Einweichen
Mit 53 Jahren
Ich sitze in einem Zug, der nicht abfährt. Wenn ich durch das Fenster auf den Bahnhof schaue, dann sehe ich, wie jeder weiß, wo er hinwill, zielbewusst, mit Gepäck, mit einem Plan und mit einer Fahrkarte an mir vorbeiläuft. Doch ich, ich sitze im Zug. In einem Zug, der sich immer noch nicht bewegt. Der immer noch kein Ziel hat. Ein paarmal bin ich ausgestiegen, um zu sehen, ob ich denn überhaupt im richtigen Zug sitze. Doch da steht eindeutig: »Fahrplan: Sabrina Fox. Zeit: jetzt.«
Dann gehe ich zurück in meinen Zug. Manchmal zähneknirschend, manchmal lachend, manchmal genervt. Aber immer ein wenig neidisch, wenn ich die anderen anschaue, die weiterhin an mir vorbeiziehen. Sie wissen, wo sie hinfahren. Sie kennen ihr Ziel. Sie sind auf dem Weg. Ich dagegen kenne mein Ziel nicht, und so betrachte ich ungeduldig die Züge, die neben mir ankommen und wieder abfahren. Nur meiner, so scheint es, bewegt sich nicht.
Ein-, zweimal bin ich in den letzten Monaten kurz ausgestiegen, und mir ging es sofort besser. Ich wusste genau, was zu tun war: irgendein Projekt nehmen, eines, das ein Ziel hat, oder einfach da weitermachen, wo ich vor ein paar Monaten aufgehört hatte. Einfach weiterhin Vorträge halten. Einfach wieder Ja zu Angeboten sagen. Doch dieser verdammte Zug will kein Ja mehr hören. Meine Seele wollte, dass er steht, und weil ich mich vor Jahren meinem inneren Wachstum verpflichtet hatte, musste ich ihn anhalten. Und da steht er nun, mit dreiundfünfzig Jahren, und bewegt sich nicht. Schieben hilft nichts, das habe ich probiert. Weglaufen bringt auch nichts, dazu weiß ich zu viel.
Ich kenne sämtliche Erklärungen auswendig. Schließlich habe ich sie oft genug gelehrt. Oft genug erklärt. Oft genug mir selbst vorgebetet. Das ist auch nicht meine erste Erfahrung darin. Aber die intensivste. Ich hatte mich bisher nicht so komplett darauf eingelassen, im Jetzt zu sein. Was aber, wenn das Jetzt mich eines Zieles beraubt? Was, wenn nie wieder eines kommt? Was, wenn ich meine Begeisterung für das Leben völlig und unwiederbringlich verloren habe? Sehnsüchte waren mein inneres Feuer, und sie sorgten dafür, dass ich mich bewegte. Die Sehnsucht, mich weiterzuentwickeln. Die Sehnsucht nach einem sinnvolleren Leben. Die Sehnsucht nach innigeren Partnerschaften. Die Sehnsucht nach einem friedlichen Miteinander. Jetzt, da das Sehnsuchtsfeuer nicht mal mehr eine Glut ist, geht sie mir ab. Ich suche nach meinen Sehnsüchten wie nach verlorenen Autoschlüsseln.
Wenn ich mich auf die Stille in meinem Zug einlasse, dann spüre ich die beiden Frauen, die mit mir reisen. Zwei Frauen, die ich erst vor ein paar Monaten in einer Meditation wahrgenommen habe. Eine ist meine Vorfahrin. Meine Ahnin. Sie zeigt sich mir nur mit ihrem Kind unter dem Arm, das sie nach vorn schleudert, weil das Kind es besser haben soll. Sie war damals, als Erste, als Ursprung meiner menschlichen DNA, aus einer Höhle gekrochen und wollte raus. Sie hat mir ihren Vorwärtsdrang vermacht. Sie ist es, die mich schubst, die keine Ruhe gibt, bis ich weitermache.
Ich bin ihr dankbar, denn ohne sie wäre ich nicht aus der Enge meines Elternhauses gekommen. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft, weiter vorauszugehen und die von mir in der Kindheit gesteckten Grenzen zu überwinden; und doch ist es auch mühsam mit ihr. Sie drängt eben nicht manchmal – nur dann, wenn es notwendig und wichtig ist –, sondern sie drängt immer. Sie will, dass ich weiter vorwärts gehe. Sie kennt keine Pausen. Sie kennt kein Innehalten. Innehalten ist für sie das Ende. Ich erspüre sie als jemanden, der nie mit dem jetzigen Moment zufrieden sein kann. Sie denkt immer an morgen. Immer an das Nächste. Weiter! Komm! Beweg dich! Ihre Forderungen kommen mit Ausrufezeichen, und in diesem Zug, der nicht abfährt, wird sie verrückt.
Gott sei Dank sitzt noch jemand anders in diesem Zug: eine alte, weise Frau. Sie sieht mir ähnlich, denn sie ist – wie meine Vorfahrin – ich.
Sie ist ich am Ende dieses Lebens. Sie hat die Erfahrungen schon gemacht, die mir noch bevorstehen. Sie hat liebste Mitmenschen verabschiedet. Manche hat sie auf dem Weg nach Hause betreut, manche sind in ihren Armen gestorben, und damit starb auch immer eine Erinnerung an sie selbst. Sie hat das Abschiednehmen gelernt, und sie hat gelernt, entspannt im Jetzt zu leben.
Sie schmunzelt, wenn sie sieht, wie ich darauf warte, dass wir abfahren. Sie hat es nicht eilig. Sie weiß, wo wir landen werden. Hier bei ihr. In dieser wunderbaren Innigkeit. Und ich weiß es auch. Und doch, ich – in meinem Jetzt – habe so meine Schwierigkeiten damit, mich auf ihre Ruhe in meinem Zug einzulassen. Sie sitzt, mit einem Bein angewinkelt, mir gegenüber.
