Kapitel 1 – Die Regenbogenfamilie
Wenn sich mindestens ein Elternteil nach außen als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgender definiert und sich in irgendeiner Form der LGBT2-Community zugehörig fühlt, dann wird in der lesbisch-schwulen Szene häufig von einer Regenbogenfamilie gesprochen. Zwar ist dieser Begriff nach wie vor eher eine szeneinterne Bezeichnung, doch mittlerweile ist die „Regenbogenfamilie“ im Duden zu finden – ein großer Schritt in Richtung Mainstream-Sprache.
Der amerikanische Künstler Gilbert Baker entwarf 1978 die Regenbogenfahne. Seither ist sie ein weltweit etabliertes Symbol für lesbischen und schwulen Stolz. Die verschiedenen Farben stehen für die Vielfalt der Community. Rot steht für das Leben, orange für die Gesundheit, gelb für das Sonnenlicht, grün für die Natur, blau für die Harmonie und violett für den Geist.
Regenbogenfamilien in Deutschland
In Deutschland gibt es drei bis vier Millionen Lesben und Schwule (bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von etwa 5%), etwa die Hälfte davon lebt in festen Beziehungen. In jeder achten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft wachsen Kinder auf.3 Danach müssten hier mindestens 50.000 bis 100.000 lesbische bzw. schwule Familien mit einem oder mehreren Kindern unter 18 Jahren leben. Mehrheitlich handelt es sich dabei um Familien mit lesbischen Müttern. Tatsächlich ist meist von viel weniger Kindern die Rede, die lesbisch-schwule Eltern haben. Dies liegt zum einen daran, dass es unklar ist, wie viele Frauen und Männer tatsächlich lesbisch bzw. schwul leben und sich selbst auch als lesbisch oder schwul bezeichnen. Bei Volkszählungen werden die wenigsten ihre Lebensform angeben, haben doch viele noch eine Erinnerung daran, dass es einst lebensgefährlich war, die sexuelle Identität preiszugeben. Zum anderen gibt es bisher erst eine einzige repräsentative Studie in Deutschland, die sich mit Kindern aus gleichgeschlechtlichen Familien befasst hat.4 (Siehe Kapitel 14) Diese Studie spricht von etwa 2200 Kindern, die in Eingetragenen Lebenspartnerschaften leben – die einzige Zahl, die wirklich zuverlässig ist und gleichzeitig irreführend, denn die Vielfalt der Regenbogenfamilien kann dadurch nicht abgebildet werden. Viele lesbische Mütter haben ihre Partnerschaften nicht eintragen lassen. Manche sind allein erziehend, einige noch mit dem Vater der Kinder verheiratet, andere warten auf die steuerliche Gleichbehandlung, wieder andere haben schon immer die Ehe abgelehnt, und so sind eine Menge lesbischer Mütter offiziell allein erziehend, fallen also wiederum aus diesen Statistiken heraus.
Bei schwulen Vätern ist die Situation gleichermaßen vielfältig. Kinder von schwulen Vätern bleiben nach dem Ende einer heterosexuellen Beziehung mehrheitlich bei ihren Müttern. In schwulen Eingetragenen Lebenspartnerschaften leben selten minderjährige Kinder, allein erziehende schwule Väter bleiben häufig unsichtbar – all diese Familienkonstellationen sind in keiner Statistik zu finden. Die tatsächliche Zahl von Kindern, die bei lesbischen Müttern oder schwulen Vätern aufwachsen, lässt sich aus diesem Grund nicht benennen – viele Tausende sind es in jedem Fall.
Regenbogenfamilien hat es schon immer gegeben. Die Kinder stammen allerdings nach wie vor mehrheitlich aus heterosexuellen Beziehungen. Das Phänomen der geplanten lesbischen bzw. schwulen Elternschaft ist dagegen noch relativ jung. Vor etwa 25 Jahren begannen Lesben u.a. in den USA, ihren Kinderwunsch auch nach ihrem Coming-out zu realisieren, und seit ungefähr zehn Jahren kann analog dazu in Deutschland von einem homosexuellen Babyboom gesprochen werden. In geringerer Zahl trifft diese Entwicklung auch auf Schwule zu. Sicher haben die Einführung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft und die Möglichkeit der Stiefkindadoption dazu beigetragen, dass sich lesbische (und schwule) Paare vermehrt mit Familienplanung beschäftigen. Die größere gesellschaftliche Akzeptanz und das gestiegene Selbstbewusstsein führen bei vielen Lesben und Schwulen dazu, ihren Lebensentwurf zu erweitern und Kinder als Möglichkeit dazu zu denken, wenn sie ihre Zukunft skizzieren. In einer bereits 1998 durchgeführten Umfrage unter Lesben und Schwulen in Nordrhein-Westfalen5 gaben etwa 40% der Lesben an, dass sie gerne mit Kindern zusammenleben möchten. Bei den Schwulen waren es immerhin ca. 30%.
Regenbogenfamilien unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von heterosexuellen Familien. Dabei sind der Vielfalt der Familienmodelle keine Grenzen gesetzt. Da gibt es die Viererkonstellation, in der ein lesbisches und ein schwules Paar miteinander Kinder haben und Elternschaft zu viert leben (auch Queerfamily6 genannt), die lesbische Kleinfamilie mit zwei Müttern, der schwule Mann und die lesbische Frau, die gemeinsame Elternschaft leben, aber ihre Liebesbeziehungen außerhalb ihrer Familie haben, die allein erziehende Lesbe, die das Projekt Familie ohne Partnerin geplant hat, der Schwule, der über Leihmutterschaft im Ausland seinen Kinderwunsch realisiert usw. All diesen Familien ist gemeinsam, dass sie abseits der heterosexuellen Norm ein Nischendasein führen und dass sie sich sehr häufig erklären müssen. So steht deshalb ein regelmäßiges Coming-out auf der Tagesordnung.
