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E-Book

Kinder erinnern sich

Dem faszinierenden Phänomen der Wiedergeburt auf der Spur

AutorJim B. Tucker
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl244 Seiten
ISBN9783843709170
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wir alle haben uns schon einmal gefragt: 'Werden wir wiedergeboren?', 'Gibt es ein Leben nach dem Tod?' und wenn ja 'Wer waren wir dann vor unserem jetzigen Leben?' Der amerikanische Neurowissenschaftler Jim B. Tucker stellt in diesem Buch seine Untersuchungen zahlreicher spektakulärer Fälle vor, bei denen sich Kinder an ein früheres Leben erinnern. Plausibel und realistisch lässt er uns an seinen Recherchen teilhaben. Schritt für Schritt nähert er sich den erinnerten Identitäten an und kommt zu verblüffenden Erkenntnissen. Tauchen Sie ein in die fesselnde Forschungsarbeit und freuen Sie sich auf eine spannende Lektüre!

Jim B. Tucker ist Professor für Psychatrie und Neuro-Verhaltenswissenschaften an der Unviersität von Virginia. Er setzt das Werk des Begründers der Reinkarnationstheorie Ian Stevenson fort, der erstmals wissenschaftlich das Phänomen von Kindern erforscht hat, die sich an frühere Leben erinnern. Tuckers erstes Buch 'Life before Life. A Scientific Investigation of Children's Memories of Previous Lives' wurde in zehn Sprachen übersetzt.

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Leseprobe

Ein zurückgekehrtes Kind?


Patrick, ein niedlicher kleiner Junge mit langem dunklem Haar und verschmitztem Lächeln, war mein erster Fall. Er war gerade fünf geworden, als ich ihm und seiner Familie in deren Haus in einem kleinen Vorort des Mittleren Westens begegnete. Ich begleitete Dr. Ian Stevenson, der – vormals ein »junger rastloser Mann« – mit Ende dreißig Leiter der Psychiatrischen Abteilung an der University of Virginia in Charlottesville wurde, dann aber die akademische Karriere aufgab, um sich vierzig Jahre lang beharrlich seinem eigentlichen Interesse zu widmen: Kindern, die über Erinnerungen an frühere Leben berichten. Fast achtzig Jahre alt, doch mit ungebrochener Neugier suchte er diese Familie auf, weil Patricks Mutter zu der Überzeugung gelangt war, ihr Sohn sei die Reinkarnation seines verstorbenen Halbbruders.

Ian stufte Patricks Fall als potenziell bedeutsam ein. Obwohl er viele Bücher und Artikel über Kinder und ihre zahlreichen Aussagen veröffentlicht hatte, die zu den Eigenheiten verstorbener Personen passten, stammten seine besten Fälle allesamt aus anderen Ländern, meist aus Asien, wo der Glaube an die Wiedergeburt weitverbreitet ist. Seine amerikanischen Fälle hingegen waren weniger stichhaltig. Sie umfassten zwei wesentliche Typen: Kinder, die sich aufgrund ihrer Erinnerung offenbar für ein verstorbenes Familienmitglied hielten, und Kinder, die über ein früheres Leben sprachen, aber nicht genügend Details nannten, um eine damals lebende Person zu identifizieren. Jene Fälle, die innerhalb ein und derselben Familie angesiedelt waren, wiesen eine charakteristische Schwäche auf: Das Kind mochte zufällig mitgehört haben, wie andere über den Verstorbenen redeten. Obwohl Patricks Fall dieser Kategorie angehörte, unterschied er sich doch durch eine entscheidende Besonderheit: Der Junge hatte am Körper drei ungewöhnliche Male, die äußeren Verletzungen beziehungsweise Symptomen seines verstorbenen Halbbruders zu entsprechen schienen und also nicht damit erklärt werden konnten, was ihm vielleicht durch andere Familienmitglieder zu Ohren gekommen war.

