Früher war alles komplizierter
Seinerzeit kamen unsere Wettbewerber aus der Region. Heute aus China. Und neuerdings haben die dort sogar eigene Ideen und kopieren nicht nur unsere Produkte«, so die Klage eines schwäbischen Mittelständlers. Aus Schorndorf wird Shenzhen, Weltmarktführer müssen plötzlich auf dem Weltmarkt konkurrieren. Die Globalisierung wird langsam, aber sicher erwachsen und ist dabei, ihre Eltern zu fressen. Regionen, in die einst Produktionsprozesse ausgelagert wurden, konzentrieren sich auf die Herstellung eigener Produkte. Neben der Globalisierung ist die Macht der Einzelnen die zweite große Herausforderung, die Unternehmen derzeit Angst macht. Kunden schwingen sich plötzlich zu Königen auf, die in sozialen Netzwerken unerbittlich haltlose Produktversprechen entlarven. Sie sind nicht länger bereit, Servicewüsten zu durchwandern.
Seit Konsumenten an klassischen Medien vorbeikommunizieren können, funktioniert die alte Gleichung »Ware mal Werbebudget ist gleich Umsatz« nicht mehr. In der Multioptionsgesellschaft sind Alternativen immer nur einen Klick weit entfernt. Zufriedene und vor allem unzufriedene Kunden teilen über weitverbreitete SocialMedia-Kanäle ihre Meinung zu Produkten und Services unmittelbar mit den entsprechenden Firmen und der Welt. »User generated content«, also von Nutzern erstellter Inhalt, dominiert das sogenannte Web 2.0. Der mündige Käufer enttarnt Quatsch als Quatsch, und jeder kann mitlesen. Auch Firmen als Ganzes stehen permanent auf dem digitalen Prüfstand. Immer mehr Kunden erwarten von Unternehmen sowohl ökonomisch sinnvolle Dienstleistungen und Produkte als auch sozial und ökologisch nachhaltige Produktionsbedingungen. Digitalisierung trifft Globalisierung: Im Netz gibt es keine weit entfernten Länder, in denen es sich unbemerkt Menschen und Ressourcen ausbeuten lässt. Nicht nur in unserer Generation wächst das Bewusstsein für begrenztes Wachstum.
Kompliziert war die Welt schon immer, heute ist sie auch noch komplex. Komplizierte Probleme sind wie eine knifflige Rechenaufgabe: Das Problem ist bekannt und klar benannt und kann durch die richtige Aneinanderreihung der passenden Phasen ein für alle Mal gelöst werden. Durch die schrittweise Analyse der Situation und den jeweils logischen nächsten Schritt nähert man sich der angestrebten Lösung an. Der Weg zu dieser Lösung kann dennoch äußerst schwierig sein, je nach individuellen Voraussetzungen sogar nahezu unmöglich. Nur weil ein Problem theoretisch lösbar ist, bedeutet dies noch nicht, dass es auch praktisch möglich ist. Jeder, der in der Schule an Integralrechnung gescheitert ist, kann ein Lied davon singen. Die Entwicklung des 3-Liter-Autos oder die optimierte Lieferkette-Logistik sind komplizierte Probleme: Wenn Autos nur noch drei Liter Kraftstoff pro hundert gefahrene Kilometer benötigen oder Waren zuverlässig zum Saisonstart im Einzelhandel ankommen, sind die Probleme gelöst. Am Weg zu dieser Lösung beißen sich Automobilkonzerne und Modemarken dennoch seit Jahren die Zähne aus.
Während komplizierte Probleme bereits auf eine theoretische Lösung verweisen, sind komplexe Probleme eher wie stockender Verkehr: Es ist nicht nur unklar, wie das Problem zu lösen ist, sondern auch, was genau das Problem ist, wer es hat oder ob es überhaupt eines gibt. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass Ursache und Wirkung nicht klar voneinander zu trennen sind und Problem und Lösung im Auge des Betrachters liegen. Anders als bei komplizierten Problemen gibt es keinen Weg, den man abschreiten kann, um zur ins Auge gefassten Lösung zu kommen. Ziel und Weg liegen im Nebel. Fahren muss man trotzdem, und das auch noch auf kurviger Straße und ohne Navi. Komplexe Probleme sind zudem hochgradig kontextabhängig und kontingent – und können nie ein für alle Mal gelöst werden. Urbane Gentrifizierung oder die gesellschaftliche Rolle von Frauen sind zum Beispiel komplexe Probleme: Ist es gut oder schlecht, wenn neuzugezogene Kiezbewohner Blumenbeete an den Gehwegen anlegen, und sind 30 Prozent Frauenanteil in Aufsichtsräten ein Anfang oder ein Aufreger?
