Gemeinsam wachsen
Warum Pubertät die ganze Familie bewegt
»Seit zwei Monaten läuft hier zu Hause gar nichts mehr. Julian kommt schlecht gelaunt nach Hause, schmeißt seinen Rucksack in die Ecke und zieht sich in sein Zimmer zurück. Es herrscht ständig miese Stimmung. Auch in der Schule ist er nicht mehr so gut wie früher. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Warum benimmt er sich plötzlich so komisch?« (Mutter des 12-jährigen Julian)
Huch! Was ist denn da los? Ist das Kind plötzlich mutiert? Hat es etwas Schlimmes erlebt? Oder haben die Eltern gar etwas falsch gemacht?
Nein, natürlich nicht. Diese als plötzlich erlebte Veränderung findet eigentlich auch nicht wirklich plötzlich statt, schließlich arbeitet der Körper schon länger im Vorfeld an der Vorbereitung zur Geschlechtsreife, und wer sein Kind genau beobachtet hat, konnte das auch bereits sehen.
Trotzdem kommt das veränderte Verhalten dann manchmal überraschend. War das Kind bislang eher »pflegeleicht«, fällt es naturgemäß umso deutlicher auf, wenn es sich auf einmal »frech« oder widerwillig zeigt. Außerdem tritt die Pubertät erwiesenermaßen immer früher ein, und Eltern rechnen noch gar nicht so richtig damit.
So ähnlich wir Julians Mutter geht es vielen Eltern mit Kindern in der pubertären Frühphase. Familien suchen nicht ohne Grund besonders häufig Hilfe in Beratung, wenn ihr Kind zwischen 10 und 12 Jahre alt ist. Manche dieser jungen Teenager haben (oder machen?) Probleme in der Schule, entweder weil sie nicht die erforderlichen Leistungen erbringen oder weil sie den Schulablauf stören. Oft aber gibt es auch zu Hause Stress. »Sie benimmt sich nicht!«, heißt es dann, oder auch: »Er gehorcht nicht mehr.« Jungen in diesem Alter werden oft als »aggressiv« oder »verschlossen« beschrieben. Mütter fühlen sich von ihren als widerspenstig erlebten Kindern abgelehnt und sind traurig darüber. Am liebsten wäre es ihnen, wenn das Kind einfach wieder »so lieb« wie früher werden würde, dann wäre alles wieder gut.
Väter fühlen sich oft in ihrer Autorität untergraben und ärgern sich über das »rebellische« Verhalten des Sohnes oder der Tochter. Sie sind dann oft der Meinung, dem Kind müsse nur der Kopf zurechtgerückt werden, und schon wären alle Probleme gelöst.
Leider funktioniert das so nicht. Oder eher: glücklicherweise. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen und die Kinder wollen wachsen. Je mehr die Eltern an der schönen, (vermeintlich?) harmonischen Kinderzeit innerlich festhalten oder diese glorifizieren, desto schwieriger wird es für die Teenager, ihre anstehenden Entwicklungsschritte zu gehen. Durch das Festhalten an alten Vorstellungen davon, wie das Kind zu sein hat, machen sich auch Eltern das Leben schwer. Eltern müssen jetzt umdenken. Eltern, die das Reifen ihrer Kinder prinzipiell mit Freude und Offenheit begleiten, werden der Pubertät mehr Positives abgewinnen können als Eltern, die sich insgeheim das Kleinkindalter zurücksehnen, weil die Kinder da noch »niedlich« und »pflegeleicht« waren.
Plötzlich Chaos? Pubertät und Familiendynamik
Ein Teenager braucht Raum und Zeit, um die oben beschriebenen Entwicklungsschritte in seinem eigenen Tempo machen zu können. Manche reifen gemächlich, andere plötzlich oder schubweise. Einige durchleben diesen Reifungsprozess ruhig und unaufgeregt, andere hingegen lassen es ordentlich krachen.
Doch so unterschiedlich Jugendliche auch pubertieren mögen, ihre individuellen Veränderungen ziehen zwangsläufig Veränderungen im gesamten Familiensystem nach sich. Und diese Veränderungen im System wirken sich wiederum auf die Jugendlichen aus. Die Familie ist nun wie ein heftig in Schwingung geratenes Mobilé, das seine (vorläufige) Balance wiederfinden muss. Solche systemischen Umstrukturierungsprozesse sind für alle Beteiligten eine Herausforderung, die nur dann gelingen kann, wenn alle ihren Beitrag dazu leisten. Blockiert ein Familienmitglied beispielsweise diesen Prozess hartnäckig, kann das zu Konflikten und Spannungen führen.
Eine gesunde Familie zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass die einzelnen Mitglieder zwar emotional miteinander verbunden sind, für jedes aber auch ein gewisser Entwicklungsspielraum zur Verfügung steht. Wenn eine Familie hingegen zu starr an alten Mustern festhält und ein Familienmitglied so an einer Entwicklung gehindert wird, wird sie auf die Dauer dysfunktional. Das kann zu Dauerkonflikten und Eskalationen führen. Die Betroffenen werden unglücklich, »verhaltensauffällig« oder sogar krank.