Manchmal sitze ich auch in ihr. Dann spüre ich sie. Spüre ihre Leichtigkeit. Ihre Weisheit. Und wenn ich mich mit ihr ganz verbunden habe – wir uns ineinander auflösen, wenn Zeit und Raum nicht mehr existieren –, wenn alles in mir langsamer wird, dann empfinde ich ihre Glückseligkeit. Und dann wundere ich mich, warum ich mich denn in diesem heutigen Moment so verwirren lasse. Immerhin sitze ich in einem Zug. Es regnet nicht herein. Mir ist nicht kalt. Er ist bequem. Ich bin in Gesellschaft und fühle mich mit beiden Frauen so inniglich vertraut: der einen, die drängt, und der anderen, die entspannt lebt. Und beide gilt es zu verbinden: die Weisheit der einen mit der Kraft der anderen.
Ich habe mir eine Kette machen lassen: auf der einen Seite ein Bild von mir als Vorfahrin, auf der anderen eines als alte, weise Frau. Das trage ich um den Hals, um mich daran zu erinnern, beides zu verbinden.
Es gelingt mir nicht wirklich.
Ich war bei einem Abendessen eingeladen, und das Gespräch kam auf Auszeiten. Drei der Gäste träumten beim Nachtisch davon, wie es wohl wäre, sich einmal eine richtige Auszeit zu gönnen. »Die Leichtigkeit des Seins zu erleben«, wie einer es poetisch formulierte, »ohne Termine und ohne Druck.« Der Gesichtsausdruck aller drei schwankte zwischen Sehnsucht, Glückseligkeit und schwärmerischer Vorfreude.
Ich dagegen war mir meiner Stirnfalten bewusst. »Es hört sich … hm … leichter an, als es ist.« Die drei schauten mich an, als hätte ich ihnen den Nachtisch weggelöffelt. Ja, wie erkläre ich das? Ich hätte es damals auch nicht verstanden. Meine Vorstellungen waren deckungsgleich mit denen der anderen Gäste: So eine Auszeit wird – muss! – großartig sein.
Oft hatte ich darüber nachgedacht, wie es wohl wäre, einen leeren Kalender zu haben. Einmal im Leben wirklich im Moment leben zu können. Morgens aufzustehen und sich zu entscheiden: Wozu habe ich denn heute Lust? Würde ich in diesen glückseligen Zustand fallen, in dem angeblich Mönche sind, die in Schweige- oder Zen-Klöstern leben? Würde es mir endlich, endlich wirklich gelingen, in jeder Sekunde meines Lebens im Moment zu leben? Würde ich mich dabei für ein völlig neues Leben entscheiden? Ich will mit offenen Augen in die Welt sehen und Ja sagen können, wenn mir danach ist, und nicht: »In zwei Jahren hätte ich da zwischen dem 15. und 21. Februar noch eine Terminlücke.«
Einige meiner Freunde sehnten sich ebenfalls nach Auszeiten. Manche waren so erschöpft, dass sie einfach nur ein Jahr lang ausschlafen wollten. Einige unglücklich mit dem, was sie sich erschaffen hatten. Beides war bei mir nicht der Fall. Ich war weder knapp vorm Burn-out noch unzufrieden mit meinen Lebensumständen. Und doch spürte ich, dass meine Seele diese Pause von mir verlangte.
Eine Pause ist auch immer mit der Frage verbunden, wie ich denn weitermachen will. Will ich nur eine Auszeit oder brauche ich eine Veränderung?
Ich habe fast zwanzig Jahre lang Vorträge und Workshops über spirituelles und persönliches Wachstum gehalten und war mir nicht sicher, ob es nicht Zeit war, damit aufzuhören. Es gibt so viele neue Autoren und Autorinnen, die mit einer Begeisterung auf Reisen gehen – was vortragen auch bedeutet –, und vielleicht sollte ich Platz machen? Ich bin das, was man einen »Einzelkämpfer« nennt. Ich hatte ab und zu eine Assistentin, aber das meiste organisiere und mache ich alleine. Ich sehne mich nach einem Team. Nach einer Zugehörigkeit. Ich habe Freunde, klar, aber seit meiner Journalisten- und auch Fernsehzeit habe ich mein Büro zu Hause. Vielleicht bietet sich mir ein völlig neues Leben an, wenn ich endlich mal Platz dafür lasse? Und um Platz zu lassen, muss ich mein berufliches Leben reduzieren.
Vorträge in der Schweiz? »Wirklich sehr weit weg.«
Termine für den Herbst? »Den Herbst möchte ich mir freihalten.«
»Die nächste Zeit klappt es nicht, aber probieren Sie es doch in einem Jahr noch mal.«
Ich wollte nicht, dass es klappt.
Meine Antworten auf Anfragen waren ausweichend. Ich fand mich für Wochen unhöflich und unpräzise. Ich musste eine Entscheidung für einen komplett leeren Kalender treffen. Als mir das klar wurde, zwang ich mich, Nein zu sagen.
Nein zu allen Anfragen.
Nein zu allen Angeboten.
Nein zu meinem beruflichen Leben.
Wochenlang nein.
Bis er leer war. Wirklich leer war.
Mein letzter öffentlicher Termin war ein großer Kongress in Hamburg. Ich verabschiedete mich. War sicher, dass ich mich für eine lange Zeit – wenn nicht für immer – zurückziehe. Es wird etwas gänzlich Neues kommen. Dafür wollte ich Platz lassen.
»Weißt du da, was du tust?« Die Stimme in mir war laut und eindringlich. »Du schmeißt alles weg, was du dir in den letzten zwanzig Jahren aufgebaut...