter uns stehen: gerade über dem Heiligtum des Göttlichen Gesichts, das ich diesmal rechts hatte liegen lassen für eine letzte Schleife in die Berge hoch.
Denn zuerst wollte ich Wolfgang das Meer von hier oben zeigen, bevor wir da unten die kleine Kirche betreten würden. »Siehst du es?«, sagte ich meinem Freund und zeigte nach Osten zum Spiegelblau der See hinüber. Es war ein klarer Wintermorgen geworden, und die Fahrt vom Tyrrhenischen bis zum Adriatischen Meer hatte vielleicht zwei Stunden gedauert, ein Wimpernschlag für Wolfgang Büscher. Vier Jahre zuvor war er von Berlin nach Moskau gewandert. Ein Jahr zuvor hatte er Deutschland zu Fuß, mit der Bahn, mit Bussen und Taxis umrundet. In den Jahren, die ich ihn kenne, ist er zu einem Dichter unter den Journalisten geworden, doch für mich war er vor allem ein Freund geblieben: ein moderner Homo Viator, der Schätze, Geheimnisse, Gott und sich selbst gesucht hatte und besser als Bruce Chatwin von seinen Entdeckungen zu erzählen wusste – bevor er jetzt zu meinem Wegbegleiter geworden war. Vor Jahren hatten wir noch für die gleiche Zeitung gearbeitet, er in Berlin, ich in Jerusalem und Rom. Hier wie da wollte er mich schon besuchen, es hatte nur nie geklappt. Doch jetzt war er im Auftrag seines neuen Chefs gekommen, und was er gleich sehen sollte, war ihm bisher weder in Kiew noch in Moskau noch im Himalaya unter die Augen gekommen. Ich würde ihm die Urikone Christi zeigen. Das Abbild des Messias ruhte auf hauchdünner Muschelseide, die leuchten konnte wie Spinngewebe des Paradieses. Zwei Jahre zuvor hatte ich ihm erstmals davon erzählt.
»Hör mal, Wolfgang«, hatte ich ihm damals am Telefon gesagt, »ich habe hier eine Riesengeschichte für uns entdeckt. Vielleicht können wir sie zu Ostern ins Blatt nehmen. Pass auf, sie geht kurz so. Erstens: Es gibt ein authentisches Bild Gottes. Zweitens: Der Vatikan hat es lange gehabt. Drittens: Dort wurde es geklaut, vor rund 400 Jahren. Und jetzt halt dich fest. Denn viertens hab ich es wiedergefunden. Das Bild ist nicht verschwunden. Es gibt dieses Bild – und ich habe auch ein paar Fotos davon gemacht. Bist du noch da?«
Er schwieg. »Paul«, sagte er dann, »warte, ich mach kurz die Tür zu.« Ich hörte ein paar Schritte, das Zuschlagen einer Tür, dann war er wieder in der Leitung. »Paul«, sagte er nun, »weißt du was: Jetzt muss ich dich vor dir selber schützen.« Ich konnte ihn verstehen; diese Geschichte wollte er am nächsten Morgen in der Redaktionskonferenz der WELT nicht vorschlagen müssen – doch aufgeben konnte ich natürlich auch nicht. Denn hier war der Schlüssel, warum nur Christen Gott abbilden dürfen – Juden oder Muslime aber nicht. Nur die Christen haben ein Bild Gottes. Nur für sie ist das »Wort Fleisch geworden«. Äthiopiens Christenheit konnte sich bis ins 9. Jahrhundert darum nur von Ikonen und Bildern entwickeln, ohne Schrift! Ohne Bibel! Meine Stunde würde noch kommen, das wusste ich genau.
Es ging um Folgendes: Tief in den Abruzzen wurde von Kapuzinern auf einem Hügel hinter dem Städtchen Manoppello seit mindestens 400 Jahren ein rätselhaftes Tüchlein verwahrt. Es hat feinere Qualitäten als feinstes Nylon und kann weder Seide noch Leinen sein. Es war aber nicht nur extrem feines Gewebe, das dort zu bestaunen war. Auf dem Stoff ruht ein Christusbild, dem kein zweites gleicht, oder besser: dem fast jedes Christusbild der Erde gleicht wie ein Sohn seiner Mutter, doch nie in dieser Vollkommenheit. Es hat unvergessliche Augen, eine schlanke Nase, einen halb offenen Mund. Die Schattierungen sind delikater, als Leonardo da Vinci sie mit seiner sfumatura zu zaubern verstand. In manchem erinnert das Bild an eine Fotografie, doch in der Iris ist die rechte Pupille aus dem Zentrum leicht nach oben verschoben, wie es in keinem Foto möglich ist. Genauso wenig kann das Bild eine Holografie sein, der es trotzdem gleicht, wenn leichtes Licht von hinten den Schleier bescheint. Doch eine 400 Jahre alte Holografie in den Abruzzen? Der Gedanke ist noch absurder als Nylon.
Vier deutliche Falten durchziehen das Tüchlein, als wäre es lange Zeit einmal längs und zweimal waagerecht gefaltet gewesen. Das Porträt schillert nicht wie ein Regenbogen; die Farben des Volto Santo, des »Heiligen Gesichts«, leuchten zwischen Braun- und Rot- und Rosa-Tönen, zwischen Umbra, Siena, Silber, Schiefer, Kupfer, Bronze, Gold. Es scheint mit Licht (griechisch: photos) gemalt, denn unter dem Mikroskop wurden überhaupt keine Farbspuren in dem Gewebe entdeckt. Im Gegenlicht aber wird es durchsichtig wie klares Glas, dann verschwinden auch die Falten vollkommen.
