Wo ist meine Heimat?
Bei aller im Leben zunehmenden Erfahrung darüber, wie viele Welten es gibt, in denen man zu Hause ist oder die einen prägen, gibt es doch so etwas Ähnliches wie eine Nabelschnur. Das Wort trifft in erster Linie auf Eltern und Familie zu, gilt aber auch für das Milieu, das einen prägt, wobei auch das einem Zeitenwandel unterworfen ist. Ein Problem meiner Generation, die den Missbrauch des Wortes „Heimat“ erleben musste, ist es, damit auf die richtige Weise umzugehen. In der Welt, in die ich hineingeboren wurde und in der ich erstmals so etwas wie ein Bewusstsein entwickelte, war die Beziehung zur Heimat Österreich sehr stark. Das war auch verständlich, denn die Familie, aus der ich komme, samt allen Ahnen mütterlicher- und väterlicherseits, fühlte sich in Österreich und Wien beheimatet. Als Konsequenz des Missbrauches des Wortes „Heimat“ in der Nazi-Zeit wurde man in der Öffentlichkeit ängstlich, es überhaupt zu verwenden. Man verkennt dabei aber, dass vor dieser schändlichen Umwertung des Begriffes Heimat damit ein ganz normales Gefühl beschrieben wurde. Eine Schwierigkeit mag auch sein, dass es in anderen Sprachen, soweit ich weiß, keine passende Übersetzung gibt. Aber alle, die entweder internationalistisch oder soziologisch denken, auch jene, die so wie ich ganz selbstverständlich sagen, dass sie Europäer sind, haben ein Gefühl der Nähe zu jenem Raum, in dem sie aufgewachsen sind und der sie durch verschiedenste Elemente geprägt hat.
„Das, was man ist, wird man durch Paris.“ (Jean-Jacques Rousseau, Confessions) Das gilt nicht nur für die französische Hauptstadt, sondern für alle unsere Orte. Ich kann mir schon vorstellen, dass im heutigen Zeitalter der Mobilität eine Vielseitigkeit entsteht, wie sie in Diplomatenfamilien üblich ist, wie sie auch bei der Wanderung durch die Wirtschaftswelt von heute entstehen kann oder aber dadurch, dass die politischen Verhältnisse einen zur Emigration gezwungen haben. Für mich muss ich bekennen: Ich bin Österreicher und Wiener – ohne das in irgendeiner Weise abzustufen. Dabei nimmt man vieles mit, was durchaus widersprüchlich ist, aber trotzdem ist es ein Nebeneinander, das jeweils prägend wirkt, aber nicht unbedingt in einen Konflikt münden muss.
Natürlich sind die Ereignisse der Geschichte durch all die Zeiten nicht spurlos an unserer Stadt und unserem Land vorübergegangen. Sie haben tiefe Narben im Antlitz Wiens, Österreichs und in den Seelen ihrer Bewohner hinterlassen. Jeder von uns trägt seine Erfahrungen und die seiner Familie sein Leben lang mit. Jörg Haider hat mir das ins Bewusstsein gerufen, als er meine aus seiner Sicht evidente tschechische Abstammung als Grund dafür nannte, dass ich für die Erweiterung der EU durch unsere Nachbarn eingetreten bin. Offensichtlich hat er damit eine „Ausbürgerung“ aus Österreich und eine Verletzung unserer Interessen durch mich gemeint.
Eine Kindheit und Jugend in Wien
Wie ist es wirklich? Vielen wird es so gehen wie mir: Meine Vorfahren sind von irgendwoher in das Zentrum des alten Reiches gekommen. Die einen, mütterlicherseits, sind schon seit mehr als zwei Jahrhunderten da, sie kamen aus dem bayrischen Raum und versuchten sich als Gewerbetreibende „am Grund“, als bürgerliche Fragner (Zimmermeister), bis sie schließlich im Baufach landeten. Sie waren allesamt gut katholisch. Bei den väterlichen Vorfahren verhielt es sich in vielerlei Hinsicht anders: Erst der Urgroßvater betrat diese Stadt, aus jenem Teil Schlesiens kommend, den Friedrich II. von Preußen Maria Theresia gelassen hatte. Der übertriebenen Neugier der Ahnenforscher des Dritten Reiches verdanke ich das Wissen, dass die Buseks eigentlich nicht so echt böhmisch sind, wie der Name klingt. Sie schrieben sich nämlich früher Buseck und kamen ursprünglich aus Hessen, aus dem Busecktal bei Gießen. Sie sind von dort unter die tolerantere Habsburgerkrone gezogen. Diese Toleranz erzeugte eigenartige Konfessionssitten: Da die Männer der Familie Busek evangelisch waren und die Frauen aus dem katholischen Österreich kamen, wurden alle Söhne nach dem Augsburger Bekenntnis getauft, die Töchter aber folgten dem Glauben der Mutter – ein pragmatisches Toleranzedikt gut österreichischer Prägung. Diese familiäre Erfahrung teile ich mit einem polnischen Politiker – Jerzy Buzek –, dessen Familie auch aus der Stadt kommt, über die meine Ahnen nach Wien gekommen sind: Teschen, heute geteilt in ?eský T?šín (Tschechische Republik) und Cieszyn (Polen). Er ist evangelisch, seine Schwestern katholisch – den gleichen Traditionen wie meine Familie folgend. Wahrscheinlich sind wir entfernt verwandt. Schreibfehler in Geburtsurkunden sind über Jahrhunderte selbstverständlich.
