3 Auditive Verarbeitungsstörungen
3.1 Definition
Auditive Verarbeitungsstörungen
Auditive Verarbeitungsstörungen (AVS) sind Störungen in der Verarbeitung auditiver Stimuli bei intaktem peripherem Hören. Dabei liegen audiologisch messbare Störungen auf der die akustischen Stimuli vorverarbeitenden Ebene der zentralen Hörbahn vor. Von einer AVS sollte nur dann gesprochen werden, wenn es sich um eine Störung handelt, die sich in mindestens 2 auditiven Teilfunktionen mit spezifischen standardisierten Testverfahren nachweisen lässt.
Der Begriff der auditiven Verarbeitungsstörung bezeichnet kein einheitliches Störungsbild, sondern eine heterogene Gruppe spezifischer auditiver Störungen, die sich in den unterschiedlichsten Teilfunktionsstörungen zeigen können ? [58]. Liegt nur in einer auditiven Teilfunktion eine Störung vor, sollte diese bezogen auf die jeweils betroffene Teilfunktion, z. B. als Selektions- oder Diskriminationsstörung, benannt werden.
Aufmerksamkeits- oder Merkfähigkeitsstörungen sind nicht als auditive Teilfunktionen zu betrachten, sondern stellen Einflussfaktoren dar, die sich auf die auditive Verarbeitung und die Klassifikation akustischer Stimuli auswirken können. Ebenso ist die Ebene der Klassifikation von der Ebene der auditiven Verarbeitung zu trennen ? [42]. Die American Speech-Language-Hearing Association ? [10] zählt die auditive Aufmerksamkeit, das auditives Gedächtnis, die phonologische Bewusstheit, die auditive Synthese sowie das Verstehen und Interpretieren auditiver Information ausdrücklich nicht zur auditiven Verarbeitung ? [266], ? [42]. Laut ASHA umfasst die auditive Verarbeitung folgende Prozesse ? [10], ? [42], ? [266]:
auditive Lokalisation und Lateralisation
auditive Diskrimination
auditive Mustererkennung
temporale Aspekte, einschließlich Zeitauflösung, Diskrimination, Integration, Maskierung, Sequenzierung
auditive Leistung bei konkurrierenden (Sprach-)Signalen, inkl. dichotischem Hören
auditive Leistung bei beeinträchtigter akustischer Signalqualität
Ähnlich wird die AVS auch von der British Society of Audiology ? [46] und der American Academy of Audiology ? [1] beschrieben.
In der deutschen S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie ? [76] zu auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen werden diese wie folgt definiert:
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen
„Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS) sind Störungen zentraler Prozesse des Hörens, die u. a. die vorbewusste und bewusste Analyse, Differenzierung und Identifikation von Zeit-, Frequenz- und Intensitätsveränderungen akustischer oder auditiv-sprachlicher Signale sowie Prozesse der binauralen Interaktion (z. B. zur Geräuschlokalisation, Lateralisation, Störgeräuschbefreiung und Summation) und der dichotischen Verarbeitung ermöglichen“ (? [76]: 6).
Laut DGPP stellt „die auditive Wahrnehmung (…) die zu höheren Zentren hin zunehmend bewusste Analyse auditiver Informationen dar.“ (? [76]: 6) Damit wird die Definition der ASHA erweitert. Allerdings ergänzt auch die DGPP ihre Definition in Bezug auf Aufmerksamkeits-, Merkfähigkeits- und kognitive Störungen: „Kann die gestörte Wahrnehmung akustischer Signale besser durch andere Störungen, wie z. B. Aufmerksamkeitsstörungen, allgemeine kognitive Defizite, modalitätsübergreifende mnestische Störungen o. Ä. beschrieben werden, sollte der Begriff auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung nicht verwendet werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn durch normierte und standardisierte psychoakustische Tests eine Störung nicht nachgewiesen werden kann. Für das Vorliegen einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung spricht, wenn sich durch normierte und standardisierte psychoakustische Tests Einschränkungen der auditiven Verarbeitung und Wahrnehmung nicht-sprachgebundener Signale oder sprachlicher Signale (i. S. von akustischen Signalen mit linguistischem Load) nachweisen lassen“ (? [76]: 6–7).