Ian organisierte eine dreitägige Reise, deren Ablauf genau geplant war und ein gründliches Vorgehen ermöglichte. Am ersten Tag würden wir ein langes Gespräch mit der Familie führen, es am nächsten Tag fortsetzen, um Gesichtspunkte zu behandeln, die wir übersehen hatten oder klären mussten, und an diesem wie auch am dritten Tag andere Personen interviewen, die in Patricks Leben eine Rolle spielten. Wir hofften, dass der Junge sich dank unserer intensiven Beschäftigung hinreichend wohlfühlen und uns von seinen Erinnerungen berichten würde.

Wir kamen im Haus der Familie an und setzten uns mit Lisa, Patricks Mutter, ins Wohnzimmer. Ian holte ein Klemmbrett und ein Aufnahmegerät aus seiner durch etliche Reisen um die Welt abgenützten Aktenmappe. Er testete das Aufnahmegerät und stellte es auf den Couchtisch. Zuerst befragte er Lisa über ihren verstorbenen Sohn, an dessen Leben sich Patrick zu erinnern schien: »Ist es für Sie nicht schwierig, über dieses Thema zu sprechen?« Lisa erwiderte: »Nein. Es könnte mir Mühe machen, aber dem ist nicht so. Wo soll ich anfangen?« Ian bat sie, an der Stelle einzusetzen, wo ihr Sohn zum ersten Mal krank wurde, und mit gleichmäßiger Stimme begann sie nun ihre Erzählung.

Kevin war vor zwanzig Jahren zur Welt gekommen. Lisa, eine junge Mutter, und Kevin, ihr erstes Kind, waren wohlauf, ungeachtet der Trennung von seinem Vater. Doch im Alter von sechzehn Monaten begann Kevin zu hinken. Das geschah zunächst nur zeitweise; dann, nach ungefähr drei Wochen, hinkte er ständig. Lisa ging mit ihm zum Arzt, der den Jungen für drei Tage ins Krankenhaus einwies, wo er gründlich untersucht wurde. Ein Knochenscan blieb ohne Befund, aber Röntgenaufnahmen zeigten außergewöhnlich viel Flüssigkeit im linken Hüftgelenk. Der Arzt ging von einer Entzündung aus.

Als Kevin entlassen wurde, hinkte er immer noch. Zwei Tage später fiel er hin, und die Ärzte in einem anderen Krankenhaus stellten fest, dass ein Bein gebrochen war. Sie legten einen Gipsverband an, der dem Jungen jedoch so starke Schmerzen bereitete, dass sie ihn nach drei Tagen entfernten. In diesem Zustand konnte Kevin das Bein nicht belasten und weigerte sich zu gehen. Daraufhin brachte Lisa ihn zu einem orthopädischen Chirurgen. Er ordnete weitere Röntgenaufnahmen an, die erkennen ließen, dass in zwei Knochen des linken Beines die Substanz teilweise zerstört war. Erneut wurde Kevin ins Krankenhaus eingeliefert. Der behandelnde Arzt teilte Lisa mit, ihr Sohn habe einen Tumor im Bein. Diese ohnehin schon schwierige Phase wurde durch die wechselnden Diagnosen immer noch schlimmer. Wie Lisa sagte, machten sie etwa zwei Wochen durch, in denen es einmal hieß, Kevin sei an Leukämie erkrankt, dann wieder, er sei nicht an Leukämie erkrankt. »So ging es ständig hin und her.« Doch die nächste Nachricht sollte noch schrecklicher sein.

Um genauere Untersuchungen durchzuführen, wurde Kevin in eine spezielle Kinderklinik verlegt. Neben dem geschwollenen Bein bemerkten die dortigen Ärzte, dass sein linkes Auge blau unterlaufen war und hervorquoll und dass sich über seinem rechten Ohr ein Knoten befand, möglicherweise ein Tumor. Sie vermuteten ein Neuroblastom – eine Krebserkrankung, die irgendwo im Nervengewebe beginnt, oft in der Nebenniere, und sich dann ausbreitet. Ein Röntgenbild von Kevins Nieren offenbarte einen Klumpen oberhalb der linken Niere. Mittels Skelettaufnahmen wurden verschiedene Läsionen und ein dunkler Bereich über dem hervortretenden linken Auge entdeckt. Am vierten Tag seines Krankenhausaufenthaltes kam Kevin in den Operationssaal. Die Ärzte entnahmen dem Knoten über dem rechten Ohr eine Gewebeprobe und führten einen langen Zentralvenenkatheter in die rechte Seite des Halses ein.

