HERAUSFORDERUNGEN AM OBEREN ENDE DER WELT
Undurchstiegene Wände gibt es noch genug. Nicht nur an den Achttausendern – K 2-Westwand, Kangchendzönga-Mittelgipfel-Ostwand, mehrere Routen in der Lhotse-Südwand, Makalu-Westwand, Dhaulagiri-Südwand, Manaslu-Westwand –, es gibt sie vor allem an Sechs- und Siebentausendern. Es kommt auf den Stil an, in dem diese »Probleme« gelöst werden. Die Art und Weise, wie V. Kurtyka und R. Schauer die Westwand des Gasherbrum IV durchstiegen haben, könnte Vorbild sein für all jene, die sich dem Große-Wände-Abenteuer verschrieben haben.
Ob ich nicht auch selbst daran schuld bin, daß sich heute 1000 und mehr Expeditionen im Jahr am Fuße der Achttausender treffen? Sicher, der Boom im Höhenbergsteigen ist auch eine Folge meiner Aktivität. Es ist aber nicht meine Schuld, wenn die Regierungen in Pakistan und Nepal so viele Expeditionsgenehmigungen vergeben, daß es schwierig geworden ist, Erstbegehungen selbständig zu beginnen und zu Ende zu führen, oder wenn Bergsteiger meinen Verzichtsalpinismus nicht verstehen wollen. Es liegt an uns, neue Problemstellungen zu erfinden. Innovativ ist nur, wer Phantasie hat und dorthin geht, wo die vielen anderen nicht sind.
Wir – meine Bergsteigergeneration – sind im Alpenstil und ohne Maske, ohne Lagerkette und ohne Fremdhilfe bis ans obere Ende der Welt geklettert, allein bis zum Gipfel des Mount Everest. Wir haben die höchsten Berge der Welt über neue Routen bestiegen, über steile Wände, über die längsten Grate. Wir haben die Achttausender überschritten, wir haben sie zu allen Jahreszeiten erklettert. Wir haben zwei davon hintereinander, im Paar, überschritten, ohne zwischendurch ins Basislager abzusteigen, nachdem der »Hattrick« – drei Achttausender in einer Saison – wiederholbar geworden war. Alles, was einmal durchgestanden ist, kann wiederholt werden. Wiederholen ist leichter als vormachen. In jeder Sparte des Lebens.
Nachdem sich der Alpinismus generell in drei Spielarten aufgesplittert hat – Sportklettern, klassisches Bergsteigen, Expeditions- bzw. Höhenalpinismus –, zerfällt nun auch das Höhenbergsteigen eindeutig in zwei verschiedene Disziplinen: in Commercial- und Pionierreisen.
Warum nicht? Das Höhenbergsteigen wird nun mehr und mehr als Reisemöglichkeit verstanden und nicht mehr als Spiel an der Grenze der Möglichkeiten. Organisiert vom Reiseunternehmer, geführt vom Tourenleiter, unterstützt von einheimischen Hochträgern läßt man sich zum Gipfel führen. Man bucht den Mount Everest, wie man eine Reise nach Mallorca bucht: Vollpension. Führung und Versicherung inbegriffen.
Nein, ich will den organisierten Achttausender-Tourismus nicht abwerten, ich will ihn nur relativieren. Es ist auch mit Führer und Spur anstrengend, den Shisha Pangma zu besteigen. Nur das Abenteuer bleibt dabei auf der Strecke. Das »organisierte Abenteuer« ist zwar ein Widerspruch in sich, aber eine Möglichkeit. In jeder Hinsicht. Es ist vorerst ebensogut vermarktbar, wie es früher die Pioniertaten waren. Und es verspricht Erfolg. Sicheren Erfolg. Vielleicht 80 Prozent der Achttausender-Besteiger der letzten Jahre haben ihren Erfolg im Rahmen einer Commercial-Expedition erreicht. Das spricht mehr für die Veranstalter als für die ehrgeizigen Akteure. Auch für den Zeitgeist.
Der konditionsstarke Höhenbergsteiger Marcel Ruedi aus Winterthur hat zehn Achttausender in dieser Art bestiegen. Er selbst wäre gar nicht auf die Idee gekommen, seine »Abenteuer« zu vermarkten, wie er auch nicht auf die Idee kam, neue Wege zu gehen. Die Industrie hat ihm Verträge angeboten. Angeregt durch die lokale Presse, ließ er sich in jenen »Wettlauf« hineintreiben, den er trotz Nachsteigerei nicht hätte gewinnen können und der ihn am 24. September 1986 am Makalu das Leben kosten sollte. Offensichtlich hat er dem Druck der Öffentlichkeit nicht standgehalten. Ich beklage ihn als Opfer, nicht als Versager. Das wahre Abenteuer schließt das Scheitern mit ein, die Commercial-Expedition soll es ausschließen. Warum kaufen sich Berufsabenteurer in eine Eiselin-Expedition zum Mount Everest ein? Weil das der sicherste Weg zum Gipfel ist und bleibt. Auch weil Geldgeber und Publikum daheim noch nicht unterscheiden können zwischen Abenteuer und Gruppenreise. Ein abenteuerlüsternes Fernsehpublikum nimmt seinem abenteuerlustigen Stellvertreter alles ab. Auch wenn dieser nur ausgezogen ist, eine Marktlücke zu füllen.
