2. GUT GERÜSTET AN DEN START – DIE RICHTIGE VORBEREITUNG IST DER HALBE ERFOLG
Mangelnde Vorbereitung – die häufigsten Fehler
Viele Verhandlungsteams versäumen es, bei der Vorbereitung einer Verhandlung ihre verschiedenen internen Standpunkte zu diskutieren und festzulegen, welche gemeinsame Strategie nach außen vertreten werden soll und wer welche Funktion im Verhandlungsteam übernimmt. Die Gegenseite wird durch Diskussionen während der Verhandlung dann interessante Dinge über die Partei erfahren: wer welchen Standpunkt vertritt, wer zögerlich ist, wer Verbündeter werden könnte. In der Regel kann die Gegenseite einen strategischen Vorteil daraus ziehen.
SELF-ASSESSMENT
SELF-ASSESSMENT 2.1
Niels van der Reuven sitzt im Bewerbungsgespräch. Er hat sein Studium als Wirtschaftsingenieur vor zwei Jahren erfolgreich abgeschlossen und anschließend in einem Hamburger Unternehmen, bei dem er auch schon seine Diplomarbeit geschrieben hat, erste Erfahrungen als Junior Manager gesammelt. Jetzt sucht er eine neue Herausforderung in München, wo seine neue Freundin lebt. Er bewirbt sich als Projektmanager bei einem Unternehmen der Luft- und Raumfahrttechnik. Das Vorstellungsgespräch läuft gut – bis der Personalleiter eine entscheidende Frage stellt.
PERSONALLEITER: »Herr van der Reuven, was stellen Sie sich finanziell vor?«
NIELS: »Was zahlen Sie denn Berufsanfängern mit zwei Jahren Erfahrung so?«
PERSONALLEITER: »Jetzt antworten Sie doch nicht mit einer Gegenfrage. Mich interessieren erst einmal Ihre Gehaltsvorstellungen.«
NIELS: »Also … weniger als bisher will ich eigentlich nicht verdienen.«
PERSONALLEITER: »Was verdienen Sie denn zurzeit, Herr van der Reuven?«
NIELS: »Momentan verdiene ich 2500 Euro (leiser und ohne Blickkontakt). Etwas mehr sollte es schon sein. Verschlechtern möchte ich mich nicht (errötet und lacht verlegen).«
PERSONALLEITER (atmet hörbar aus und zieht die Augenbrauen nach oben): »Sprechen Sie jetzt von Brutto oder Netto? Und wie sieht ihr bisheriges Gehalt denn im Detail aus? Bekommen Sie ein 13. Monatsgehalt? Wie sieht es mit Bonuszahlungen aus? Und … (mit leicht genervtem Unterton) … sind die variablen Bestandteile da schon mit drin?«
NIELS: »Ähm, ja also … Weihnachtsgeld haben wir nicht bekommen. Und wie viel das jetzt genau brutto ist? (zögert) … Aber wie gesagt, ich will mich auf jeden Fall ein bisschen verbessern.«
PERSONALLEITER (hält Blickkontakt, schweigt und wartet): …
NIELS: »Na ja, ich habe so auf wenigstens 10 Prozent mehr gehofft. Meinen Sie, das ist möglich?«
Niels bekommt eine Woche später ein Angebot des Unternehmens. Allerdings konnte er sich mit seinen Gehaltsforderungen nicht durchsetzen. Er freut sich über die Zusage. Abends sitzt er mit seiner Freundin Nele am Küchentisch bei einem Glas Rotwein und die beiden überlegen, was wohl beim Thema Gehalt schiefgelaufen ist.
WAS GENAU HAT NIELS IN SEINER GEHALTSVERHANDLUNG VERKEHRT GEMACHT? NENNEN SIE SECHS PUNKTE!
Und lesen Sie am Ende des Kapitels die Auflösung.
Selbstüberschätzung (over-estimated power)
Die Vorbereitung auf eine Verhandlung birgt auch ein verführerisches Risiko in sich. Schnell sind wir im Vorfeld geneigt, den Verlauf der Verhandlung mit eigenen Fantasien auszuschmücken und für wahrscheinlich zu halten. Die Psychologie benutzt in diesem Zusammenhang den englischen Terminus »over-estimated power« (Selbstüberschätzung). Das kann zu überheblichem Verhalten führen und gilt als einer der häufigsten Fehler, der im Rahmen von Verhandlungen beobachtet wird. Was dann passiert, ist Folgendes: Da der Verhandelnde nicht einkalkuliert hat, dass alles auch ganz anders kommen kann als in seiner Planung, gerät er strategisch und emotional vollkommen aus der Bahn. In der Regel existiert keine Strategie für alternative Vorgehensweisen. Der Verhandelnde wird von einer eskalierenden Situation überrollt und ist mangels Alternativen erpressbar.