In manchen Familien werden Jugendliche leider auch zu Sündenböcken deklariert, wenn der Haussegen schief hängt. Die Pubertät bzw. das »schlimme« Verhalten des Jugendlichen ist dann angeblich schuld daran, wenn in der Familie nicht mehr alles so harmonisch läuft wie früher. Die These lautet dann: »Würde sich das Kind nur anders verhalten, dann hätten wir keine Probleme mehr.« Fast immer ist das allerdings ein Trugschluss. Denn hinter dem präsentierten Problem mit dem Jugendlichen versteckt sich oft ein komplexeres Familienproblem, etwa ein unbearbeiteter Ehekonflikt oder ein anderes, nicht thematisiertes Spannungsfeld in der Familie. Der wegen seiner vielschichtigen Entwicklungsaufgaben hochsensible und für jedwede Art von Schwingungen empfängliche Jugendliche wird dann lediglich zum »Symptomträger«, wie es in der systemischen Familientherapie heißt. Soll heißen: Durch sein »auffälliges« Verhalten macht er auf Dysbalancen im Familiensystem aufmerksam – vergleichbar etwa einem verspannten Muskel, der zu schmerzen beginnt, weil der Körper zu lange ungleichmäßig belastet wurde.
Doch solange betroffene Familien nicht verstanden haben, dass sich hinter dem Problem »aufsässiger Teenager« möglicherweise ein ganz anderes Problem verbirgt, rückt der Jugendliche entweder als Sündenbock in den Fokus der Aufmerksamkeit (»Du bist schuld!«) oder als schwarzes Schaf ins familiäre Abseits. Beides verschärft Familienkonflikte, statt sie zu lösen. Und beides tut einem Teenager nicht gut. Hierzu ein Beispiel aus der Beratungspraxis:3
Herr und Frau F. kamen wegen Problemen mit ihrem 11-jährigen Sohn Paul in die Beratung. Sie beklagten, dass er nicht mehr »gehorche«, oft Widerworte gebe und sich stundenlang in sein Zimmer zurückziehe. Besonders der Vater litt unter dem als »ruppig« erlebten Verhalten des Sohnes und monierte, Paul habe keinen Respekt vor ihm als Autoritätsperson. Er erlebte das als Kränkung, die ihn dazu brachte, sich von seinem Sohn zu distanzieren. Frau F. hingegen machte sich viele Sorgen um Paul und kümmerte sich intensiv um ihn. Sie machte mit ihm unter anderem jeden Tag Hausaufgaben, was Paul allerdings zunehmend nervte.
Während des Beratungsprozesses zeigte sich, dass Frau F. zu Paul ein weit innigeres Verhältnis hatte als zu ihrem Mann. Herr F. fühlte sich schon lange aus dieser »Zweierkiste« ausgeschlossen und reagierte darauf mit Rückzug. Innerlich wuchsen aber gleichzeitig seine Wut und Eifersucht auf seine Frau und seinen Sohn. Diese Wut erhielt neue Nahrung durch Pauls alterstypische Veränderungen. Paul wiederum fühlte sich von seiner Mutter wie ein kleines Kind behandelt und emotional erdrückt. Nichts könne er machen, ohne dass sie es kontrolliere. Er dürfe ja noch nicht mal die Tür zu seinem Zimmer schließen, sie würde sonst meckern. Mit seinem Vater hingegen würde er gerne mehr unternehmen, aber der hätte ja immer so viel Arbeit und oft keine Zeit und schlechte Laune.
Der Sohn wurde gebeten, seine Familie auf einem Familienbrett zu stellen. Ein Familienbrett ist ein Holzbrett, auf dem der Klient mithilfe verschiedener Figuren oder Symbole seine Lebens- bzw. Familiensituation darstellt. Man benutzt es in der Familientherapie, um bestimmte Zusammenhänge oder Prozesse erkennen zu können.
Paul konnte sich verschiedene Holzfiguren aussuchen und positionierte sie auf dem Familienbrett folgendermaßen zueinander:
Abb. 1: Die Famlienbeziehungen von Familie F. (die schwarze runde Figur repräsentiert den Vater, die gestreifte runde Figur die Mutter, die schwarze eckige Figur steht für Paul)
Es wurde ersichtlich, dass der Vater eine Art Außenseiterposition bezog. Außer als Ernährer war er kaum gefragt. Er hatte weder zu seiner Frau noch zu seinem Sohn ein inniges Verhältnis.
Mit der Familie wurde dann an drei verschiedenen »Baustellen« gearbeitet: Erstens ging es darum, die Ehe wieder in den Fokus zu nehmen: Wie kann Herr F. wieder stärker an die Seite seiner Frau rücken? Was hinderte ihn daran, sich dort zu positionieren, wo er gerne sein wollte? Konnte Frau F. zulassen, dass Herr F. sich ihr wieder annäherte?
Eng damit verbunden war die Überlegung, wie Herr F. seinem Sohn ein präsenterer Vater sein könnte. Dazu wurde insbesondere Paul befragt, der eine Menge Ideen hatte, was er gerne mit seinem Vater machen wollte.
Der dritte Aspekt war, dass Frau F. Paul mehr Freiraum lassen musste. Er brauchte insbesondere mehr Intimsphäre, Zeit für sich und das Gefühl, nicht mehr so kontrolliert zu werden »wie ein kleines Kind«.
Die gesamte Familie ließ sich auf den Prozess ein. Nach einer Weile veränderte sich das Familiensystem deutlich. Der Vater fühlte sich innerhalb der Familie wieder wichtiger und blühte regelrecht auf. Er machte plötzlich einen lebendigeren Eindruck. Die eingeführten gemeinsamen Vater-Sohn-Aktionen machten ihm Spaß, seine Wut ebbte ab....