Viele soziale und politische Probleme sind seit jeher komplex, neu ist, dass auch Unternehmen sich mit einer Fülle an komplexen Themen konfrontiert sehen. Automobilkonzerne müssen sich plötzlich nicht nur fragen, wie sie noch effizientere Motoren entwickeln können, sondern was Mobilität im Zeitalter begrenzter Ressourcen und zunehmender Urbanisierung bei gleichzeitiger Digitalisierung bedeutet. Modemarken müssen nicht nur T-Shirts pünktlich in die Filialen liefern, sondern sich Gedanken machen, welchen Stellenwert der stationäre Einzelhandel heute überhaupt noch haben kann. Geschäftsmodelle, die über Jahrhunderte hinweg erfolgreich waren, tragen nicht mehr. Junge, nachwachsende Kunden ticken anders, und vielen Unternehmen fällt es schwer, zu verstehen, was das für sie bedeutet. Wie Digital Natives konsumieren, leben und sogar lieben, unterscheidet sich fundamental von der Lebenswelt älterer Generationen. Einen unserer Aufträge haben wir bekommen, weil der CEO eines großen Unternehmens mitbekam, wie seine jugendliche Tochter sich per Kurznachricht von ihrem Freund trennte. Der Konzernlenker merkte, dass viele Werte und Vorstellungen offenbar so sehr im Wandel begriffen waren, dass auch multinationale Firmen sich nicht auf dem ausruhen können, was sie so erfolgreich gemacht hat. Die Wirtschaft wandelt sich so rapide, dass die Betriebswirtschaft nicht hinterherkommt. Organisationen müssen sich an veränderte Bedingungen anpassen, und zwar schnell und fortlaufend.
Weil alte Ansätze nicht mehr greifen, müssen neue her – Innovation muss sein, darauf zumindest können sich alle einigen. Es regiert ein regelrechter Innovationsimperativ: Nur was neu ist, kann auch wirklich gut sein. Und was neu ist, wird immer schneller alt. Politisch sind Innovationen daher ein Konsensthema und werden durch verschiedenste Wettbewerbe, Programme, Cluster, Regionen, Netzwerke und Partnerschaften gefördert und institutionalisiert. In immer kürzeren Abständen werden zunehmend mehr Innovationen verkündet, prämiert und eingefordert. Der Begriff Innovation ist zum normativ besetzten Leitbild und Selbstzweck geworden. Wem all diese lautstark verkündeten, prämierten und eingeforderten Entwicklungen eigentlich nützen und woher sie alle kommen, bleibt dabei oft unbeantwortet. Hauptsache neu. Meistens ohne überhaupt zu definieren, was Innovation eigentlich sein soll. Trotz dieser Innovationsschwemme tun sich viele Firmen schwer damit, externen oder selbstgestellten Innovationsforderungen gerecht zu werden. Offenbar reicht es nicht länger, Innovation vom Ergebnis her zu denken. Der amerikanische Innovationsexperte Robert B. Tucker4 vergleicht die Innovationspraxis in den meisten Unternehmen mit dem Paarungsverhalten von Pandas: unregelmäßig, ungelenk und meistens ineffektiv. Organisationen droht in dieser multipolaren, vernetzten, beschleunigten Welt ein Szenario, mit dem die meisten Menschen nur sehr schlecht umgehen können: Kontrollverlust. Der globalisierte Wettbewerb und die digitalisierten Kunden kreisen Konzerne, Mittelständler und die abhängig beschäftigten Agenturen und Unternehmensberatungen immer weiter ein. Diese jedoch drehen sich oft weiter um sich selbst und versuchen, die komplexe Welt mit immer komplizierterem Management in Schach zu halten. Die unkontrollierbare Welt soll mit aller verbleibenden Macht kontrolliert werden. Was fehlt, ist Orientierung.
Design Thinking
Innovativ sein bedeutet, etwas anders zu machen. Neu zu denken, auszuprobieren, Grenzen auszuloten – schließlich will man ja raus aus der Box und über den Tellerrand. Grenzgänge jenseits der Norm sind seit jeher das Metier der Künstler und Kreativen. Es bietet sich deshalb an, zwecks Innovationsfähigkeit deren Arbeitsweisen abzuschauen und auf neue Kontexte zu übertragen. In der komplexen Welt ist Kreativität kein Luxus, sondern ein entscheidender Wettbewerbsfaktor.
Design Thinking ist wahrscheinlich nicht von ungefähr im kalifornischen Silicon Valley entstanden. Als Bezeichnung für einen bestimmten Innovationsansatz wurde der Begriff Anfang der 2000er von David Kelley5, einem der Gründer der amerikanischen Design- und Beratungsfirma Ideo, geprägt. Design Thinking ist ein etwas irreführender Begriff, denn es handelt sich nicht um einen rein kognitiven Ansatz. Durch den Zusatz »Thinking« will David Kelley deutlich machen, dass er sich auf mehr als klassisch-ästhetisches Produktdesign durch ausgebildete, professionelle Designer bezieht, und wollte einen Begriff schaffen, der sich gegen klassisches analytisches Denken (»analytical thinking«) positioniert. Dieses mehr betrifft zwei Bereiche: Design soll mehr als schöne Artefakte entwerfen, und mehr Menschen sollen wie Designer, »denken« und arbeiten. Aber wie denken Designer, und warum können mit ihrer Denkweise sinnvolle Innovationen entwickelt werden? Der Ansatz verbindet einen starken Nutzerfokus mit interdisziplinärer Teamarbeit und einem strukturierten, aber spielerischen Prozess. Über diese Elemente lassen sich komplexe Themenfelder in ganz konkrete Lösungen überführen, seien dies Produkte, Dienstleistungen oder Konzepte.
Bei vielen Unternehmen, insbesondere in Deutschland, steht die technische Weiterentwicklung im Zentrum der Innovationstätigkeit. Leider nehmen potentielle Nutzer nicht immer alles an, was die Unternehmen ihnen anbieten, sei es technisch noch so ausgefeilt. Der Kern der Innovation mittels Design Thinking besteht darin,...