Erstbesteigungen – oder auch nicht
»Erstbesteigung«
Alles, was nach Neuland roch, juckte uns. Mit dem Auge des Falken durchstreiften wir jeden Riß, jede Kante, jede Wand nach unbestiegenen Herausforderungen. Schon Wochen waren Hanspeter und ich heiß auf eine Kante am Piz Ciavazes links der Buhl-Verschneidung, unberührt, steil und kühn. Studierten sie, begehrten sie, fürchteten sie – nicht machbar.
Irgendwann versuchten wir es doch. Stiegen ein und querten zum Anbruch der Kante. Alles bestens in der ersten halben Seillänge, relativ griffiger Fels, klettertechnisch keine Probleme. Nach etwa 30 Metern reibe ich mir die Augen – seh ich recht? Ein Haken! Alt, verrostet, primitiv geschmiedet. Vielleicht eine Notabseilsicherung eines überstürzten Rückzugs? Nach der nächsten Seillänge ein gleicher Haken. Und immer wieder einer, es ging so weiter bis zum Ausstieg. Alte, verbogene und verrostete Haken nahm ich mit als Erinnerung, und kam mit mehr Felshaken zurück, als ich beim Einstieg besaß. Wir waren nicht die ersten hier. Jahrzehnte vor uns hat jemand diesen Fels berührt, der Beklemmung und Sehnsucht zugleich hervorruft. Wahrscheinlich Hermann Buhl selbst. Vielleicht gelang ihm damals schon der direkte Durchstieg über die Kante, neben der heute bekannten Buhl-Führe.
Enttäuschung war es nicht, was uns wortlos machte, aber unsagbares Staunen. Und höchster Respekt vor den Kletterpionieren, deren Spuren wir heute mit modernster High-Tech-Ausrüstung betreten.
Mein erster Winterberg
Der Sommer als Lehrbub am Bau war überstanden, eisige Frostnächte kündigten sich schon an, und die Arbeit wurde immer härter. Vor Wintereinbruch mußten wir noch dringend ein Haus fertig bauen und eine Rotte Handwerker lief kreuz und quer wie in einem Ameisenhaufen.
Der Zufall wollte es, daß Hubert, der Hydraulikerlehrbub, neben mir am selben Gerüst werkelte. Voll Begeisterung erzählte er, wie er im Herbst an einem Kletterkurs des Deutschen Alpenvereins teilgenommen hatte und bis zum IV. Schwierigkeitsgrad geklettert war. Endlich hatte ich einen »Leidensgenossen« gefunden, einen unheilbar an Bergfieber Erkrankten.
Das Ziel meiner sehnlichsten Wünsche sah ich vom Schlafzimmerfenster aus, wie eine heimliche Geliebte betete ich die Große Windschar an, und der Nordgrat hatte noch keine Winterbegehung. Die wildesten Gerüchte rankten sich um den Berg. Fragte ich meinen Bruder nach dem Weg im Winter, winkte er nur stumm ab. Die Jäger des Dorfes raunten hinter vorgehaltener Hand, nicht mal Gemsen würden das Gebiet betreten, von Menschen ganz zu schweigen. Von alledem erzählte ich Hubert freilich nichts, als wir eines Sonntags die Winterbegehung versuchten.
Um vier Uhr morgens trafen wir uns am Toblhof, um mit den Motorrädern zum Einstieg zu fahren. Einstieg ist der falsche Ausdruck, ich bildete mir nur eine günstige Stelle als Ausgangspunkt ein, ebenso falsch ist der Ausdruck Motorrad, vorsintflutliche Knatterer waren es, denn was anderes konnten wir uns nicht leisten. Die 20 Zentimeter Schnee, die über Nacht gefallen waren, packten die Maschinen bald nicht mehr und so fing die Tour schon mal gut an, nämlich schiebend.
»Schiebend« ging’s weiter im dichten Wald, denn bis zu den Hüften brachen wir im Neuschnee ein. Wir wühlten uns durch Unmengen von Schnee, immer wieder wechselten wir uns ab im mühseligen Spuren. Wahrscheinlich habe ich mich nicht mal bei meinen Versuchen am K2 so geschunden, aber dank unseres jugendlichen Durchhaltewillens gab es kein Zurück. Hubert war ein harter Bursche und ließ sich nichts von der Strapaze anmerken. Das gefiel mir.
Stundenlang hatten wir uns durch den Schnee gegraben, auch oberhalb der Waldgrenze waren die Verhältnisse nicht besser. Das Etappenziel war der Fußpunkt des Nordgrates, denn am Grat, so hoffte ich, würde der Wind die großen Schneemengen weggeblasen haben, aber wir schafften es an diesem Tag nicht mehr. Zuviel Neuschnee und wir zu langsam, zu müde. Wir kamen nicht einmal zum Beginn des Grates und mußten umdrehen. Aber die Niederlage war schnell verkraftet und ich ermunterte Hubert, den Dreitausender am kommenden Sonntag wieder zu versuchen.
Diesmal starteten wir schon um drei Uhr früh. Die Schneedecke hatte sich im Waldbereich inzwischen gesetzt und wir kamen relativ schnell voran. Oberhalb der Waldgrenze lag zwar wieder etwas Neuschnee, wir hatten uns den Zustieg aber besser eingeteilt. Die Schwierigkeit am Grat hatte ich jedoch erheblich unterschätzt. Ich kannte den Grat ja noch von meiner Erstbesteigung mit Sepp im Sommer, aber daß sich die Verhältnisse so arg ändern würden, hätte ich nie gedacht. Trotzdem gelang uns der Weg, »den keine Gemse, geschweige denn ein Jäger betreten könne«. Die erste Winterbesteigung der Großen Windschar über den Nordgrat war geglückt.
