VORWORT
Ein Kaufmann suchte kostbare Perlen
Er war Kaufmann. Weil die Familie ihm die Schulbildung nicht mehr hatte bezahlen können, war er nach nur drei Monaten gezwungen gewesen, das Gymnasium wieder zu verlassen. So trat er nach der Mittleren Reife eine kaufmännische Lehre an. Doch nebenbei studierte er in den folgenden Jahrzehnten nicht weniger als sechzehn moderne Fremdsprachen sowie die vier alten Sprachen Griechisch, Lateinisch, Hebräisch und Sanskrit. Keine Frage, darauf verwendete er jede freie Minute. Nach einigen Jahren wurden seine Vorgesetzten auf ihn aufmerksam und betrauten ihn mit der Vertretung ihres Unternehmens in St. Petersburg. Nach einiger Zeit machte er sich dort selbstständig und war so erfolgreich, dass er es zum Multimillionär brachte.
Das Ende einer Erfolgsgeschichte? Nein, der Anfang der Verwirklichung eines Traumes. Die Rede ist von Heinrich Schliemann (1822–1890). Als er nämlich genug Geld zusammengebracht hatte, gab er 1863 sein Geschäft auf und begann zu reisen. In Griechenland und Kleinasien reifte in ihm der Plan, die Lieblingsidee seiner Schülertage in die Tat umzusetzen, die Stätten der Schriften Homers auszugraben, allen voran Troja, die Stadt des gleichnamigen Krieges um die schöne Helena, und Mykene, die Stadt des Griechenkönigs Agamemnon. Von der Fachwelt wurde er größtenteils verlacht: »Der hat doch nicht einmal Abitur!« Der »gesunde Menschenverstand« schüttelte über ihn den Kopf: »Der verschleudert seine Millionen einem bloßen Traum zuliebe!« Doch in langen Ausgrabungsjahren kam Troja zutage und mit ihm das, was er für den Goldschatz des homerischen Königs Priamos hielt (er war in Wirklichkeit noch viel älter!). Dieser Schatzfund war allerdings nur Peanuts im Vergleich zu dem, was er in Mykene fand: Schmuck von mehr als fünfzig Kilo reinen Goldes! Gewiss, nicht in allem lag er richtig. Seine Grabungen glichen eher Räumungen. Und charakterlich war er ein gerissener Geschäftsmann, der ohne allzuviel Rücksicht auf Recht und Sitte seinen Kopf durchsetzte. Später vermarktete er auch seine eigene Person mithilfe von allerhand Legenden – etwa der, dass er bereits als Achtjähriger davon geträumt habe, Troja auszugraben. Also gewiss kein Heiliger! Aber eines tat er und nur er: Er glaubte daran, dass irgendwo unter griechischen und kleinasiatischen Hügeln und Schafweiden der Glanz erhabener Kulturen der Frühzeit lag. Ein Kolumbus der Archäologie also – einer, der das Unsichtbare sehen konnte, auch wenn ihn alle anderen dafür auslachten.
Heinrich Schliemanns Geschichte erinnert entfernt an das Gleichnis vom Kaufmann und der Perle: Auch ist es mit dem Himmelreich wie mit einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. Als er eine besonders wertvolle Perle fand, verkaufte er alles, was er besaß, und kaufte sie (Mt 13,45 f.). Geradezu anrührend ist es, dass die Art und Weise, wie Schliemann die kostbaren Schätze Trojas und Mykenes fand, verblüffend dem zweiten Gleichnis ähnelt, das Jesus im gleichen Zusammenhang erzählt, dem vom im Acker vergrabenen Schatz. So hat Heinrich Schliemanns Geschichte auch etwas vom christlichen Leben. Viele stellen es sich ja bloß wie eine Sammlung von Ge- und Verboten vor. Manche gefallen dem modernen Menschen, andere weniger, und bei einzelnen gehen alle Alarmglocken an. Man könnte es mit den Auslagen eines Schaufensters vergleichen, und die Leute draußen geben so ihre Kommentare ab: »Das da ist doch ganz nett!« – »Ganz schön, aber preislich völlig überhöht!« – »Puh, das möchte ich nicht einmal geschenkt haben!« Aber die christliche Moral ist eben nicht im Schaufenster zu besichtigen. Sie ist wie versteckt unter einem Haufen Erde, Schlamm und Gestrüpp – ganz wie Troja und Mykene, als Schliemann zum ersten Mal an diesen Stätten stand. Aber warum sieht man nicht auf den ersten Blick, was gut und was böse ist im christlichen Sinn? Was bedeckt die christliche Moral denn mit meterhohen Schichten? Es ist eine andere Moral, die sich darübergelegt hat. Das ist sozusagen die Oberflächenmoral, also ein Verhalten, das in die Augen springt und für das man gar nicht viel nachdenken muss: Jeder tut einfach das, was er bei anderen sieht. So kann er sich noch als Vorbild für andere fühlen …! Und was sagt diese Oberflächenmoral? »Jeder nach seinen Bedürfnissen! Gut ist, was sich gut anfühlt.« Das ist schrecklich einfach und praktisch, denn jeder lernt heute schon in der Kinderkrippe: »Ich muss schreien, wenn ich etwas bekommen will. Aber ich darf auch nicht dauernd schreien, sonst haben die Großen mich nicht mehr lieb.« Viel anders ist es dann auch bei den Erwachsenen nicht: Ein bisschen rücksichtslos darf man schon sein, sonst ist man überall der Dumme. Zugleich muss man auch ein bisschen regelbewusst sein, sonst findet man sich bald hinter Gittern wieder. So etwa lautet das Ergebnis einer Umfrage zu Werten und Verhalten, die kürzlich unter amerikanischen jungen Erwachsenen zwischen achtzehn und dreiundzwanzig Jahren durchgeführt wurde; wir werden noch auf diese Studie zurückkommen. Fast alle stimmten darin überein: Gut und Böse muss jeder für sich selbst bestimmen, ganz so, wie es ihm gefällt. Nur eben eine Bank überfallen, eine Frau vergewaltigen oder jemanden umbringen, das darf man nicht. Der Meisterverstärker dieser Oberflächenmoral ist der Konsum. Er braucht die Bedürfnisse der Menschen so notwendig wie der Fisch das Wasser (und gerne gießt er dann auch noch durch aufreizende Werbung einige Hektoliter zusätzliches Wasser ins Bassin). Kein Wunder, dass viele am Ende denken: Glück ist Bedürfnisbefriedigung, und Lebenssinn besteht darin, mit Glückserlebnissen die Scheunen bis zum Dach zu füllen.
