Wir Manager waren erfolgreich: In den letzten Jahren haben wir Unternehmen in Paradiese verwandelt. Wir bieten bestens ausgebildeten Mitarbeitern spannende Aufgaben und bescheren den Shareholdern Gewinne in nie gekanntem Ausmaß. Wir können uns kostspielige Projekte leisten, weil wir die Firmen finanziell robust gemacht haben. Mit den Arbeitnehmervertretern haben wir flexible Arbeitszeiten ausgehandelt und setzen auf die Vertrauensarbeitszeit. Wir zahlen die Getränke, das Kantinenessen ist günstig bis gratis und ausgezeichnet. Weil wir moderne Manager sind, sitzen wir bei unseren Teams im Büro oder treffen sie in angenehmen Meetingräumen. Unseren Mitarbeitern haben wir so viel Verantwortung übertragen, wie wir es gerade noch aushalten, und die Prozesse haben wir so vereinfacht, standardisiert und automatisiert, dass jeder Einzelne genau weiß, was er zu tun hat. Unsere Mitarbeiter müssen nicht mehr unbedingt anwesend sein ‒ sie können von zu Hause aus arbeiten. Das System liefert trotzdem.
Wir arbeiten hart daran, uns überflüssig zu machen, und werden zum Dank mit Preisen für Mitarbeiterzufriedenheit ausgezeichnet. Die engen Kaffeeküchen sind großzügigen Lounges in lichtdurchfluteten Gebäuden gewichen. Wir zahlen uns und den Mitarbeitern großzügige Gehälter, Studienabsolventen verdienen mindestens doppelt so viel wie examinierte Krankenschwestern und können in wenigen Jahren leicht das Vier- bis Fünffache erzielen. Wir haben umgesetzt, was Peter Drucker und Fredmund Malik gefordert haben: Manager sind die gestaltende Kraft im Unternehmen und damit auch in der Gesellschaft. Manager lernen das Managen in MBA-Studiengängen. Es ist eine Profession geworden und unsere Arbeit unterscheidet uns völlig von dem, was die Mitarbeiter tun.
In dieser schönen neuen Arbeitswelt dürfte es eigentlich keinen Grund für Scrum, Lean Management oder Kanban geben. Alles ist geregelt, der Mitarbeiter wird gefördert, es gibt für Wissensarbeiter die besten Arbeitsbedingungen, die man sich vorstellen kann, und die Unternehmen sind hochprofitabel. Wieso rufen dann aber die mittleren Manager genau dieser Firmen bei uns an? Wollen sie einfach nur noch mehr Geld verdienen und noch erfolgreicher sein ‒ noch mehr Karriere machen?
Nein, sie wissen einfach nicht weiter. Sie befinden sich im Ausnahmezustand. Ihre Organisationen sind zwar hochprofitabel, aber sie zehren von dem, was sie einmal erreicht haben. Ein Bereichsleiter sagte zum Beispiel: „Wir sind mit unserem Produkt zwar noch Marktführer, aber der Abstand zum Wettbewerb wird seit zehn Jahren geringer und geringer. Seit zehn Jahren gibt es keine nennenswerte Innovation in unserem Produkt.“
Die mittleren Manager, die uns um Hilfe bitten, sagen unisono:
Wir liefern nicht schnell genug.
Die Mitarbeiter sind nicht motiviert.
Wir kennen den Status der Projekte nicht.
Die Qualität des Gelieferten reicht nicht.
Die Zahl der Krankenstände ist extrem hoch.
Wenn es wirklich darauf ankommt, sind Mitarbeiter nicht mehr bereit, abends länger zu bleiben.
Sieht ganz so aus, als wären wir am Ende unseres Managementlateins. Trotz all der Erfolge und Errungenschaften stellt sich die alte neue Frage: „Wie gelingt Führung heute?“
Selbstorganisation braucht Führung
Die Manager, mit denen ich heute rede, spüren instinktiv: Etwas stimmt nicht. Ihre Unternehmen verdienen besser als je zuvor, das System ist also optimiert und funktioniert. Und doch knirscht es irgendwo.
Die meisten Unternehmen haben sich verselbstständigt, sie sind zu Maschinen geworden und liefern ‒ aber immer das Gleiche. Interne Prozesse werden nicht schlanker, sondern bürokratischer. Gleichzeitig verändert sich draußen der Markt. Für alle wird es spürbar anspruchsvoller: Die Kunden wollen immer schneller das Neueste und der Wettbewerbsdruck steigt. Das, was gerade noch genügte, um Kunden zufriedenzustellen, reicht bei weitem nicht mehr oder wird bald nicht mehr reichen. Dieses Gefühl kriecht wie ein Nebel unter die Haut und man versucht, sich warm anzuziehen. Die Furcht wächst, nicht mehr mithalten zu können. Und tatsächlich, einige Top-Manager beginnen, den internen Druck zu erhöhen, weil sie nach draußen schauen und bemerken: Da dreht sich was. Die Folge ist der neue und gleichzeitig alte Anspruch: Projekte sollen schneller fertig werden, schließlich besteht der Markt darauf. Das Thema heißt Beschleunigung.