Die Annahme einer totalen Modalitätsspezifität, also der Vorstellung, dass z. B. auditive und visuelle Merkfähigkeit voneinander völlig getrennte Funktionen sind, wird infrage gestellt ? [167]. Nach ? [167] stellt die Multimodalität ein grundlegendes Merkmal neuraler Kodierung und Aktivität dar. Es ist somit eher anzunehmen, dass bei Störungen der Speicherung und Sequenz ein übergeordnetes Merkfähigkeitsdefizit besteht und die Funktion der Merkfähigkeit nicht als Teilfunktion der auditiven Verarbeitung zu sehen ist.
3.2 Ätiologie
Die möglichen Ursachen für auditive Verarbeitungsstörungen sind in medizinische Faktoren und Umwelteinflüsse unterteilt:
3.2.1 Medizinische Faktoren
Es werden folgende medizinischen Faktoren diskutiert:
Bezüglich des Faktors frühkindlicher Hirnschädigungen stellt die American Academy of Audiology ? [1] fest, dass in der Regel keine Läsionen nachgewiesen werden können. Zudem führt sie auch degenerative Erkrankungen oder neurotoxische Substanzen als mögliche weitere Ursachen auditiver Verarbeitungsstörungen auf.
Der Faktor der chronischen Mittelohrentzündungen wurde in verschiedenen Studien genauer untersucht. Hoffman-Lawless et al. konnten feststellen, dass die Effektivität der Behandlung von Mittelohrentzündungen einen signifikanten Einfluss auf die Ausbildung von auditiven Verarbeitungsstörungen aufwies ? [133]. Auch andere Autoren sehen chronische Mittelohrentzündungen im Kleinkindalter als Ursache von Defiziten in der Sprachkompetenz ? [283], ? [350]. Demgegenüber halten andere Autoren ? [325] den Einfluss von Schallleitungsschwerhörigkeiten für weniger relevant. Von ? [324] führt die Ergebnisse von Längsschnittstudien an ? [69], ? [277], in denen Kinder mit und ohne wiederkehrende Mittelohrentzündungen beobachtet wurden. Die betroffenen Kinder zeigten keine oder nur leichte Defizite der auditiven Verarbeitung. Insofern erscheint es ratsam, dem Einflussfaktor der Mittelohrentzündungen keine zu große Bedeutung zuzumessen.
3.2.2 Umwelteinflüsse
Hinsichtlich der Umwelteinflüsse geht ? [358] von einem fehlerhaften Lernangebot in der frühkindlichen Entwicklung aus, wodurch es zu einer verminderten Vernetzung des Zentralnervensystems kommt. Im Gegensatz dazu wäre auch eine Überforderung durch ein Überangebot akustischer Reize im frühen Kindesalter denkbar.
In der Praxis ist die Beurteilung der Ätiologie von auditiven Verarbeitungsstörungen schwierig, sodass man im Wesentlichen auf Vermutungen angewiesen ist. Dabei ist es relativ einfach, z. B. milieubedingte Faktoren zu erkennen und ggf. zu verändern. Der Nachweis von Hirnreifungsstörungen ist allerdings oft nicht zu erbringen. Chermak und Musiek vertreten die Annahme, dass 65–70 % aller Kinder mit diagnostizierter AVS eine entwicklungsneurologische Störung aufweisen könnten, die durch fehlende diagnostische Möglichkeiten nicht nachweisbar ist ? [55].
Kiese-Himmel stellt dar, dass es bislang nicht gelungen ist, einen ätiologischen Faktor zu identifizieren, der eindeutig einer AVS zuzuordnen wäre: „In der Studie von ? [71] mit 32 AVWS-Kindern und 57 Non-AVWS-Kindern konnte kein ätiologischer Faktor die beiden Gruppen trennen“ (? [167]: 33).
3.3 Auftretenshäufigkeit
Zur Auftretenshäufigkeit von AVS geben ?...