Der kritische Patient ist ein unbequemer Patient. Er hakt nach, er hinterfragt, er will wissen, warum er etwas einnehmen soll und womit er anschließend zu rechnen hat. Er wünscht sich ein Heilmittel, das keine krank machenden Nebenwirkungen hat. Als Patient wollen Sie wissen, was mit Ihnen los ist, wie die Symptome Ihres Körpers mit Ihrer Seele zusammenhängen. Sie wollen eine Arznei, die auf allen Ebenen zu Ihrem Problem passt – die es heilt, aber nicht unterdrückt. Genau das wollte Hahnemann auch.
Im 20. Jahrhundert beginnt die moderne, technologisierte Medizin in unser Denken Einzug zu halten. Zu dieser Zeit bedeutet »Compliance« die Mitarbeit des Patienten, das konsequente Befolgen ärztlicher Ratschläge – möglichst ohne nachzufragen. Auf diese Art von »Compliance« haben Patienten des 21. Jahrhunderts zunehmend weniger Lust. Heute weiß man, dass eine Therapie umso besser wirkt, je genauer der Patient diese versteht und mit ihr einverstanden ist. Das ist jedoch in sieben Minuten schwer zu bewerkstelligen: So viel Zeit wird in einer schulmedizinischen Praxis auf die Untersuchungs-, Diagnose- und Informationsbedürfnisse des Patienten verwendet. Das ist ein so ungeheuerlich kurzer Zeitraum, dass man sich fragt, wie da überhaupt eine Arzt-Patienten-Beziehung zustande kommen kann. In der Homöopathie steht dem Patienten die Zeit zur Verfügung, die er braucht, um sein Problem in seiner ganzen Tragweite zu schildern.
DER MÜNDIGE PATIENT
Studien zeigen, dass der Erfolg einer Therapie maßgeblich davon abhängt, ob Sie als Patient die Maßnahmen kennen, mit entscheiden dürfen und mit ihnen einverstanden sind.
Homöopathie stellt unbequeme Fragen – auch an unsere Gesellschaft
Die Verbreitung der Homöopathie, sprich die Erkenntnis über ihre Möglichkeiten, hat diese Gegebenheiten, die von Patienten zuvor niemals infrage gestellt wurden, in den letzten zwei Jahrzehnten radikal verändert. In der schulmedizinischen Versorgungslücke – Zeit-, Informations- und Zuwendungsmangel – fiel die dem Menschen zugewandte Homöopathie auf fruchtbaren Boden. Zu dieser Heilmethode gehört unter anderem auch das umfassende Eingehen auf den Zustand des Patienten sowie ausreichend Zeit und aufmerksames Zuhören: Es ist, neben der frappierenden Wirkung der Globuli selbst, die menschliche Nähe, die von medizinischen Hardlinern so erbittert bekämpft wird. Erst allmählich erinnern sich so manche, dass genau diese Qualitäten noch vor gar nicht langer Zeit zur guten alten Hausarzttradition gehörten: hören, sehen, fühlen, das familiäre Umfeld kennenlernen, sich in die Situation hineinspüren. Wurde noch vor gar nicht langer Zeit emotionale Distanz an medizinischen Hochschulen gelehrt, lernen Studenten nun allmählich wieder die in der Homöopathie so wichtige emotionale Kompetenz.
Wie Hahnemann es anging
In Hahnemanns Weltbild waren die unmenschlichen Methoden seiner Zeit – Aderlass, Brechmittel, Klistiere und teilweise hochgiftige Arzneien – keine akzeptable Möglichkeit. Er wollte mehr, wünschte sich Menschlichkeit und sanfte Heilung.
In den letzten Jahren seines Schaffens, nachdem er mit seiner zweiten Frau Mélanie 1835 nach Paris ausgewandert war, saß Samuel Hahnemann in seiner Praxis oft nur still dabei, während Mélanie den Kranken Fragen stellte. Gemeinsam schufen sie eine Atmosphäre, in der die Patienten wieder Zugang zu sich selbst fanden. Während sie von ihrem Leid erzählten, erinnerten sie sich plötzlich an vergessene Details ihrer Erkrankung: wie genau die Schmerzen sich anfühlten, wann sie zum ersten Mal auftraten, was zu Hause vor sich ging, welche Sorgen die Familie gerade quälten. Aber auch: wodurch die Symptome besser oder schlechter wurden. Es waren intensive und mitunter sehr langwierige Gespräche, die jeder Homöopath bis heute mit Hilfesuchenden führt. Das sind auch die Fragen, die Sie sich selbst stellen müssen, um das passende Mittel zu Ihrer akuten Beschwerde zu finden. Sie müssen nach dem Ort der Symptome fragen, nach Auslösern und Umständen (in der Homöopathie Modalitäten genannt), unter denen sich die Beschwerden verbessern oder verschlechtern.
ANAMNESE
Darunter versteht man die ausführliche Fallaufnahme durch den Arzt oder Heilpraktiker. Dabei werden alle wichtigen Informationen zusammengetragen, die nötig sind, um das passende homöopathische Mittel zu finden.
