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DIE LEKTIONEN AUF DEM SCHLACHTFELD
Der Vertrag von Karlowitz hat in der Geschichte des Osmanischen Reiches und in einem weiteren Sinne sogar in der Geschichte der islamischen Welt eine besondere Bedeutung, denn er war der erste Friedensvertrag, den das besiegte Osmanische Reich mit siegreichen christlichen Gegnern schließen musste.
In globaler Hinsicht war das nichts völlig Neues. Der Verlust Spaniens und Portugals, der Aufstieg Russlands und die zunehmende Präsenz der Europäer in Süd- und Südostasien, all das waren Rückschläge, die der Islam durch die Christenheit erlitten hatte. Aber damals war kaum ein Beobachter, ob Muslim oder Christ, in der Lage, das Geschehen aus einer globalen Perspektive heraus zu betrachten. Für die Muslime im Kernland des Nahen Ostens hatten diese Ereignisse nur eine periphere Bedeutung, schienen sie doch kaum geeignet, das Gleichgewicht der Kräfte zwischen der islamischen und der christlichen Welt entscheidend zu verändern, das sich in dem langen Kampf seit dem Entstehen des Islam im 7. Jahrhundert und dem Überfall der muslimischen Armeen auf die damals noch christlichen Länder Syrien, Palästina, Ägypten, auf Nordafrika und zeitweise auch Südeuropa herausgebildet hatte. Die Kreuzritter hatten den triumphalen Vormarsch des Islam nur vorübergehend aufhalten können, waren dann aber gestoppt, besiegt und vertrieben worden. Die Muslime waren weiter vorgerückt, hatten Byzanz ausgelöscht und damit den Weg nach Europa frei gemacht. Das Reich von Konstantinopel war bereits gefallen, und das Heilige Römische Reich war als Nächstes an der Reihe. Das Bewusstsein, das die Osmanen und allgemein die Muslime von der Welt hatten, in der sie lebten, spiegelt sich wider in der reichlich vorhandenen historischen Literatur jener Zeit und, noch detaillierter, in den Millionen von Dokumenten, die in den osmanischen Archiven erhalten sind. Sie illustrieren die Funktionsweisen des osmanischen Staates mit all seinen vielfältigen Aktivitäten Jahr für Jahr, ja beinahe Tag für Tag. Hin und wieder findet man Hinweise auf den Verlust Spaniens, aber das erscheint als relativ kleines Problem – weit weg, also nicht bedrohlich. Es gibt ein paar Bemerkungen über die Ankunft muslimischer und jüdischer Flüchtlinge, die aus Spanien in osmanische Länder geflohen waren, aber das war auch schon alles.
Der Friedensvertrag von Karlowitz erteilte den Muslimen zwei wichtige Lektionen. Die erste war militärischer Art, die Niederlage durch eine überlegene Streitmacht. Die zweite war komplexer und betraf die Kunst der Diplomatie, die man im Laufe der Verhandlungen erst noch erlernen musste. In den ersten Jahrhunderten seit der Entstehung des Osmanischen Reichs war ein Vertrag eine einfache Angelegenheit gewesen. Die osmanische Regierung diktierte die Bedingungen, und der besiegte Feind akzeptierte sie. Nach der ersten Belagerung von Wien gab es eine Zeit lang so etwas wie Verhandlungen und als erstaunliche Neuheit sogar Zugeständnisse an den Kaiser, dem man den gleichen Status wie dem Sultan zuerkannt hatte. Letzten Endes verliefen diese Verhandlungen jedoch ergebnislos. Beim Abschluss des Friedensvertrags von Karlowitz sahen sich die Osmanen zum ersten Mal gezwungen, auf jene seltsame Kunst zurückzugreifen, die wir Diplomatie nennen. Sie versuchten, das Ergebnis ihrer militärischen Niederlage mit politischen Mitteln zu modifizieren oder sogar zu mildern. Für die Vertreter des Osmanischen Reichs war das eine völlig neue Aufgabe. Keiner von ihnen wusste, wie man nach einer Niederlage möglichst gute Bedingungen aushandelt.
Zwei in Istanbul residierende Gesandtschaften konnten ihnen dabei ein wenig helfen: die der Briten und der Niederländer. Zuerst waren die Osmanen nicht bereit, diese Hilfe anzunehmen, weil sie das als eine christliche Einmischung betrachteten. Sie lernten jedoch sehr schnell, ein solches Angebot anzuerkennen und davon Gebrauch zu machen. Die westlichen See- und Handelsmächte hatten kein Interesse an einer Konsolidierung und Ausweitung der Macht Österreichs und seines Einflusses in Mittel- und Osteuropa. Ihnen war es im Gegenteil bedeutend lieber, ein zwar geschwächtes, aber zumindest noch existierendes Osmanisches Reich aufrechtzuerhalten, in dem die Geschäftsleute ungehindert ein- und ausgehen konnten. Es gelang den britischen und niederländischen Gesandten, den Osmanen auf diskrete Weise zu helfen und sie zu beraten. So konnten sie sogar an den eigentlichen Friedensverhandlungen teilnehmen.
Aber die westliche Hilfe beschränkte sich nicht nur auf die Diplomatie. Militärische Unterstützung – Waffenlieferungen, ja sogar Kredite für deren Kauf – waren nichts Ungewöhnliches und hatten eine alte Tradition, die sich bis zu den Anfängen des Osmanischen Reichs zu Beginn der Kreuzzüge zurückverfolgen lässt. Neu war, dass die Osmanen jetzt auch europäische Hilfe bei der Ausbildung und Ausrüstung ihrer Streitkräfte in Anspruch nahmen und dass sie Bündnisse mit europäischen Mächten gegen andere europäische Mächte schlossen.