Grundsätzlich habe ich nichts gegen die vielen Gipfelerfolge. Mich stört dabei nur die ungenaue Berichterstattung. Wer in der Tat glaubt, einen der Gasherbrums im »Alpenstil« bestiegen zu haben, wenn gleichzeitig an Ort und Stelle ein Dutzend weiterer Gruppen operiert, belügt sich nur selbst. Wer aber weiß, wie gespielt wird, und im gegebenen Fall trotzdem vom »Alpenstil« faselt, belügt auch andere. Wer ein »Grenzabenteuer« am Berg live ins TV-Programm bringt, mag ein guter Schauspieler sein, ein Abenteuerdarsteller, nicht aber ein Vorläufer in der Auseinandersetzung Mensch und Wildnis. Das wahre Abenteuer ist nicht inszenierbar, vielleicht läßt es sich mit ein paar Bildern dokumentieren, das andere ist mehr oder weniger Show.
Wer will nun als Schiedsrichter die Show vom großen Alpinismus trennen? Es gibt kein allgemeingültiges Reglement beim Höhenbergsteigen. Es gibt nur Beschränkungen, die sich der eine oder andere auferlegt. Und eine gemeinsame Sprache. Im Alpenstil heißt, ein Aufstieg ohne Vorgaben, ohne fremde Helfer, ohne Vorarbeit. Ein Alleingang beginnt am Fuße des Berges, dort, wo die Talträger nicht weitergehen können oder nach den lokalen Bestimmungen nicht dürfen. Ohne Maske steigt nur, wer auf den Flaschensauerstoff verzichtet, allerorts, auch beim Rasten und Schlafen.
Wer das alles kontrolliert? Niemand. Und das ist es ja, was exakte Angaben so wichtig macht. Um die Achttausender-Chronik der letzten fünf Jahre schreiben zu können, habe ich hundert und mehr Berichte gelesen. Wenn ich dabei herausfinde, daß einer ausgerechnet am selben Tag wie Franzosen und Spanier »im Alpenstil« auf dem Gasherbrum II war, korrigiere ich diese Notiz für meine Historie. Wenn einer verkündet, den Nanga Parbat im »Superalpinstil« bestiegen zu haben, nachdem er die Lager- und Seilkette an der Diamir-Flanke anderen Bergsteigern abgekauft hat, nenne ich seinen Stil »superparasitär«. Mit diesen Feststellungen will ich niemanden diskreditieren, nur darauf hinweisen, daß Begriffe dehnbar sind und auch vorsätzlich falsch benutzt werden können.
1975 stiegen Peter Habeler und ich über die Nordwestflanke auf den Gasherbrum I: eine neue Route, keine Vorarbeit, keine Vorgaben, Aus dem Gasherbrum-Tal bis zum Gipfel und zurück. Völlig auf uns selbst gestellt. Bis dahin waren alle Achttausender nach dem Aufbau mehrerer Hochlager bestiegen worden. Die Lagerkette und die Fixseile machen den Expeditionsstil aus, weniger die Hochträger und die schweren Sauerstoffgeräte. Letztere machten den Expeditionsstil notwendig.
Mein erster Schritt hin zum Alleingang auf den höchsten Berg der Welt war der Alpenstil. Der zweite Schritt war der Everest-Aufstieg ohne Maske. Die dritte Stufe war ein kleiner Achttausender im Alleingang. »Der letzte Schritt« war nur nach diesen dreien denkbar.
Es war eine logische Zielsetzung, allein bis ans Ende der Welt zu gehen. Vor allem, weil diese runde Welt nur ein sichtbares Ende hat: ein Ende nach oben.
Mein Everest-Alleingang markiert viel mehr als das »14 mal 8000 Meter« eine Wende im Höhenbergsteigen.
Haben wir uns noch relativ leichte Wege gesucht, um allein und damit notgedrungen mit wenigen Hilfsmitteln ans Ende der Welt zu stoßen, gilt es jetzt, über die schwierigsten Wege dorthin zu kommen. Es sind nach der Südwestwand am Mount Everest auch so abwegige Umwege denkbar wie der Aufstieg über den Lhotse Shar zum Lhotse-Hauptgipfel mit dem anschließenden Abstieg zum Südsattel und dann erst weiter zum Gipfel. Oder der spiralenförmige Aufstieg über den Westsattel (6000 m), Nordsattel (7000 m), Südsattel (8000 m) zum Gipfel.
Unser Bergsteigen war kein Eroberungsbergsteigen wie das von Hillary, Buhl und Bonatti. Es war die Suche nach neuen Grenzwerten. Auf den ersten Blick unlogisch, aber voller Ungewißheit, wie das Bergsteigen der Pioniere. Das große Bergsteigen von morgen wird noch verrückter, weil widersinniger sein.
Wer aber mit dieser Art des Bergsteigens Wissenschaft betreiben und damit mehr verbinden will als die »Eroberung des Nutzlosen«, soll in die Unterdruckkammer gehen oder im Satelliten um die Erde kreisen. Wem es nicht genug »Glück« bringt, als eine Art Sisyphos immer und immer wieder von ganz unten anzufangen, soll mir nicht von der »Bergleidenschaft« faseln. Und wer nicht zu unterscheiden gelernt hat zwischen Abenteuer und Show, kann auch ins Kino gehen statt auf den Mount Everest.
Eine Faustregel bleibt: Je schwieriger es wird, ein Abenteuer zu dokumentieren, um so mehr ist es wert. Solange man inszenieren, filmen, spielen kann, ist die Ungewißheit gering. Ein Grenzabenteuer beginnt dort, wo die Show aufhört. Großen Dokumentationen, großen Shows gegenüber war ich immer schon skeptisch. Auch den meinen. Wenn es ums Überleben geht, vergessen wir den Fotoapparat und alles, was nachher kommt. Das Jetzt entscheidet nicht mehr über Erfolg und Mißerfolg, es entscheidet über Leben und Tod.
Nur auf immer größeren Umwegen sind diese zeitbedingten Grenzwerte zu finden, die der allgemeine Erfahrungsschatz und das bisher Erreichte diktieren. Die Jugend will machen, was denkbar ist – und in sportlicher Hinsicht habe ich...