Kapitel 2
Zaubermond
Und morgen früh küss ich dich wach:
Worte einer Dame
Wer heute auf die Karriereanfänge von Helene Fischer zurückschaut, wird ziemlich schnell feststellen, dass diese Zeit außergewöhnlich verlief.
Der übliche Gang der Dinge wäre gewesen, dass eine junge Künstlerin erst einmal auf Tingeltour zu kleinen Veranstaltungsorten geschickt worden wäre, um danach mit etwas Glück einen Plattenvertrag zu ergattern. Käme dann noch mehr Glück in Form von messbaren Verkaufserfolgen hinzu, dann würde eventuell eine weitere Tournee durch kleine, aber nicht mehr ganz so kleine Clubs organisiert. Ginge auch das gut und kämen tatsächlich zahlende Besucher, dann würden möglicherweise die Medien auf den Künstler aufmerksam, es gäbe Interviewanfragen von der Lokalpresse und dem Radio. Am Ende dieser Ereigniskette stünde unter Umständen sogar ein erster Auftritt im Fernsehen.
Nur geschah all das bei Helene Fischer in genau umgekehrter Reihenfolge. An erster Stelle stand bekanntlich der Auftritt vor einem Millionenpublikum, also das, was niemand von einer Debütantin erwarten konnte. Darauf folgten der Plattenvertrag bei einem großen Label und fast gleichzeitig die Einladung zu einer Tournee, die durch zig Städte und die größten verfügbaren Hallen führen sollte. Erst danach
begann schließlich das Tingeln durch Einkaufszentren und ähnliche Orte, um den Verkauf der ersten CD anzukurbeln.
Aber der Reihe nach. Der gewagte Versuch eines Karrierestarts mit einem ungarischen Operetten-Medley war nicht der einzige Punkt auf dem Karriereplan für Helene Fischer. Zusätzlich verhandelte man auch mit Plattenfirmen, Komponisten und Produzenten.
Auch der Komponist Jean Frankfurter kam wieder ins Spiel, der ja schon gemeinsam mit Manager Uwe Kanthak und dessen Exfrau Kristina Bach erfolgreich mit der Sängerin Michelle gearbeitet hatte.
Frankfurter war schnell überzeugt von dem neuen Talent und erklärte sich bereit, mit ihr zu arbeiten. Wenig später war dann auch eine Plattenfirma mit im Boot: EMI.
Das war nicht irgendein Plattenlabel, sondern es handelte sich zu jener Zeit um das größte der Welt. Einen Rang, den die Firma über einen Zeitraum von 50 Jahren halten konnte. Allein im Geschäftsjahr 2005/2006 machte das internationale Unternehmen EMI Music einen Umsatz von rund zwei Milliarden Euro. Im Jahr 2008 repräsentierte EMI Music
14 000 Künstler in aller Welt, EMI Music Publishing wiederum verfügte als größter Musikverlag der Welt über einen Katalog von mehr als einer Million Titeln.
Ein Unternehmen wie dieses erhält täglich unzählige Anfragen von Künstlern, die um einen Plattenvertrag betteln. Der überwiegende Teil von ihnen wird abgewiesen.
Wenn man aber doch einmal einen Vertrag mit einer vollkommen unbekannten und sehr jungen Sängerin abschloss, dann bedeutete das, dass die erfolgsverwöhnten und
erfolgsgewohnten Manager sich davon etwas versprachen. Sie
betrachteten daher auch nicht die Künstlerin allein, sondern ebenso das Team, das hinter ihr stand. In diesem Fall ein Team, das bekanntlich schon eine ganze Reihe erstaunlicher Erfolge vorweisen konnte – auch wenn einige bereits eine Weile zurücklagen und nicht immer von großer Dauer gewesen waren.
Auf jeden Fall aber bedeutete der Plattenvertrag, dass einer der wichtigsten Meilensteine in Richtung Zukunft genommen war. Nun ging es vor allem darum, dass auch das erste Produkt überzeugen musste.
Was damals im Studio von Jean Frankfurter alias Erich Ließmann entstand, das waren Titel, die fast ausnahmslos zu Helene-Fischer-Klassikern reiften. Werden diese Titel gesungen, dann glauben die Fans ihrer Helene jedes Wort und sehen beim Hören der CD das Bild der Sängerin vor sich.
Natürlich auch bei einem Lied wie Und morgen früh küss ich dich wach, mit dem vor allem männliche Zuhörer eventuell auch Wünsche und Fantasien verbinden. Schließlich ist es nicht unangenehm, sich angesprochen zu fühlen, wenn der Star Zeilen singt, in denen sie erzählt, dass sie viel Zärtlichkeit braucht, dass ihr Geliebter für sie das Wichtigste ist und dass sie ihn am nächsten Morgen wach küssen wird.
Irritierend wird die Sache jedoch, wenn das Kopfkino auf die Realität trifft. Und zwar auf jene Person, die diese Worte geschrieben hat. Dann würde der eben noch verzückt an Helene Fischers Antlitz denkende Zuhörer nämlich mit dem Bild einer mittlerweile achtzigjährigen Dame konfrontiert.
Denn mit Beginn der Arbeiten an dem ersten Album kam eine weitere Person in das Team, die den Schlager oder die neuere deutsche Musik insgesamt ähnlich prägte, wie es Jean Frankfurter seit Jahrzehnten tat. Es handelte sich um Irma Holder.
