Die Hände auf den ersten Blick
In der chinesischen Kultur wird den Händen und Füßen große Bedeutung zugemessen, vielleicht weil dort seit Jahrtausenden bekannt ist, dass alle Anfangs- und Endpunkte der Meridiane in den Nagelbett-Eckpunkten von Händen und Füßen liegen. Aber selbst eine so vergleichsweise flache Kulturszene wie die Hollywoods verewigt ihre großen Stars auf dem Walk of Fame, indem sie deren Hand- und Fußabdrücke in Beton verewigt. Im Französischen heißt »jetzt« »maintenant«, was wiederum wörtlich übersetzt »(in der) Hand haltend« bedeutet (main = Hand, tenant = haltend). Im Jetzt halten wir also alles in der Hand und haben es in der Hand; uns steht zur Verfügung, was wir im Moment brauchen. Der Bezug der Hände zur Gegenwart, zum Jetzt, wird damit deutlich. Die Füße dagegen gehören als unsere Wurzeln mehr zur Vergangenheit. Wenn wir Hand und Fuß vergleichen, ist die Hand moderner und auch damit gegenwartsbezogener. Die Opposition unseres Daumens ermöglicht das Greifen und Begreifen. Beim menschlichen Fuß ist der große Zeh noch in einer Linie mit den übrigen Zehen angeordnet und bleibt auch dort, wie es bei anderen Säugern ebenfalls an den »Händen« der Fall ist.
Unser Zugriff auf die Welt beginnt möglicherweise mit der Auflehnung des Daumens, der im Sinne von Prometheus in Opposition geht und eigene Wege wählt. Damit kommt etwas ganz Neues in die Welt – wie das Feuer, das Prometheus den Göttern entwendete und den Menschen brachte. Der erste Griff nach etwas bedeutete eine ähnliche Revolution und machte die Menschen auf andere Art den Göttern ähnlich. Die Revolution des Daumens in der Hand ermöglichte den Gebrauch von Werkzeugen. So sind die Hände – im Vergleich zu den Füßen – nicht nur mit unserer Gegenwart, sondern auch mit unserem Menschsein enger verbunden.
Die Form der Finger gibt weitere Hinweise. Gerade Finger und Hände gehören zu geradlinigen Menschen, die dazu tendieren, den Augenblick wertzuschätzen. Krumme Wege und Finger weisen auf andere Ausrichtungen hin. Je gebogener die Finger sind, desto mehr verbiegen sich ihre Besitzer. Jeder Finger steht darüber hinaus für eigene Bedürfnisse, die jeweils über urprinzipielle Zuordnungen definiert sind. Er weist auch auf die Angst seines Besitzers hin, diese Bedürfnisse nicht erfüllen zu können oder in diesem Punkt abgelehnt oder abgewiesen zu werden. Darum drehen und wenden wir uns und verbiegen uns sogar, und die Finger verraten es und präsentieren uns obendrein die Themen, bei denen es geschieht.
Seine Hände zeigt praktisch jeder Mensch, etwa beim Reden. Ließe er sie dabei in der Tasche, würde dies einen sehr verschlossenen und unhöflichen Eindruck machen. So viel Geheimniskrämerei um die Werkzeuge, mit denen er dem Leben begegnet, kann sich kaum jemand leisten. Und tatsächlich sprechen die Hände beim Reden gestikulierend fast immer ehrlich aus, was der Mund nur zu gern verschweigt. Wer sehen gelernt hat, wird rasch erkennen, ob die Gesten die Sprachbilder untermalen und der Betreffende sich elegant fließend über seine Gedanken der Welt nähert und dabei den Raum mit seinen Händen teilt oder ob er sich kämpfend durchschlägt oder ob er sich eher mühsam durchwindet. In diesen Luftmalereien wird deutlich, wie ausschweifend und fantasievoll oder wie strikt und konsequent wir unser Leben anpacken. Es zeigt sich, ob wir unsere Vorstellungen vage oder bestimmt vertreten, ob wir uns anbieten, sogar anbiedern oder ob wir uns energiegeladen mitteilen und durchsetzen.
Dabei sind Gesten nichts Festes, Dauerhaftes wie die Formen der Fingerspitzen oder gar die Bilder auf ihnen, unsere »Fingerabdrücke«, die wir ins Leben mitbringen und die uns auch zeitlebens begleiten. Gesten bilden sich im Laufe des Lebens und werden meist durch bewusste und unbewusste Imitation von der Umgebung übernommen. Doch selbst wer wenig spricht und sich kaum zu gestikulieren erlaubt, muss spätestens beim Essen seine Finger offenbaren. Die Art, wie man die Esswerkzeuge bedient, kann Bände sprechen und sowohl Herkunft als auch Erziehung verraten. Die Finger selbst aber dokumentieren, welche Art von Persönlichkeit jemand ist.
Die linke und die rechte Hand werden sich bei einem Menschen ähneln, aber keinesfalls gleich sein. Gerade die Unterschiede drücken die Besonderheit und den Reichtum einer Persönlichkeit aus.
