In der Kinderstube, der Erziehung der Krabbel- und Kleinkinder, wurden Mädchen und Buben noch gemeinsam betreut, meist ausschließlich von Kinderfrauen und Kammermädchen. Erst mit Beginn des Unterrichts wurden sie nach Geschlecht getrennt. Die ersten Jahre wurden alle Kinder zu Hause von Hauslehrern erzogen, danach schickte man zumindest die Buben öfter in Pensionate – gegen Ende der Monarchie – in öffentliche Gymnasien. Mädchen wurden fast immer zu Hause erzogen, nur in Einzelfällen besuchten sie untertags katholische Schulen.
Die Erziehung der heranwachsenden Mädchen der Aristokratie war ganz auf ihr künftiges Leben als Ehefrau, Mutter und Gesellschaftsdame ausgerichtet. Sie mussten lernen ein tadelloses Heim zu führen, schöne Blumenarrangements zu erstellen, Klavier zu spielen und geschmackvolle Handarbeiten herzustellen. Auch Fremdsprachen sollte ein Mädchen beherrschen, vor allem Französisch musste sie tadellos sprechen. Bei der Erziehung der Mädchen galt die Herausbildung einer Charaktereigenschaft als besonders wichtig: die Herzenswärme. Mädchen sollten mitfühlend, gütig und bescheiden sein und sich nicht in den Vordergrund drängen.
Standesgemäß erzogen im ursprünglichsten Sinn wurden die Kinder durch das lebende Beispiel ihrer Eltern – indem sie beobachteten und nachahmten, was diese ihnen vorlebten. Durch »Vorleben« erfolgte auch die Herausbildung eines aristokratischen Habitus; weniger durch gezielte Erziehung. Was die Kinder an angemessenen Grußformeln, ordentlicher Aussprache und geistvoller Konversation hörten, übernahmen sie automatisch, so dass die aristokratische Kultur wie selbstverständlich von einer Generation auf die nächste weitergegeben wurde. Dieses soziale Herkunftskapital war der eigentliche »Mitgliedsausweis« in der Aristokratie. Es konnte weder im Nachhinein erworben werden, noch war es an Besitz und Reichtum gebunden. Selbst der mittelloseste Aristokrat war aufgrund dieser typischen – und allen gemeinsamen – Erziehung ein gleichberechtigtes, von allen akzeptiertes Mitglied seines Standes. Während der noch so reiche Industrielle, dessen Lebensstil oft nicht nur dem eines vermögenden Aristokraten entsprach, sondern diesen noch in den Schatten stellte, durch das Fehlen dieses sozialen Grundkapitals sofort als nicht zugehörig auffiel. Aufsteigerfamilien brauchten mindestens zwei Generationen, um jene Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander zu erwerben, die nur von Eltern an Kinder weitergegeben werden konnte.
Der Tagesablauf der Mädchen war sehr genau und pünktlich eingeteilt – jede Abweichung von dieser Norm wurde von den Kindern daher als angenehmes Ereignis begrüßt. In der Früh gab es immer ein einfaches Frühstück, gemeinsam mit den Erziehern. Nach den Lernstunden folgte ein kurzes Mittagessen, meist ebenfalls nur im Kreis des Erziehungspersonals. Danach gab es Zeichen- und Klavier-, eventuell Gesangsstunden sowie Stunden, die der Handarbeit dienten. Am Nachmittag ging man spazieren, was die Kinder zumeist als »fade« empfanden.9 Begeistern konnten sie sich allenfalls für Spaziergänge während der winterlichen Wien-Aufenthalte, denn diese führten entlang der Ringstraße – und Ringstraßenspaziergänge waren damals ein auch von Erwachsenen goutiertes Freizeitvergnügen. Jeder, wirklich jeder zeigte sich auf »dem Ring«, vom Offizier bis zum Bürger, vom Aristokraten bis zur Bürgersfrau. Bekannte Burgschauspieler und Opernsänger flanierten den Prachtboulevard entlang – das Motto hieß: »sehen und gesehen werden«. Die Kinder, die Lebhaftigkeit der Großstadt bestaunend, gingen artig in ihren Matrosenkleidchen neben den Gouvernanten. Im Winter durften die Kinder in Wien auch eislaufen gehen, eine bei Alt und Jung beliebte Sportart des Adels.10
Auf »natürlichen« Umgang mit den Standesgenossen wurde von klein auf großer Wert gelegt. In diesem Sinne erhielten die Mädchen schon im Kindesalter kleine, altersgerechte gesellschaftliche Aufgaben. An Sonntagen durften schon die jüngsten Mädchen ihre Freundinnen, die Töchter anderer Aristokratinnen, zur Jause einladen. Auch die Buben hielten ihre traditionellen »Bubenjausen« ab, zu denen sie ihre gleichaltrigen Freunde einluden.11
Prinz Ferdinand Kinsky mit seinen Kinder beim täglichen Spaziergang, 1906.