Außerhalb der Branche kennt diesen Namen kaum jemand, innerhalb der Branche allerdings ist er fast schon
legendär. Dass Irma Holder ein Pseudonym ist und die 1930
geborene gelernte Bankkauffrau als Irmgard Ederer zur Welt kam, das kann in diesem Umfeld fast schon als typisch gelten.
Weniger typisch, sondern außergewöhnlich ist die kreative Schaffenskraft der Texterin. Im Laufe ihres Lebens sollen mehr als 1000 Titel entstanden sein – und damit sind nur jene Texte gemeint, die den Weg aus der Schreibstube fanden und nicht zuvor im Papierkorb landeten.
Geschrieben hat Irma Holder für so gut wie jeden, der als deutscher Sänger oder Sängerin einen bekannten Namen trug und Erfolge feierte. Roy Black sang ihre Worte ebenso, wie es Udo Jürgens tat. Irma Holder textete für Wencke Myhre, Vicky Leandros, Michelle, Semino Rossi oder auch die Kastelruther Spatzen. Und wenn Howard Carpendale sang: »Hello Again«, dann tat er es, weil genau diese Worte und die darauf folgenden Textzeilen Irma Holder eingefallen waren. Unter allen großen Erfolgen sollte Hello Again der größte Coup der Texterin bleiben.
Dass Jean Frankfurter die damals schon über siebzigjährige Frau mit einspannte, als es um die Titel für die Erstlings-CD von Helene Fischer ging, dafür gab es einen ebenso einfachen wie wichtigen Grund: Beide arbeiteten seit vielen Jahren zusammen an immer wieder neuer Musik, sie waren ein eingespieltes Team und hatten in der langen Zeit ihre ganz persönliche Form der Zusammenarbeit entwickelt.
In der Öffentlichkeit redeten weder Jean Frankfurter noch Irma Holder gerne über ihre Arbeit. Während ihrer Zeit als Autoren für die Sängerin Stefanie Hertel gaben sie jedoch
einmal gemeinsam ein Interview für das heute nicht mehr existente Online-Portal hitfamily.de.
Darin ging es natürlich vorrangig um die Arbeit mit Stefanie Hertel, doch es gab auch Äußerungen zur persönlichen Musikeinschätzung und zu ihrer Zusammenarbeit.
Beide machten dabei unter anderem deutlich, wie wenig sie davon hielten, wenn Musik ständig neuen Modetrends unterworfen werde und Komponisten versuchten, auf den gerade Erfolg versprechenden Zug aufzuspringen.
Irma Holder sagte dazu: »Musik, die einem Modetrend angepasst ist, überlebt oft den nächsten Sommer nicht. Gute Musik und gute Lieder sind einfach zeitlos.«
Jean Frankfurter stimmte ihr uneingeschränkt zu: »Eine gute Melodie ist zeitlos. Nur die Verpackung der Arrangements ändert sich.«
Auch der immer wieder geäußerte Vorwurf, Volksmusik und Schlager seien eine Heile-Welt-Musik, kam in dem Interview zur Sprache. Hier waren Frankfurter und Holder sich
ebenfalls einig. Die Texterin wies darauf hin, dass viele der Kritiker in den Festzelten lauthals mitsängen, weil diese Musik einfach dazu verführe.
Jean Frankfurter wiederum erklärte: »Volksmusik ist in einer problembeladenen Welt wie der unseren ein Ventil zum Abschalten. Sie macht einfach gute Laune.«
Weiter ging es in dem Interview unter anderem mit dem Thema, wie in der Zusammenarbeit des Komponisten und der Texterin die endgültigen Stücke entstünden und wie denn eigentlich so ein Song »geboren« werde.
»Das Wort ›geboren‹ stimmt hier wirklich!«, antwortete Irma Holder. »Die richtige Idee zu finden, ist manchmal schlafraubend. Zuerst muss der Komponist begeistert sein, damit ihm eine Melodie dazu einfällt. Das Rohprodukt wird von Jean Frankfurter auf Band gesungen mit la, la, la und landet dann bei mir auf dem Schreibtisch. Dann wird zwischendurch mal eine Tasse Kaffee getrunken, bis mir der Text einfällt. Das Lied sollte dem Interpreten auf den Leib
geschneidert sein, muss ihm gefallen. Wenn es dann auch noch den Fans gefällt, umso besser!«
Ähnlich fasste Jean Frankfurter in dem Interview die
Herangehensweise zusammen, wenn auch aus der Sicht des Komponisten: »Irma überlegt eine Textzeile, ich schreibe eine fertige Melodie dazu, Irma schreibt dazu den Text, fertig. Ich programmiere im Studio dann die Musik und anschließend kommt Stefanie (Hertel in diesem Fall) und singt. Danach kommt der Chor drauf, dazu kommen noch Geigen, Gitarren, Bläser et cetera. Dann wird alles gemischt, und das Lied ist fertig.«
Das alles klang nach einem fast schon mechanischen Ablauf, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass beide auch eine ganz eigene künstlerische Handschrift pflegen.
Viele Schlagerfans sind nicht allein Anhänger der singenden Künstler, sondern es gibt ebenso Fangruppen, die speziell auf Werke eines bestimmten Komponisten oder Texters Wert legen. Das Arbeitsduo hat deshalb auch unabhängig vom...