Doch das ist nur Gestein und Geröll – das weiß ein Christ genau. Darunter schlummert etwas unendlich viel Wertvolleres: das reine Gold – nicht das des Königs Priamos, sondern das Gold des Himmelreiches. Denn nur an der Oberfläche ist der Mensch ein Bedürfniswesen. In Wirklichkeit, tief darunter, ist er Geist, genauer, ein gottsuchender Geist. Er ist Ebenbild Gottes. Die Sinne sind Tore zum Geist, nicht Netze zum Fang unzähliger kleiner und großer Befriedigungen.
Doch das Gold des Himmelreiches liegt nicht in Klumpen herum. Es ist ein Goldschatz, und er hat die Gestalt des Kreuzes. Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach (Mt 16,24). Verzicht, Selbstbeherrschung, Treue und Hingabe gehören zum Menschsein dazu. Es gibt nicht nur Glück im Unglück, sondern noch viel mehr Glück durch Unglück: gereiftes, gereinigtes, geklärtes Glück. Es ist das Glück der Liebe – nicht Sinnenreiz, sondern Einsatz des Lebens für das, was wahr und gut ist. Im letzten Roman des jüdisch-österreichischen Schriftstellers Franz Werfel (1890–1945), »Der Stern der Ungeborenen«, beschreibt er eine Reise in die Zukunft. Dort findet er eine Welt vor, die kein Leid mehr kennt. Alle Wünsche gehen allein schon dadurch in Erfüllung, dass man sie denkt. Vorstellungen und Fantasien lassen sich mühelos in die Tat umsetzen, bis zu dem Punkt, dass eine Grundschulklasse in einer einzigen Unterrichtsstunde einen Schulausflug zu Merkur und Jupiter macht und dann noch eben in ein Atom hineinverschwindet, um es von innen zu studieren. Es gibt nur noch einen Welteinheitsstaat. Sanft leitet er die Menschheit zu einem friedlichen und angenehmen Miteinander – alles wirkt wie im Dämmerlicht eines Lebens, bei dem tatsächlich nichts mehr zu wünschen übrig bleibt. Selbst der Tod hat seine Schrecken verloren: Wer ein wahrhaft biblisches Alter erreicht hat, begibt sich freiwillig in den »Wintergarten«, wo er ganz schmerzfrei aus diesem Leben genommen wird. Spätestens an dieser Stelle des Romans spürt man das Beklemmende der Utopie, gerade weil sie siebzig Jahre später der Wirklichkeit noch viel nähergekommen ist. Ohne das Buch aber zu Ende zu erzählen und damit möglichen Lesern die Spannung zu nehmen, so viel sei verraten: Eine solche Welt kann nicht gut gehen. Judentum und katholische Kirche, so Franz Werfel, sind die einzigen Mächte, die nicht in der Welteinheitskultur aufgegangen sind. Und dann geschieht etwas ganz und gar Außerordentliches: Ein Kind, der Lieblingsschüler seines Lehrers, wird schwer verletzt und muss sterben. Die Eltern, der Lehrer, alle ringsum drängen zum sanften Tod, wenn er denn schon nicht zu vermeiden ist. Doch der Junge wehrt sich gegen den sanften Tod: »Ich will nicht ins Kühle und Gute«, schreit er, »ich will nicht …« Und der Erzähler schließt: »Ich aber bedeckte meine Augen. Auch mir war die Kehle zugeschnürt von einem fast unausdrückbaren Wissen und Empfinden. In der Neuannahme des natürlichen Todes und Schmerzes durch diesen kleinen Sternentänzer hatte eine neue Zukunft die alte abgelöst.« Es gibt den Tod, und es gibt das Kreuz. Sie anzunehmen scheint der...