Ökumene kann nicht heißen, alles um des lieben Friedens willen zu relativieren. Schließlich braucht, wer den Dialog führen will, einen Standpunkt – oder ein Profil, wie es bei uns Protestanten in jüngster Zeit heißt. Warum also die eigene konfessionelle Heimat verleugnen? Und so scheue ich mich als leidenschaftlicher Protestant nicht, von den Vorzügen meiner eigenen Konfession zu schwärmen.
Glaube pur
Wir leben in einer »Second-Hand-Gesellschaft«. Soziologen behaupten, das gelte für mehrere Lebensbereiche, unter anderem Bildung, Kultur und Religion. Sie verweisen darauf, dass das Konsumieren vorgefertigter Dinge immer beliebter wird. Sich aufgrund selbstgemachter Erfahrungen und an den Originalquellen angeeigneten Wissens eine Meinung zu bilden, geschieht selten und wird eher als Mühe denn als Bereicherung empfunden. Lieber greift man auf vorsortiertes Wissen oder auf Erfahrungsberichte anderer Menschen zurück.
Auch auf dem Gebiet des Glaubens ist dieser Trend zu beobachten. Die wenigsten Menschen setzen sich eigenen Glaubenserfahrungen aus, sogar in den Bücherregalen christlicher Haushalte fristet die Bibel meist ein tristes Dasein. Leider unterstützt die katholische Kirche diesen Trend: Sie kaut den Glauben vor, legt ihn aus und drängt die Menschen dazu, an eine Auslegung zu glauben. Bestes Beispiel: Die Jesus-Bücher Papst Benedikts XVI. Was da als vermeintliche Wahrheit über Jesus angepriesen wird, ist eine durch und durch theologisch gefärbte katholische Auslegung des Lebens Jesu. Offenbar traut sich die katholische Kirche noch immer nicht, den Glauben freizugeben und dem Gläubigen die Bibel selbst in die Hand zu geben. Religiöse Selbstbestimmung scheint ihr unheimlich zu sein. Es könnte ja sein, dass Katholiken mit der Bibel in der Hand nachfragen nach der einen oder anderen unbiblischen Praktik. Ein Protestant reibt sich irritiert die Augen: Wozu in die katholischen »Tradition« sehen – sieh, das Gute und Unverfälschte liegt so nah! Evangelische Christen dürfen selber glauben und ermutigen ihre katholischen Geschwister, es ebenso zu tun: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Habe Mut, auch in religiösen Angelegenheiten deiner eigenen Urteilskraft zu vertrauen! Habe Mut, dir selbst die Bibel zu erschließen! Habe Mut, die Welt und die Kirchen mit dem zu konfrontieren, was du in der Bibel liest! Goethes ökumenische Hoffnung bleibt bestehen, dass die Katholiken sich von der Wahrheit dieses selbstbestimmten Glaubens mitreißen lassen:
Je tüchtiger wir Protestanten in edler Entwicklung voranschreiten, desto schneller werden die Katholiken folgen. Sobald sie sich von der immer weiter um sich greifenden großen Aufklärung der Zeit ergriffen fühlen, müssen sie nach, sie mögen sich stellen, wie sie wollen, und es wird dahin kommen, dass endlich alles nur eins ist.
Wir Evangelische sorgen dafür, dass die Menschen auf ihrer Suche nach originärem Christentum nicht ausgebremst werden. Wir geben ihnen keine neue Lehre, pfropfen keine Sonderoffenbarungen auf die biblischen Wahrheiten. Wir stellen Wegweiser auf, die das Verständnis der nicht in allen Passagen leicht zu verstehenden Bibel fördern. Diese Wegweiser führen nicht gen Rom, sondern gen Himmel. Der Glaube, den wir Evangelische verkündigen, weist zurück zu den Anfängen. Was den ersten Christen wichtig war, halten wir wach. Wann immer diese urchristliche Quelle verdunkelt wurde, entzündeten wir die Kerze des Evangeliums neu. Die Maler der beginnenden Neuzeit haben das wunderbar in Bilder gefasst. Da sieht man die demütigen Reformatoren vor einem Tisch sitzen, die Bibel im Blick und das Licht des Evangeliums in Form einer Kerze. Von vorn versuchen ein Kardinal, der Papst, dazu allerlei dämonische Wesen, die Flamme zu löschen. Es gelingt ihnen nicht. Andere Bilder zeigen Protestanten und Katholiken vor einer großen Waage stehen. In der katholischen Waagschale türmen sich allerlei liturgisches Instrument und Reliquien, in der evangelischen nur die Bibel: Sie ist gewichtiger als alle katholischen Accessoires.