Ebenfalls von klein auf erhielten die Mädchen Tanzstunden, meist gemeinsam mit ihren Brüdern oder Cousins. Sobald die Mädchen einige kleine Tänzchen beherrschten, arrangierte die Mutter Kinderbälle, zu denen die Kinder anderer Adelsfamilien eingeladen wurden. Ein Klavierspieler sorgte für die Musik, zu der die kleinen Mädchen und Buben miteinander tanzten. Den Abschluss eines solchen Kinderfestes bildete eine Jause mit Tee und Süßigkeiten.12 Diese Kinderbälle waren nicht nur dazu gedacht, den Mädchen eine Unterhaltung zu bieten. In erster Linie sollten sie sich von klein auf an die Notwendigkeit gewöhnen mit ihresgleichen zusammenzusein, ungezwungen Konversation zu führen und, dies vor allem, als Gastgeberin ihren Pflichten in der Gesellschaft nachzukommen – freilich zunächst auf kindgerechter Basis.
Mit anderen Kindern als jenen der Aristokratie kamen die Mädchen und Buben niemals zusammen. Da die Aristokratie streng darauf achtete, dass es ja keine Vermischung mit der »Zweiten Gesellschaft«, der Gesellschaft der Ringstraßenbarone und Industriellen gab, wurde selbst den Kindern ein Zusammentreffen mit Nicht-Aristokraten untersagt. Graf Ferdinand Wilczek berichtet, dass seine Gouvernante, die sehr eigenständig agieren durfte, mit ihm und seinen Geschwistern öfters ins Cottage-Viertel fuhr, um dort die Kinder der Familie Des Renaudes zu besuchen, mit deren Nurse sie befreundet war. Die Mutter seiner Freunde war eine geborene Frau Waerndorfer, Schwester des Industriellen Fritz Waerndorfer, der mit seinem Reichtum die Gründung der Wiener Werkstätten ermöglichte. Die Waerndorfer-Renaudes waren reiche und angesehene Mitglieder der Zweiten Gesellschaft – doch als die Mutter Ferdinand Wilczeks von diesen Besuchen erfuhr, verbot sie sie sofort. Die Kinder von Industriellen waren eben keine standesgemäßen Spielgefährten für kleine Aristokaten.13
Zwei Mädchen, um 1906.
Die individuellen Kleidungswünsche kleiner Mädchen blieben völlig unberücksichtigt, ja, man nahm sie nicht einmal zur Kenntnis. So waren die kleinen Mädchen der Aristokratie alle gleich gekleidet. Über einem Baumwollkleid trugen sie eine Schürze mit Latz und Rüschen. Wochentags waren die Kleidchen dunkel, an Sonn- und Besuchstagen aber hell. Kleine Stiefelchen, zu denen sie derbe Strümpfe trugen, galten als einziges Schuhwerk für den Alltag. Die Kleider waren knielang, erst mit Eintritt in die Pubertät waren bodenlange Kleider gestattet. Haare durften im Kindesalter noch halb offen getragen werden; junge Damen mussten die Haare aber immer hochstecken. Die Alltagskleidchen der Mädchen wurden meist von geschicktem Kammerpersonal genäht, nur Sonntagskleider und spezielle Kleidungsstücke wurden von Schneiderinnen und Modesalons gefertigt. In der Aristokratie galt sowohl in Bezug auf die Kleidung als auch das Auftreten der Kinder Einfachheit als Tugend; aufgetakelte, affektierte Kinder empfand man als Gräuel.
Die Tochter des Grafen Felix Harnoncourt in einem Festkleid, um 1888.
Ein wichtiges Kriterium in der Erziehung, auch bei Mädchen, war die körperliche Ertüchtigung. Überhaupt sollten Kinder nicht verweichlicht werden, jegliche Mimosenhaftigkeit wurde auch den Mädchen früh ausgetrieben. Dem hohen Stand entsprechend sollten sie lernen, sich nicht gehenzulassen und körperliche Unpässlichkeiten ohne Gejammer zu ertragen, um auch im Hinblick auf ihre späteren Pflichten in der Gesellschaft ein angenehmes Gegenüber zu werden, das sich und seine Affekte in der Hand hat. Das verzärtelte Kind, wie man es in vielen Bürgersfamilien fand, entsprach absolut nicht dem Erziehungsideal der Aristokratie – die eher eine spartanische körperliche Erziehung präferierte.14
Mädchen wurden dazu angehalten, Tagebuch zu führen. Hiermit bezweckte man weniger, dass sie die schönsten und außergewöhnlichsten Erlebnisse als Erinnerung festhielten, sondern dass sie Selbstzeugnis ablegten. Mädchen sollten ihr Handeln auf seine Motive hin prüfen und sich – darüber schreibend – fragen, ob sie den hohen sittlichen Erwartungen ihrer Eltern auch gewissenhaft entsprochen hatten. Solches In-sich-Gehen, Sich-Prüfen galt als Voraussetzung für tadelloses Verhalten. In jungen Jahren musste man oftmals die Tagebücher der Mutter vorlegen, die so kontrollieren konnte, wie ernsthaft man das eigene Verhalten überdachte.
Kinder wurden zudem von klein auf zu sozialer Fürsorge angehalten. Dem christlichen...