Stärken, Herausforderungen, Vorbilder
Abseits der Norm zu leben bedeutet allerdings auch einen Zugewinn an Freiheit. Wie eine Familie ihren Alltag lebt und in welcher Form sie die anfallenden Aufgaben bewältigt, kann in einer Regenbogenfamilie demokratisch und partnerschaftlich ausgehandelt werden, weil das biologische Geschlecht nicht bereits Festlegungen impliziert. Kann, muss aber nicht. Natürlich gibt es auch Regenbogenfamilien mit Hausfrau, Ernährerin, zwei Kindern, Hund und Häuschen am Stadtrand. Dennoch haben Studien aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum ergeben, dass die Bereiche Gelderwerb, Kinderbetreuung und -erziehung sowie Hausarbeit bei lesbischen Familien gerechter aufgeteilt werden als in vergleichbaren heterosexuellen Familienkonstellationen.7
Kinder suchen sich ihre Familien nicht aus. Sie haben strenge Eltern, junge oder nicht mehr junge; ihre Eltern haben Freude am Leben oder sie haben viele Probleme, sie sind allein erziehend oder nicht, manche sind wohlhabend, andere müssen jeden Cent zweimal umdrehen. Und in all diesen unterschiedlichen Familien wachsen Kinder auf, die lesbische oder schwule Eltern haben.
Steht am Anfang einer Regenbogenfamilie eine Trennung, dann beginnt für alle Beteiligten eine Zeit des Umbruchs. Hat sich eine Mutter vom Vater ihrer Kinder getrennt, um in Zukunft mit Frauen zu leben, bedeutet dieser Schritt doch viel mehr als ein Abschied von einem einst geliebten Menschen. Das heterosexuelle akzeptierte Leben zu verlassen und damit vielleicht einen gesellschaftlichen Abstieg in Kauf zu nehmen, kann Unsicherheit, Wut und Trauer mit sich bringen. Kinder brauchen ihre eigene Zeit, mit dieser Veränderung klarzukommen. Sind sie noch klein, wird dieser Prozess kürzer dauern als bei älteren Kindern oder Jugendlichen, die Angst haben, von ihren FreundInnen plötzlich nicht mehr akzeptiert zu werden, wenn ihre Mutter lesbisch lebt.
Werden Kinder in einen lesbischen oder schwulen Kosmos hineingeboren, dann kennen sie erst einmal nichts anderes; es ist normal und selbstverständlich. Erst die Konfrontation mit der Umwelt und die damit verbundene Erkenntnis, dass nicht alle Kinder zwei Mamas oder einen schwulen Vater haben, führt bei Kindern möglicherweise zu einem Gefühl des „Andersseins“. Bis zu diesem Zeitpunkt haben diese Kinder allerdings viele Möglichkeiten, eine Vielfalt an Lebens- und Familienformen kennenzulernen – und plötzlich sind beim genaueren Hinsehen ganz viele Kinder „anders“, denn Lars ist ein adoptiertes Kind, Helene wächst bei ihren Großeltern auf und Luisa ist schwarz – in einem weißen Umfeld.
Für viele Menschen ist das Phänomen „Regenbogenfamilie“ neu. Lesbisch-schwule Lebensentwürfe stehen anderen Lebensentwürfen noch nicht gleichberechtigt gegenüber. Nach wie vor vermitteln viele Eltern ihren Kindern, dass „lesbisch“ und „schwul“ etwas Negatives ist. Für die meisten toleranten Menschen hört die Toleranz auf, wenn es das eigene Kind betrifft – andere dürfen schon schwul oder lesbisch sein, aber doch bitte nicht mein Kind. Kinder spüren sehr schnell, welche Begriffe negativ konnotiert sind. Und mit welchen Schimpfworten sie auf dem Schulhof punkten können. „Schwule Sau“ ist dort immer noch sehr präsent. Lesbisch-schwule Eltern haben deshalb verstärkt die Aufgabe, ihren Kindern den Rücken zu stärken, denn homophobe Hänseleien kommen vor. Der beste Schutz ist ein starkes Selbstwertgefühl und das Stolzsein auf die eigene Familie. Diese Kombination macht Kinder stark, um sich gegen Homophobie zur Wehr zu setzen.
Regenbogenfamilien haben keine Vorbilder, an denen sie sich orientieren oder von denen sie sich abgrenzen können. Sie müssen sich ihr Familienmodell selbst „zusammenbasteln“. Dies bedeutet einerseits ein enormes Maß an Freiheit, denn diese Familie muss sich sowieso jenseits tradierter Rollenvorstellungen definieren und hat dabei vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Andererseits erfordert es viel Energie, das Projekt Familie von Grund auf zu verhandeln.
Wünschen sich Lesben oder Schwule ein Kind, stehen gleich zu Beginn viele Fragen im Raum. Einige Beispiele: Geht es um leibliche Elternschaft oder kann ein Pflege- oder Adoptivkind eine Möglichkeit sein? Lesbische Paare müssen entscheiden, welche von den beiden Frauen das Kind austragen soll. Wie soll die Rolle der...