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Situation unentschieden, und die Osmanen konnten sogar einige Siege erringen. So besiegten sie in den Jahren 1710 und 1711 die Russen, die nach dem Friedensvertrag am Pruth (1711) die Halbinsel Asow zurückgeben mussten. Ein weiterer Krieg gegen Venedig und anschließend gegen Österreich endete jedoch mit einer Niederlage und zusätzlichen Gebietsverlusten, die im Abkommen von Passarowitz festgelegt wurden.
Aus dieser Zeit besitzen wir ein osmanisches Dokument, das ein Gespräch wiedergibt – oder, genauer gesagt, wiederzugeben behauptet –, das zwischen zwei Offizieren, der eine ein Christ (nicht näher beschrieben), der andere ein osmanischer Muslim, stattgefunden haben soll.15 Dieses Protokoll diente offensichtlich der Propaganda. Es ist meines Wissens nach das erste islamische Dokument, in dem muslimische und christliche Methoden der Kriegsführung miteinander verglichen werden, wobei die Letzteren besser abschneiden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es niemand für möglich gehalten, dass jemand den Vorschlag machen könnte, wahre Gläubige sollten sich an den Ungläubigen im Hinblick auf militärische Organisation und Kriegsführung ein Beispiel nehmen. Das Dokument legt besonderes Gewicht auf die Verwendung von Feuerwaffen, also Kanonen und Musketen, und auf die Ausbildung und Umorganisation der Streitkräfte, um die Effizienz auf beiden Gebieten zu verbessern. »Die Überlegenheit der Österreicher ist vor allem auf die Verwendung von Musketen zurückzuführen. Mit dem Schwert können wir dagegen nichts ausrichten.«16 Das Hauptgewicht dieser Argumentation lag auf der Tatsache, dass es nicht mehr genügte, wie in der Vergangenheit westliche Waffen zu benutzen. Um sie effektiv einsetzen zu können, war es vor allem wichtig, westliche Ausbildungsmethoden, militärische Strukturen und Strategien zu übernehmen.
Das war schon schlimm genug; noch schlimmer war es jedoch, dass die Osmanen – und später die Perser und andere muslimische Armeen – trotz der Übernahme dieser westlichen Methoden nicht die gewünschten Ergebnisse erzielten. Die militärische Konfrontation förderte auf dramatische Weise die Ursachen dieses neuen Ungleichgewichts zu Tage. Das Problem bestand nicht, wie früher behauptet wurde, darin, dass die osmanischen Streitkräfte schlechter geworden wären. Ihre Effektivität war die gleiche geblieben. Es waren vielmehr der Erfindergeist und die Experimentierfreudigkeit der Europäer, die hier, wie auf vielen anderen Gebieten, zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den beiden Seiten geführt hatten.
Der Prozess der Modernisierung selbst in diesem eingeschränkten Sinn ging keinesfalls leicht vonstatten. Er musste sich gegen große Widerstände durchsetzen. Und als dann einer der vielen Kriege zwischen der Türkei und dem Iran 1730 mit einem Sieg der noch weniger modernisierten Perser endete, wurde den Modernisierern in der Türkei nicht gerade der Rücken gestärkt.
Eine Zeit lang lief in Europa alles besser für die Osmanen. Die wachsende Rivalität zwischen ihren beiden Erzfeinden im Norden, also zwischen Österreich und Russland, half ihnen, wieder ein wenig an Boden zurückzugewinnen. Aber dann kam es zu einer neuen Katastrophe. Zwischen 1768 und 1774 fügten ihnen die Russen eine Reihe von Niederlagen zu. Das Ergebnis ist im Abkommen von Küçük Kaynarca17 aus dem Jahre 1774 festgehalten, das den Russen Seerechte und indirekt ein Interventionsrecht im Osmanischen Reich zubilligte. Wichtiger war allerdings eine Klausel, die sich auf die Krim bezog, die ursprünglich eine osmanische Kolonie gewesen war und von Türkisch sprechenden Muslimen bewohnt wurde. Der Sultan wurde gezwungen, die »Unabhängigkeit« der Khans auf der Krim anzuerkennen. Es wurde bald klar, dass es sich dabei um die Vorbereitung der Annexion der Krim durch Russland handelte, die schließlich 1783 vollzogen wurde.
Das war ein schwerer Schlag. Der Verlust osmanischer Gebiete in Europa hatte sie zwar hart getroffen, war aber zu verschmerzen gewesen. Diese Länder waren erst vor relativ kurzer Zeit erobert worden und vorwiegend von Christen bevölkert gewesen, die von einer Minderheit von osmanischen Soldaten und Verwaltungsbeamten regiert worden waren. Die Krim aber war eine völlig andere Sache. Seit dem Mittelalter war sie ein altes türkisch-islamisches Gebiet gewesen, und mit ihr verlor man einen Teil des Heimatlandes. Das war das erste, aber keinesfalls das letzte Mal, dass man Gebiete und Teile der Bevölkerung an die Christen abtreten musste. Und Russland etablierte sich damit als wichtige Macht am Schwarzen Meer. Dies stellte für die Osmanen und...