Die Biopsie bestätigte, dass es sich um ein metastatisches Neuroblastom handelte. Zumindest stand die Diagnose endlich fest, selbst wenn sie äußerst ungünstig ausfiel. Damit begann Kevins Behandlung, eine Chemotherapie, die über den Zentralvenenkatheter verabreicht wurde. Die Stelle, an der die Infusion in seinen Hals tröpfelte, entzündete sich des Öfteren, aber insgesamt vertrug er diese Eingriffe ziemlich gut. Außerdem unterzog man ihn einer Strahlentherapie – auch am linken Auge und am linken Bein –, die nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus fortgesetzt wurde. Er konnte zehn Tage später nach Hause zurückkehren.

Eine Weile schien Kevin ganz munter zu sein. Lisa präsentierte uns Fotos von ihm. Das erste wurde vor dem Ausbruch der Krankheit gemacht. Man sieht ein rundliches lachendes Baby mit vielen hellen Locken. Die zwei anderen Fotos stammen aus der Zeit danach. Sie zeigen einen dünneren und kahlen kleinen Jungen mit blau unterlaufenem linkem Auge, das stark hervortritt. Kevin war zu jung, um zu verstehen, dass er sterben würde, und so wirkt er auf beiden Fotos glücklich – strahlend auf dem einen, mit einer Spielzeug-Feuerwache beschäftigt auf dem anderen. Sie sind einfach herzzerreißend.

Sechs Monate nach seiner ersten Einlieferung musste Kevin wieder ins Krankenhaus. Er blutete aus dem Zahnfleisch, weil der Krebs in sein Knochenmark eingedrungen war, das nicht mehr genügend Blutplättchen bilden konnte. Mittlerweile war auch das rechte Auge blau unterlaufen, während die Färbung um das linke verblasste. Lisa zufolge konnte er nun auf dem linken Auge nichts mehr sehen. Die Krankheit war offenbar im Endstadium, doch ungeachtet dessen bekam Kevin eine Blutplättchentransfusion, außerdem abwechselnd Chemotherapie und Strahlentherapie an der rechten Augenhöhle. Schließlich wurde er entlassen und starb zwei Tage später.

Lisa sprach über all dies in ruhigem, sachlichem Ton – vielleicht deshalb, weil Ian und ich eher auf Fakten als auf Emotionen bedacht waren. Ian äußerte zwar, dass Kevins Tod sie sicherlich stark mitgenommen hatte, aber als sie darauf kaum etwas erwiderte, gingen wir zu anderen Themen über. Wir erwarteten nicht, dass sie uns ihr Herz ausschüttete, und stellten zahlreiche Fragen, damit sie einfach nur die Umstände seiner Krankheit und seines Todes schilderte.

Nach diesem tiefen Einschnitt setzte Lisa ihr Leben fort. Schon lange vom Vater ihres Sohnes getrennt, hatte sie noch vor dessen Krankheit eine Beziehung mit einem anderen Mann begonnen. Die beiden heirateten nach Kevins Tod, und bald brachte Lisa ihre Tochter Sarah zur Welt. Vier Jahre später wurde das Paar geschieden, und Lisa heiratete erneut. Sie bekam einen zweiten Sohn namens Jason und dann, zwölf Jahre nach Kevins Tod, Patrick, durch Kaiserschnitt entbunden. Als die Hebamme ihr Patrick überreichte, habe sie instinktiv gewusst, dass er auf irgendeine Weise mit Kevin verbunden war. Dieser Gedanke sei ihr bei der Geburt der anderen Kinder nicht in den Sinn gekommen.

Nach Kevins Tod habe sie sich leer gefühlt, ständig getrieben von dem Wunsch, ihn zurückzubekommen. Mit Patrick im Arm hatte sie das Gefühl, dass ein schweres Gewicht von ihr genommen wurde, da nun die Trauer...

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