Dass die Katholiken das in den kampfdurchtobten Zeiten der Reformation nicht erkennen konnten – sei’s drum. Doch selbst heute erkennen die Katholiken noch nicht, dass allein die Bibel und der Glaube reichen, um ein christliches und gottgewolltes Leben zu führen. Uns Evangelische erfüllt das mit Trauer und weckt in uns die Kraft der Barmherzigkeit. Unsere Kirchen stehen allen Katholiken (wie auch den Gläubigen anderer Religionen sowie Ungläubigen) offen. Denn wir wissen: Der Glaube gehört zu jenen ganz intimen Lebensfeldern, die jeder Mensch für sich ausloten muss. Woraus wir unseren Glauben nähren, ist: Wir lesen in der Bibel. Wir versuchen unseren Glauben so zu leben, dass er dem Vorbild der Bibel gerecht wird. Und wir geben Fragenden Auskunft. Ganz im Sinne des ersten Petrusbriefes, der die Gläubigen auffordert: »Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.« Sollten Katholiken unsere Kirche als Heimat empfinden, dürfen sie natürlich gerne zu uns kommen. Aber darum geht es uns nicht. Wir schielen nicht auf Kirchenmitgliederzahlen oder auf Kirchensteuern. Uns geht es darum, dass Menschen zu Gott finden. Und darum, dass in Kirchen, die sich christlich nennen, in jesuanischem Geist Gemeinschaft gelebt und der Glaube gepflegt wird. Insofern sind wir glücklich über jeden katholischen Mitchristen, der sich in unseren Gottesdiensten Impulse und Anregungen holt, mit denen er in seiner Heimatkirche für den wahren Glauben wirkt. Heiner Geißler, der Ex-Politiker und Katholik, ist ein schönes Beispiel, dass dieses Vorhaben gelingen kann. »Jeder intelligente Katholik ist im Inneren irgendwie auch Protestant«, vertraute er der ZEIT an und fuhr fort: »Die Nachfolgeorganisation der Inquisition, die Glaubenskongregation unter Kardinal Ratzinger, kann ja wohl nicht der Maßstab des Glaubens sein.« Das sind schmerzliche Worte. Aber wenn ein Katholik den eigenen Glaubensgeschwistern die Leviten liest, dann soll es wohl so sein.
Ein evangelischer Schriftsteller, Christian Graf zu Stolberg, hat sich mit seinen poetischen Mitteln dem Konfessionsthema genähert.
Der Katholik.
Auf unsern Bergen wächst der Wein:
Wir müssen Gottes Kinder sein.
Der Lutheraner.
Auch wir. Der Vater liebt uns gleich:
Gab Wahrheit uns, und Reben euch.
Welch eine Sprachkunst! Die vier Zeilen bringen die Tragik katholischer Existenz ebenso wie die Demut evangelischen Glaubens auf den Punkt. Eine Analyse lohnt: Der Katholik beginnt den kurzen Dialog, er prahlt und interpretiert das Wachstum seiner Weinreben als Zeichen göttlicher Bevorzugung. Im Wein liegt nicht unbedingt Wahrheit, Wein ist auch ein Rauschmittel. »Weh denen, die des Morgens früh auf sind, dem Saufen nachzugehen«, mahnt Gott durch den Propheten Jesaja die weinseligen Gläubigen. Das alles übersieht der Katholik. Bescheiden daneben der Lutheraner. Zu erwarten wäre, dass er einen Streit beginnt. Nein, er gibt sich stattdessen großherzig. Mit keinem Wort spricht er dem Katholiken den Glauben ab. Er will sich nur nicht ausreden lassen, dass auch die Evangelischen Gottes Kinder seien. Deeskalierend zeigt er protestantisches Profil: Gott habe den Evangelischen Wahrheit geschenkt, und die sei letztlich wichtiger als Wein. Der Lutheraner widersteht der Versuchung des Richtens, weil er weiß: Das ist Gott vorbehalten, dem Richter, der am Ende aller Zeiten jeden einzelnen Menschen in die Verantwortung nimmt. Respekt dem Dichtergrafen zu Stolberg, der diese konfessionellen Unterschiede mit so wenigen Worten zum Ausdruck gebracht hat!
Die Kraft des Wortes
Der Schriftsteller Georg Herwegh hat schon im 19. Jahrhundert erkannt:
Mit dem ersten Dichter wurde der erste Protestant geboren; schon Homer war ein Protestant. Der Protestantismus war dem Begriffe nach längst in der Poesie vorhanden, ehe die Religion noch den glücklichen, zutreffenden Ausdruck für denselben gefunden hatte.
Da wir Evangelische wieder das wahrhaftige Wort in den Mittelpunkt des Glaubens gestellt haben, zeigen Schriftsteller aller Zeiten eine große Affinität zu uns – und umgekehrt. Ja, Poesie ist die Sprache der Evangelischen. Ach, so viele Beispiele ließen sich zitieren. Nur einige greife ich heraus. Ergreifend dichtete Hermann Hesse:
Immer wieder, auch in diesen Tagen,
ist der Heiland unterwegs, zu segnen,
unsern Ängsten, Tränen, Fragen. Klagen
mit dem stillen Blick zu begegnen.
Grandios zurückgenommen beschreibt Hesse auch den Karfreitag:
Baumknospen stehn von Tränen blind,
Der Himmel hängt so bang und nah,
Und alle Gärten, Hügel sind
Gethsemane und Golgatha.
Der dänische Theologe Sören Kierkegaard wählte Poesie, um seinen evangelischen Glauben auszudrücken:
Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde,
da hatte ich immer weniger und weniger zu sagen.
Zuletzt wurde ich ganz still.
Ich meinte erst, Beten sei Reden.
Ich lernte aber, dass Beten nicht bloß Schweigen ist,
sondern Hören.
Oft wird uns Protestanten nachgesagt, vor allem von katholischer Seite, wir seien zu wortlastig. Ein Klischee und durch nichts zu belegendes Vorurteil. Natürlich steht die Verkündigung des Wortes – ganz und gar biblisch – in protestantischen Gottesdiensten im Mittelpunkt, und ebenso natürlich ziehen wir im Gottesdienst das Wort dem Bild vor – denn das Wort birgt...