Es sind Phänomene, die sich nur bei Muschelseide beobachten lassen: dem kostbarsten Gewebe der Antike. Auch das ist eine Sensation. Denn die ältesten, sicher identifizierten Fragmente aus diesem höchst seltenen Stoff sollen aus dem 4. Jahrhundert stammen. Sie sind allerdings viel kleiner und längst nicht so gut erhalten. Und ein Tuch aus Muschelseide mit einem Bild oder einer Zeichnung gibt es überhaupt nirgendwo. Muschelseide lässt sich nicht bemalen. Das ist technisch unmöglich. Den einleuchtendsten Unterschied zu gewöhnlicher Seide kann hier in Manoppello aber auch jeder Laie mit bloßem Auge erkennen. Denn links und rechts oben fehlen dem Bild zwei Ecken, die irgendwann einmal durch Flicken aus feinster Seide ersetzt worden sind. Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Gegen Licht wirken diese Flicken grau, der ganze Schleier hingegen ist so durchsichtig, wie nur Muschelseide durchsichtig sein kann.
Das Bild vereint in sich also Qualitäten von Fotos, Holografien, Gemälden, Zeichnungen, zusammen mit rätselhaften Unmöglichkeiten und Ungenauigkeiten. Es ist völlig schleierhaft, was die wahre Natur dieses göttlichen Gesichts eigentlich ist und wie man es treffend benennen kann. Klar ist nur, dass es seit Jahrhunderten hoch verehrt wird und dass es mit all seinen Eigenschaften nur einem einzigen Objekt im großen Bildersaal des letzten Jahrtausends gleicht. Das ist das »Schweißtuch der Veronika«, das bis zum Beginn der Neuzeit von zahllosen Malern festgehalten worden ist.
Das Volto Santo von Manoppello muss dieser Schleier der Veronika sein. Zu überwältigend sind die vielen Merkmale, mit denen es einer ganzen Galerie von Bilddokumenten entspricht, in denen Künstler des Mittelalters den Schleier dargestellt haben. In Rom finden sich in den Grotten unter dem Petersdom fünf Fresken in zwei kleinen alten Kapellen, die sehr deutlich jenes alte »Ziborium« festhalten, das Papst Johannes VII. im Jahr 705 für dieses »allerheiligste Schweißtuch« errichten ließ. Der säulenverzierte Altar, der es damals barg, war der wichtigste Reliquienschrein der alten Petersbasilika Kaiser Konstantins aus dem 4. Jahrhundert. Erst im Jahr 1506 wurde dann mit dem Neubau des heutigen Petersdoms begonnen – und zwar sogleich mit einer neuen Schatzkammer für die Kronreliquie. Gleich der erste jener vier hochhaushohen Pfeiler, auf denen die Peterskuppel ruht, wurde als Hochsicherheitstresor für den zarten Schleier mit dem Christusbild ausgebaut. Hier sollte er hinein, als der alte Schrein im Jahr 1608 abgerissen wurde. Und hier verschwand er im 17. Jahrhundert. Das »Schweißtuch« ist in vielen Abbildungen noch immer allgegenwärtig in Rom, von einem Gemälde in der Sakristei des Pantheons bis zu drei Fresken in der San- Silvestro-Basilika. Nur das Urbild ist in Rom nicht mehr zu sehen. Das hat die Suche nach dem wahren Bild Christi in den letzten Jahrhunderten so sehr erschwert, dass sie schließlich kaum noch unternommen wurde.
Sehr viel einfacher war es in diesem Zeitraum, in Büchern und alten Texten danach zu forschen, wo das Bildnis vor seiner Ankunft in Rom wohl gewesen sein mochte. Da mussten Forscher nicht lange suchen, wenn auch mit oft verwirrenden Ergebnissen. Ein uraltes mysteriöses Christusporträt wird in Edessa erwähnt. Da soll es eingemauert in einem der Stadttore eine große Zeit lang alle Stürme überstanden haben. Später muss das Urbild in Konstantinopel gewesen sein. Das Christusmosaik in der Kuppel der Hagia Sophia gleicht noch heute dem göttlichen Gesicht von Manoppello ganz außerordentlich. Im frühen 6. Jahrhundert wird im Orient mehrfach von einem allerfeinsten Jesusbild »mit vier Falten« berichtet, das da allerdings »Abgar-Bild« oder »Mandylion« heißt. Es hatte noch einige Namen mehr. Wie Schalen einer Zwiebel haben sich verschiedene Namen im Lauf der Geschichte um dieses eine Bild gelegt und mit immer neuen Legenden überlagert. Wer sie Haut für Haut wieder voneinander löst, stößt im Innern dieser Begriffe unweigerlich auf das griechische Wort acheiropoietos. Das ist der wohl älteste Name des Urbilds von Manoppello – der zugleich eine erhellende kleine Geschichte erzählt.
Denn auch die Menschen vor 1700 Jahren müssen ja so verständnislos vor demselben Bild gestanden haben wie wir heute. Wenn es uns fremd ist, muss es ihnen noch viel fremder gewesen sein. »Was ist es?«, müssen auch sie sich also gefragt haben. Offensichtlich haben sie diese Frage aber schließlich beiseitegeschoben und durch die klassische Krimi-Frage von Scotland Yard...