Unterschätzung (under-estimated power)
Beinahe genauso oft geschieht es allerdings in Verhandlungen, dass Verhandelnde im Nachhinein realisieren, dass sie ihre Macht unterschätzt haben. So denken die Verkäufer, dass die Macht in den Händen der Einkäufer liegt und die Einkäufer denken, dass die Macht in den Händen der Verkäufer liegt.
CASE STUDY
CASE STUDY: WOHNUNGSSUCHE
Nele und Niels kennen sich seit zwei Monaten. Sie beschließen zusammenzuziehen. Sie wissen, dass das früh ist, wollen es aber versuchen. Im Internet sind sie auf eine zauberhafte kleine Altbauwohnung in der Nähe des Englischen Gartens in München gestoßen. »Mensch, die kriegen wir doch nie«, befürchtet Niels. »Da sind doch bestimmt Hunderte von Bewerbern. So ein Sahnestückchen will doch jeder haben. Da brauchen wir gar nicht erst anzurufen.« »Quatsch«, unterbricht ihn Nele. »Aber keiner ist so nett wie wir. Wir sind doch Traummieter für jeden Wohnungsbesitzer. Haben beide einen Job. Keine Kinder. Verdienen gut. Das kann sonst kaum jemand bieten.«
FRAGE
Wo überschätzen beziehungsweise unterschätzen Nele und Niels hier ihre Verhandlungsmacht?
ANTWORT
Während Niels davon ausgeht, dass die ganze Welt in einer Altbauwohnung im 4. Stock ohne Aufzug wohnen möchte, geht Nele davon aus, dass es außer ihnen in der Singlestadt München keine solventen Besserverdiener ohne Kinder gibt. Beide Verhalten sind stark durch die persönliche Wahrnehmung und die subjektive Interpretation der Situation geprägt.
Wie Sie Ihre Macht realistisch einschätzen können
Wie groß die Verhandlungsmacht ist, hängt zuerst einmal vom Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage ab. Selbst der geschickteste Verhandlungsprofi bleibt an dieses Kräfteverhältnis gebunden. Wer etwas anzubieten hat, was viele wollen, weil es rar ist, kann auswählen, wer den Zuschlag erhält und hat damit viele Alternativen. Umgekehrt gilt dies natürlich genauso. Bieten Sie etwas an, das es im Überfluss gibt, das niemanden interessiert oder das niemand brauchen kann, sind Sie in einer unbequemen Position.
Verhandeln hat also etwas mit Märkten und dem Tausch von Waren auf diesen Märkten zu tun. Der Begriff Markt kommt aus dem Lateinischen von mercatus (= Handel) und merx (= Ware). Unter einem Markt kann man auch das Zusammenführen von Angebot und Nachfrage verstehen. Wobei nicht nur materielle Ware als solche angeboten oder nachgefragt wird, sondern auch Dienstleistungen und Rechte. Stellen Sie sich den Gebrauchtwagenmarkt einmal vor. Das ist ein Markt, auf dem es viele Käufer und Verkäufer gibt, sowie für jedermann leicht zugängliche Informationen über Gebrauchtfahrzeuge und die zu erzielenden Preise. Sie brauchen nur ins Internet zu gehen, dort erhalten Sie auf den gängigen Plattformen alle gewünschten Fakten. Typische Merkmale eines solchen Marktes sind:
• Der Markt ist liquide. Es gibt viele Käufer und Verkäufer, die untereinander Geschäfte abschließen wollen.
• Der Markt ist transparent. Die Käufer und Verkäufer wissen, wer zu welchem Preis welches Produkt anbietet.
• Der Markt ist homogen. Für alle Anbieter und Nachfrager herrschen die gleichen Bedingungen. Es gibt keine sachlichen, räumlichen, zeitlichen oder persönlichen Präferenzen.
• Der Einzelne hat keinen Einfluss auf das Marktgeschehen, zum Beispiel den Preis.
Je stärker diese Bedingungen erfüllt sind, desto vorhersehbarer ist das Ergebnis des Marktgeschehens. In der Regel ist die individuelle Macht des Einzelnen unter solchen Bedingungen stark begrenzt. Das heißt, ein Käufer beziehungsweise Verkäufer eines Gebrauchtfahrzeugs hat durch die Liquidität, Transparenz und Homogenität des Marktes wenig Einflussmöglichkeit. Doch diese Marktverhältnisse sind eher die Ausnahme.
Die allermeisten Märkte sind »unvollkommen«. Sie sind wenig liquide: Die Anzahl der Käufer und Verkäufer ist limitiert – bis hin zu Monopolstellungen. Die Märkte sind intransparent: Anbieter und Nachfrager wissen nicht, wer was zu welchem Preis verkauft und kauft. Und sie sind inhomogen: Für unterschiedliche Parteien herrschen unterschiedliche Bedingungen, zum Beispiel bekommen Großkunden mehr Rabatt als Kleinkunden. Genau diese Merkmale allerdings beeinflussen ganz erheblich die Verhandlungsmacht des...