Die linke Hand ist generell die passive, archetypisch weibliche Hand. Sie erzählt von der bewussten Auseinandersetzung mit dem Du, dem Anderen, dem Gegenüber. Außerdem verrät sie Details aus der Vergangenheit und ist (bei Rechtshändern) die stille Hand, die die unterdrückten Vorgänge und Wahrheiten offenbaren kann. Die linke Hand zeigt, wie wir sind, wenn wir uns unbeobachtet und privat fühlen, während die rechte wiedergibt, wie wir sind, wenn die Augen der Öffentlichkeit auf uns ruhen und wir uns beruflich beweisen. Links offenbaren wir, welche Anlagen wir mitbringen, während wir rechts zu erkennen geben, wie wir mit unseren Anlagen umgehen, was wir aus ihnen gemacht haben.
Die rechte Hand ist die aktive, archetypisch männliche Hand. Sie repräsentiert die Gegenwart und die zu fällenden Entscheidungen. Die rechte Hand ist unsere öffentliche Hand, die wir der Welt zeigen, zum Beispiel bei allen Gesten des (Be-)Grüßens. Bei Rechtshändern ist sie oft dunkler und schlanker, weil sie mehr benutzt und bewegt, also besser trainiert wird.
Sind Sie ein umtrainierter Linkshänder?
Test: Stellen Sie sich vor, Sie hätten einer großen Künstlerin hingebungsvoll gelauscht und wollen ihr jetzt begeistert applaudieren. Fangen Sie jetzt tatsächlich an zu klatschen. Achten Sie dabei ganz bewusst auf Ihre Hände. Welche Hand dient nur passiv als Resonanzkörper, und welche ist aktiv und bewegt sich schlagend?
Auflösung: Die aktive Schlaghand gibt die (ins Leben) mitgebrachte Lateralität an.
1. Wenn Sie mit der linken Hand schlagen und die rechte still halten, liegt der Verdacht nahe, dass Sie Linkshänder sind. Wenn Sie davon bisher nichts wussten, können Sie davon ausgehen, zur großen Gruppe der umtrainierten Pseudorechtshänder zu gehören, und sehr wahrscheinlich werden Sie mit weiteren Übungen diese Vermutung bestätigen und mit der entsprechenden Beobachtung einer Fülle von Tätigkeiten (vom Zähneputzen über Federballspielen, Ballwerfen bis zum Türaufschließen) erhärten.
2. Falls Sie mit der rechten als Führungshand geklatscht haben, sind Sie sicher ein Rechtshänder. Es ist praktisch nie vorgekommen, dass Rechtshänder umtrainiert wurden.
3. Wenn Sie mit beiden Händen geklatscht haben, nach Kinderart patschend, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Sie könnten (a) ein verwirklichter, in der eigenen Mitte angekommener Mensch sein und jede Bevorzugung einer Seite überwunden haben oder (b) auf dem Kinderniveau stehengeblieben sein, oder (c) Sie wurden frühzeitig in Ihrer Lateralität verunsichert.
Im Fall von 1. und 3.c wäre es das Einfachste, die Eltern mit der ehrlichen Frage zu konfrontieren, und in der Regel werden diese den Sachverhalt der Umtrainierung bestätigen (müssen). Allerdings erinnern sich oft nicht alle Eltern, oder die ungeschickte Aktion geschah im Kindergarten oder Hort.
Die Händigkeit oder Lateralität eines Menschen ist angeboren. Meist kann man schon sehr früh, spätestens wenn ein Kind zu malen beginnt, feststellen, welche Hand bevorzugt wird.
Im Gegensatz zum angelsächsischen wurden im deutschsprachigen Kulturraum bis vor kurzem Linkshänder rigoros umtrainiert und auf Rechtshändigkeit getrimmt, was in der Regel nur äußerlich und unzureichend gelang und weitreichende und unangenehme Konsequenzen für die Betroffenen hatte. Diese negativen Folgeerscheinungen sind in der Regel zeitlebens zu spüren, obwohl die Opfer ihre Orientierungsschwierigkeiten in vielen Belangen des Lebens meist nicht mit dieser frühen Sabotage ihres Orientierungssinnes verbinden.
Aber wie alles könnte sogar eine erzwungene Umstellung auch eine gute Seite haben. In einigen Fällen führte die Zwangsumstellung die Betroffenen dazu, neben ihrer begabten Hand zusätzlich die andere, schwächere zu entwickeln, was in der Konsequenz zu beidhändig besonders geschickten Uhrmachern, Pianisten oder Chirurgen führte. In jedem Fall ist das Gehirn daraufhin eher besser organisiert und gleichmäßiger im Einsatz. Es wurde für den Betreffenden dann vielleicht möglich, zusätzlich zu den linken kreativen Möglichkeiten, die sich gar nicht unterdrücken ließen, auch noch eine gute rechte und damit Verwirklichungshand zu entwickeln und so auch für ganz praktische Dinge ein gutes Händchen zu bekommen. Bei Linkshändern wird ja die dominante Hand von der rechten Gehirnhälfte geführt, die kreativer und ganzheitlicher arbeitet.
Statistiken legen nahe, wie sehr Linkshänder in kreativen Berufen überrepräsentiert sind. Dies mag natürlich auch mit der Herausforderung des Andersseins zusammenhängen. Bei den Umgeschulten, die diesen Prozess mit gutem, sogar gewinnbringendem Ausgang (üb)erlebt haben, dürfte dies noch verstärkt gelten.
Aber selbst wenn die Schattenseite in Gestalt von Ungeschicklichkeit bis zu Desorientierung die Folge der Umerziehung sein sollte, ist es nie zu spät, der angestammten Linken wieder zu ihrem Recht zu verhelfen und sie langsam und bewusst zu nutzen und damit – im Sinne der späten Berufung – auch zu...