Der Beginn einer beispiellosen Karriere
Um zu seiner letztendlich sanften Heilmethode zu finden, war Samuel Hahnemann einen harten Weg gegangen. Vernarrt in die Wissenschaft, war er schon als Kind von zu Hause fortgelaufen, um sich eine weiterführende Bildung zu ertrotzen. Sein Vater war arm: Porzellanmaler in der berühmten Meißener Manufaktur. Er hoffte, dass sein Sohn die Familie nach einem frühen Schulabschluss finanziell unterstützen würde. Es war die Mutter, die verstand, welche Begabung in diesem Kind schlummerte. Sie erbettelte bei seinem Lehrer ein Stipendium und so wurde aus Christian Samuel schließlich Dr. Samuel Hahnemann, Arzt, Apotheker, dazu medizinischer Schriftsteller und auch noch Übersetzer – er beherrschte fünf Sprachen. 1779 schloss er sein Studium an der Universität Erlangen mit der Promotion ab. In den Folgejahren verdiente Hahnemann sein Geld nicht nur als Arzt. Er machte auch chemische Versuche, Übersetzungen und veröffentlichte diverse Publikationen.
Der Kampf ums Überleben
Seine berufliche Laufbahn war für Hahnemann alles andere als befriedigend. Er praktizierte, rastlos wandernd, in zahllosen deutschen Städten, als Arzt, als Chemiker, als Pathologe, als Psychotherapeut. Jede Erfahrung mit den medizinischen Möglichkeiten seiner Zeit frustrierte ihn mehr. Doch jede einzelne von ihnen sollte sich später als nützlich erweisen.
In einer Phase, die ihm nicht genügend Einkommen brachte, um seine erste Frau Henriette und die gemeinsamen elf Kinder zu ernähren, verdingte sich Hahnemann 1789 als Übersetzer für ein Werk des schottischen Arztes Prof. Dr. William Cullen. Ein Kapitel in dessen Buch brachte ihn auf die Spur zu dem, was später seine homöopathische Heilmethode begründen sollte: die Wirkung der Chinarinde. Cullens Rückschlüsse über deren Wirkung erschienen Hahnemann nicht nachvollziehbar. Um sich selbst ein Bild zu verschaffen, nahm er »vier Quäntchen guter China« und stellte fest, dass er nach deren Einnahme malariaähnliche Symptome entwickelte, die jedoch wieder aufhörten, sobald er die Arznei abgesetzt hatte. Was bedeutete das?
DER CHINARINDEN-VERSUCH
Besagter Eigenversuch mit Chinarinde im Jahr 1790 gilt allgemein als Geburtsstunde der Homöopathie und wird deshalb in der Literatur immer wieder hervorgehoben.
Die Formulierung der homöopathischen These
Es vergingen weitere sechs Jahre, in denen Hahnemann immer neue Ausgangssubstanzen verdünnte, an sich selbst, seinen Kindern und einzelnen Schülern ausprobierte. Was er durch die Chinarinde bereits erahnte, schien sich immer wieder zu bestätigen. Und schließlich, 1796, formulierte er die These, die bis heute der Homöopathie zugrunde liegt: die Ähnlichkeitsregel.
Das Wort »Homöopathie« stammt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus den beiden Komponenten homoios = ähnlich und pathos = leiden. Diese Wortschöpfung hatte zweierlei Bedeutungen: Zum einen, dass der Arzt (Prüfer) »ähnlich litt« wie der Patient, indem er die Wirkung jeder einzelnen homöopathischen Arznei an sich selbst ausprobierte. Zum anderen beschrieb das Wort »Homöopathie« das Bestreben, beim Patienten ein ähnliches Leiden hervorzurufen, wie er es bereits hatte. Durch die Verstärkung sollten die körpereigenen Regulationskräfte die Selbstheilung initiieren.
SIMILIA SIMILIBUS CURENTUR
»Ähnliches möge durch Ähnliches geheilt werden« – so lautete die Forderung Hahnemanns. Seine Regel besagt, dass eine Arznei, die einen Gesunden krank macht – ausgedrückt durch ganz bestimmte Symptome –, einen Kranken mit genau den gleichen Symptomen gesund zu machen vermag. Hahnemann erkannte, dass die minimale Verstärkung bereits vorhandener Beschwerden offenbar die körpereigenen Selbstheilungskräfte aktivierte und die Krankheit so auf natürliche Weise ausheilen konnte.
Die Entstehung der Lehrbücher
Aufgrund der persönlichen Erfahrung zahlloser Ärzte, Therapeuten und Patienten entstanden nach und nach die homöopathischen Lehrbücher, Materiae Medicae genannt: Wissenschaft in ihrer reinsten Form. Die Homöopathie war einer der ersten Versuche der Medizingeschichte, die Prinzipen und Gesetzmäßigkeiten von Gesundheit und Krankheit durch rationales und wissenschaftliches Vorgehen und Experimentieren systematisch zu entschlüsseln. Doch erst im Laufe der Jahre und weil ihm die Nebenwirkungen der verdünnten Ausgangsstoffe immer noch zu stark waren, stieß Hahnemann auf das Prinzip der Potenzierung, die dritte Säule seines Homöopathie-Systems. Dabei machte er schließlich die erstaunlichste aller Entdeckungen, für die selbst unsere moderne Medizin bis heute keine befriedigende Erklärung finden konnte – zumindest nicht mit den uns bekannten Messmethoden: dass nämlich eine Substanz umso tiefgreifender wirkt, je öfter man sie verdünnt und verschüttelt. Dieser Vorgang wird daher folgerichtig als Dynamisierung bezeichnet.
Materia Medica ist ein historischer Ausdruck für die Lehre von den Arzneimitteln, der von Dioscurides kreiert wurde. In der Homöopathie versteht man darunter die Sammlung von...