Um schneller wieder im Tal zu sein, beschlossen wir, von der Grubscharte aus die nordseitige Schneerinne auf dem Hosenboden abzurutschen.
Nachts konnte ich vor lauter Glückseligkeit nicht schlafen. Kaum dämmerte der Morgen, holte ich das Fernrohr und sah vom Fenster hinüber zu »meiner« Windschar, vielleicht könnte ich sogar noch unsere Spuren im Schnee erkennen. Eine gewaltige Lawine aber war inzwischen die Schneerinne unterhalb der Grubscharte hinabgedonnert und hatte unsere Abstiegsspur ausgelöscht.
»Hast du gestern am späten Nachmittag auch das Krachen gehört?« fragte mich meine Schwester beim Frühstück, »nur gut, daß sich da drüben nie jemand aufhält. Schön dumm müßte der sein – gewiß würde er erst im Hochsommer ausapern.«
»Ähm nein, ich habe nichts von der Lawine gehört«, ich kaute kleinlaut am Butterbrot, »ich war ... ich war mit Hubert und ein paar Mädels unterwegs.«
»Schön dumm müßte der sein« – wie eine hüpfende Schallplatte klang es noch eine Weile in mir und übertönte mein beflügeltes Herz.
Zahnweh ...
... subjektiv genommen,
ist ohne Zweifel unwillkommen.
W. Busch
Am selben Bau trafen wir Tage später Erich, den Malerlehrbub, und merkten bald, daß auch er das »Fieber« hatte. Wir waren daraufhin den ganzen Winter in den Bergen unterwegs und machten unsere »persönlichen Erstbegehungen«.
Hubert und Erich faszinierte die Hochgall-Nordwand, ständig drängten sie, die Winterbesteigung zu wagen. Viele kalte, schneereiche Wochenenden aber verplemperten wir mit anderen Zielen, und unversehens stand der Frühling vor der Tür. Der 20. März, der letzte Termin, der für eine Winterbegehung noch »gilt«, fiel auf einen Samstag, aber gerade an dem Tag hatte ich eine unaufschiebbare Verpflichtung. So ging sich’s gerade aus, am Abend bis zur Hochgall-Hütte zu gehen, auch wenn wir wußten, daß die Besteigung der Hochgall-Nordwand tags darauf nicht mehr als Wintertour zählen konnte.
Zwei Stunden nach Mitternacht waren vergangen, als ich Erich fluchen hörte und ihn fragte, was los sei.
»Höllische Zahnschmerzen hab ich«, jammerte er.
Nun, auch ich hatte so einen Poltergeist oben rechts, seit Wochen schon meldete er sich in Wellen immer wieder. Auch mein Schmerz konnte nicht schlafen, und ich noch weniger.
Während ich Erich tröstete, kroch Hubert aus dem Bett und grantelte: »Ihr glaubt wohl, mir geht es besser! Aber da wir eh alle wach sind, schlag ich vor, wir brechen auf zur Nordwand.«
Stumm stapften wir durch die Stille, jeder hatte mit Zahnweh und Tiefschnee zu kämpfen, doch keiner traute sich Schwäche zu zeigen.
Als es dämmerte, waren wir beim Einstieg zur Nordwand. Wenigstens sie präsentierte sich in Traumverhältnissen, und bis kurz vor dem Gipfel brauchten wir nicht einmal die Steigeisen anzuschnallen.
Trotzdem: Die Tour, die die Krönung werden sollte, wurde zur schmerzvollsten des ganzen Winters. Und »Krönung« war leider auch bei mir keine machbar, denn nur mehr eine Radikallösung half bei der Sanierung des Ruinenfeldes in meinem Mund.
Speedy Gonzales
Am Großvenediger gelang Werner und mir eine Erstbesteigung, unsere neue Route führte links des Nordpfeilers über den Hängegletscher. An sich nichts Besonderes, und ich hätte die Tour sicher längst vergessen, hätten wir beim Abstieg nicht eine Begegnung der besonderen Art gehabt.
Wir waren auf dem Rückweg zur Kürsinger Hütte auf etwa 3200 bis 3000 m Meereshöhe, als inmitten des riesigen Gletscherfeldes ein dunkles Bällchen auf uns zukam. Im Näherkommen erkannten wir eine Schneemaus, die, kugelrund und mit dichtem Pelz, munter Richtung Gipfel wanderte. Sie beachtete uns gar nicht, ließ sich von nichts ablenken und benutzte zielstrebig den »Normalweg«. Die Menschenspuren waren im Vergleich zu ihrem Körper so groß wie leere Schwimmbecken, aber unbeirrt trippelte sie in einen Fußtritt hinein, am anderen Ende wieder heraus, in den nächsten Tritt wieder hinein und so weiter.
Ein paar Zentimeter daneben wäre die Schneefläche unberührt und eben gewesen, sie aber bevorzugte die mühsame »Berg-und-Tal-Route« der menschlichen Fährte.
Flink wie ein Windhauch verschwand das flauschige Pünktchen auch schon bald in der Weite des Gletschers.
Wohin wollte die Maus, und wozu? Die Wege der Schöpfung sind unergründlich – die der Maus waren es nicht minder.
Schlüsselerlebnis
»Wir probieren heute eine Erstbesteigung!« eröffnete ich Mike begeistert bei der Fahrt ins Gadertal.
»Von mir aus«, gab Mike trocken zurück.
An der Ciampac-Südwand hatte ich eine Traumlinie gesehen, unberührt und rein. Zum Einstieg wühlten wir uns durch Geröll und Schotter, was Mike »besonders« liebte. Doch heute...