Erblicher Gleichklang bestand bei beiden Familienzweigen hingegen in beruflichen Fragen. Mein Urgroßonkel war Polier beim Rathausbau, der Urgroßvater baute das „Eisgrübl“-Haus hinter der Peterskirche, der Großvater stockte das Hotel Imperial auf und mein Vater schließlich hat beim Erbauer der Lueger-Kirche, Max Hegele, gelernt. Wenn alle Mitglieder der Familie zusammenkamen, gab es immer eine schreckliche Fachsimpelei über Wandstärken, Grundaushübe, Eisenarmierungen, unverständliche Flächenwidmungen und sinnlose Vorschriften der Bauordnung. Sämtliche Nachkommen der Familie haben sich ebenfalls dem Bauen verschrieben, ich betrachte mich da nicht als Ausnahme, denn schließlich wollte ich mit anderen gemeinsam an Wien weiterbauen. Zu den Baudenkmälern dieser Stadt habe ich daher eine enge Verbindung, nicht nur der Vorfahren wegen, sondern auch aufgrund der beruflichen Erfahrung meines Vaters als Leiter der Bauabteilung beim Fürsten Liechtenstein. Hier habe ich aus nächster Nähe miterlebt, was es heißt, historische Bausubstanz zu erhalten, Kriegseinwirkungen zu beseitigen und alte Mauern zu revitalisieren. Wer heute ein denkmalgeschütztes Haus hat, ist kein stolzer Besitzer und gedankenloser Nutznießer, sondern jemand, der ganz kräftig etwas dafür leisten muss, dass unsere eigene Geschichte in Zeugnissen erhalten bleibt.
Wie schwer das ist, zeigt ein Gang durch die Straßen und Gassen meiner Kindheit im neunten Wiener Gemeindebezirk, durch Liechtenthal – so wurde es früher geschrieben. Das Bild, das es heute bietet, in „aufgelockerter Bauweise“ mit viel zu hohen Gemeindebauten, ist längst nicht mehr jener Grund, der früher Anlass für Lieder und Gedichte war und ein Heimatgefühl vermittelte. Verloren steht die Pfarrkirche da, die ihr Aussehen Ferdinand Hetzendorf von Hohenberg, dem Erbauer der Gloriette, verdankt, verloren steht auch das alte Pfarrhaus da, das noch einen Hauch jenes Charakters hat, den „Liechtenthal“ bis zum Ende der Fünfzigerjahre zeigte. Es soll damit nicht jenen einstöckigen Häusern das Wort geredet werden, die nicht über die notwendigen sanitären Anlagen verfügten und in denen das Wasser in den Mauern bis zum ersten Stock stand, statt aus der Leitung zu rinnen – Revitalisierung müsste ja keine brutale Neugestaltung sein. Aber die gewachsenen sozialen Strukturen dieses Viertels sind dahin. Die Menschen, die mit mir ihre Kindheit und Jugend dort verbracht haben, sind in andere Stadtgebiete gezogen, kommen aber heute noch öfter zusammen, um sich im alten Gesellenhaus, das inzwischen von der Kolpingfamilie renoviert wurde, an dieses Liechtenthal zu erinnern. Längst steht auch das Haus „Zum blauen Einhorn“ nicht mehr, das Heimito von Doderer liebevoll in seiner „Strudlhofstiege“ beschreibt. Es hat einer Begradigung der Liechtensteinstraße weichen müssen. Offenbar zur Erinnerung ist dort eine Verkehrsampel angebracht worden, die den Verkehr jetzt genauso behindert wie früher das vorgebaute Haus. Neu muss nicht immer besser sein. Aber prägend war das alles für mich.
Ich erinnere mich an meine Kindheit: Schon als Vierjähriger wurde ich darauf trainiert, die Warnsignale aus dem Radio zu erkennen, mit denen anfliegende Bomberverbände angekündigt wurden. Wie Momentaufnahmen stehen Bombentrichter vor mir, abgestürzte Flugzeugteile hinter dem Burgtheater und schließlich der Einmarsch der Roten Armee. Die Sowjets hielten den 9. Bezirk bis August 1945 besetzt und zogen sich dann über die Friedensbrücke in den 20. Bezirk zurück. Wir waren auf der besseren Seite in Wien zu Hause, denn nach den Beschlüssen der Alliierten waren es die amerikanischen GIs, die die Kontrolle übernahmen. Zehn Jahre lang war gerade diese Brücke über den Donaukanal kein Punkt des Friedens. Zuerst waren da die Sperren, dann die USIA-Läden drüben, die Produkte von Firmen aus „deutschem Eigentum“ – jetzt in kommunistischer Hand – zu billigen Preisen marktschreierisch den Bewohnern des 9. Bezirks anboten, die in der amerikanischen Zone lebten. Es war eine eigentümliche Internationalität, in der ich damals zu Hause war. Die Amerikaner trafen mit dem Zug aus Salzburg über die Donauuferbahn am Franz-Josefs-Bahnhof ein – ich glaube, es war der „Mozart-Express“ – und überraschten die Kinder mit Kaugummi und der Tatsache, dass es auch Menschen mit dunkler Hautfarbe unter den Soldaten gab.
Schließlich kamen noch die Schweden dazu, die im Gartenpalais Liechtenstein, das später sehr lange das „Bauzentrum“ gewesen ist, den Sitz ihrer Hilfsaktion „Rädda barnen“ (Rettet das Kind) aufschlugen. Wir können uns im Zeitalter des Überflusses kaum mehr an die damalige Not erinnern. Nur Anekdoten sind mir geblieben. Als im Januar 1946 Militär-LKWs der Schweden einrollten, wollten sie uns und den Mitbewohnern des Hauses übrig gebliebenen Kakao zum Verfüttern an die Schweine geben. Es war selbstverständlich, dass wir uns selbst als Ersatz für die nicht vorhandenen Haustiere verstanden und dass dann allen übel wurde, weil unser...