Neben dem äußeren Druck lässt sich auch in den Unternehmen selbst ein Phänomen beobachten: Die Verantwortung, die an die Mitarbeiter delegiert wurde (Ken Blanchards berühmter Affe, den der Manager dem Mitarbeiter auf die Schulter gesetzt hat), wird immer wieder auf die Schultern des Managers zurückgesetzt (vgl. Blanchard, Oncken, Burrows 2002). Obwohl Manager nach den vielen einschlägigen Seminaren zu gläubigen Win-Win-Strategen geworden sind und das gebetsmühlenartig geforderte kollaborative Arbeiten gerne umsetzen würden, erleben sie, dass ihre Mitarbeiter diese Verantwortung gar nicht wollen. Am Ende soll doch wieder der Manager entscheiden, was und wie es gemacht wird. Dabei hieß es doch: Macht Betroffene zu Beteiligten, um ihr Potenzial richtig zu nutzen! Deshalb lassen Manager ihre Mitarbeiter doch ganz bewusst alleine und erwarten lediglich, dass sie ihre Arbeit tun. Doch das Resultat ist das Gegenteil von dem, was die Manager erwarten. Die Kollegen rufen nicht begeistert „Hier!“ und machen mit, sondern verabschieden sich mit Burn-out in die Auszeit.
Vielleicht fragen Sie sich das auch: Woran liegt es, dass Projekte einfach nicht fertig werden? Und das, obwohl Teams großzügig planen, obwohl auf die geschätzten Aufwände noch einmal ein stattlicher Puffer aufgeschlagen wird und obwohl man sich an alle Prozesse und Vorschriften hält. Immer wieder wird verschoben, ständig muss der Scope reduziert werden und gleichzeitig hat man nicht das Gefühl, dass sich die Mitarbeiter so richtig ins Zeug legen. Und so sitzt vielen Managern die Angst im Nacken, weil sie sehen, dass ihre Teams nicht auf voller Leistung laufen. Die Erwartungen, die an sie und ihre Teams gestellt werden, werden nicht mehr erfüllt und immer länger werden die Meetings, in denen sie sich dafür rechtfertigen müssen. Wir kennen viele Unternehmen, in denen die Verantwortlichen aus Marketing oder Sales lieber mit externen Firmen arbeiten, als mit ihren eigenen Produktentwicklungsabteilungen. Nach dem Grund gefragt, heißt es dann oft: „Die liefern ja sowieso nie!“ Leider haben sie damit oft recht. Das Vertrauen in die eigene Mannschaft sinkt. Es ist nicht die Angst vor dem Jobverlust, die Manager mürbe macht. Nein, der ständige Rechtfertigungszwang belastet das Gewissen. Warum sind Mitarbeiter nicht motiviert, sondern demotiviert und warum lehnen sie Verantwortung ab, statt sie zu übernehmen?
Sogar in meinem eigenen Unternehmen, in dem jeder selbst darüber entscheiden darf, was, wie viel und wie lange er arbeitet, gingen einige Mitarbeiter zum Arzt, weil sie sich überfordert fühlten. Die Freiheit, die diese Menschen bekommen hatten, trieb sie zur Verzweiflung. Sie konnten mit der Freiheit nicht umgehen. Es ging so weit, dass mir im zweiten Jahr des Bestehens meines Unternehmens sehr deutlich gesagt wurde: „Du musst uns noch mehr anerkennen.“ Ich war vor den Kopf gestoßen. Weil ich meine Mannschaft so toll fand, war ich mit ihr eine Woche nach Mallorca gefahren. Dort wollte ich meinen Leuten die Chance geben, die Zeit so zu gestalten, wie sie es für richtig hielten. Sie sollten in ungezwungener Atmosphäre die Firma zum optimalen Arbeitsplatz für alle formen. Stattdessen hagelten Vorwürfe auf mich ein, auf die ich mir einfach keinen Reim machen konnte. Wenn es auch nicht die höchsten in der Branche waren, zahlte ich doch ziemlich gute Gehälter, bildete alle in Scrum aus und sagte ihnen ständig, dass sie einfach toll seien. Wie sollte ich denn noch mehr zeigen, dass ich die Leistung meines Teams anerkannte? Warum reichte das nicht? Hatte nicht ich auch einen Deal mit ihnen? Ich kam meinen Verpflichtungen nach und eröffnete die Chance auf Mitbestimmung. Ich war kein despotischer, ungerechter Chef und hatte ich denn nicht auch eine Gegenleistung in Form von Mitmachen verdient? Also das ständige Bestreben meiner Mitarbeiter, besser zu werden. Wieso braucht es denn noch mehr: Anerkennung, Lob, Zuwendung und Bequemlichkeit?
Was hatte ich falsch gemacht? Ich hatte doch daran geglaubt, dass in einem einladenden Umfeld Kreativität und Leistung von selbst entstehen. Die Antwort war: Ich glaubte zu sehr an die Kraft der Selbstorganisation. Ich wusste nicht, dass Selbstorganisation ohne Führung zum Scheitern verurteilt ist.
1.1 | Die Dimensionen des Dilemmas |
Dieses Paradoxon trieb mich um. Ich fiel im Sturzflug ins Tal der Tränen. Heute, nachdem ich aus diesem Tal wieder herausgeklettert bin, stehe ich auf dem nächsten Berg, blicke in andere Unternehmen und sehe diese Paradoxie fast überall. Sie lässt Manager ohnmächtig mit ihren Teams allein. Was ist es für ein Sand, der ins Getriebe geraten ist? Wieso funktionieren die in die Freiheit der Selbstorganisation entlassenen Teams nicht?
1.1.1 | Die erste Dimension: die Effizienzfalle |
Meine einfache Antwort: Wir haben das System zu Ende optimiert. Die genannten Probleme erscheinen in einem vollkommen anderen Licht, wenn wir die Verhältnismäßigkeiten, die Strukturen und Arbeitsbedingungen genauer betrachten.
In vielen Großunternehmen müssen die Mitarbeiter Höchstleistungen liefern. Mit weniger Personal als...