Rainer Oberländer
Erlebnispädagogik in der Bibel
Für viele ist das vielleicht eine überraschende Überschrift. Die Erlebnispädagogik ist, das ist doch allgemein bekannt, eine Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. In christlichen und vorchristlichen Zeiten war sie doch völlig unbekannt! Einerseits müsste man sagen: Stimmt! Andererseits entdecke ich viele Parallelen zur heutigen Erlebnispädagogik im Leben und im Umgang Jesu mit seinen Jüngern sowie im Handeln Gottes in der Geschichte mit seinem Volk Israel und wichtigen „Führungspersönlichkeiten“. Hatte das Handeln Jesu, hat das Handeln Gottes möglicherweise bereits „erlebnispädagogische Qualität“? Eine spannende Frage, auf die ich im folgenden Kapitel versuchen möchte, eine Antwort zu geben.
Wie lernen Menschen in der Bibel, ihre Aufgabe/Berufung zu leben?
Learning by doing
Es hat mich schon immer in Staunen versetzt, dass Jesus seine Jünger nach einer relativ kurzen Zeit des gemeinsamen Unterwegsseins bereits aussendet. Wie konnte er ihnen das nur zutrauen? Gewiss, er gab ihnen Macht, um ihre Aufgabe ausfüllen zu können, doch wir kennen den weiteren Verlauf der Geschichte und wissen um die Unzulänglichkeiten der Jünger Jesu. Bis zuletzt hatten sie vieles nicht begriffen. Und doch wagt Jesus, sie unter die Leute zu schicken.
Folgt man dem Markusevangelium, dann hatten sie zumindest schon ein paar einschneidende Erlebnisse und erste Unterweisungen über das Reich Gottes hinter sich. Es hat für mich den Charakter eines Praktikums, so wie ich es selbst schon mehrfach erlebt habe. Man hat ein paar Grundlagen gepaukt und schon geht es los, diese in der Praxis auszuprobieren. Das ist Sinn und Zweck eines Praktikums, man lernt aus Erfahrung.
Der Trainer Jesus geht im erlebnispädagogischen Sinn dabei fast klassisch vor. Er stellt Teams zusammen und erklärt die Aufgabe. Klare Anweisungen, ein klares Ziel. Die Jünger machen gute Erfahrungen, sie befreien Menschen und machen sie gesund. Das muss ihnen einen unglaublichen Auftrieb gegeben haben. Man darf natürlich nicht verschweigen, dass solche Lernsituationen auch oft schief gegangen sind. Nur zwei Kapitel später scheitern die Jünger dabei, die Menschenmenge zu versorgen, die bis in die Abendstunden hinein der Predigt Jesu folgt. Wie soll man auch mit fünf Broten und zwei Fischen 5000 Leute satt kriegen? Die Jünger lernen durch die Niederlage. Sie sehen ihre Begrenztheit und müssen sich diese eingestehen, zumal Jesus die Situation meistert. So lernen sie auch am Modell Jesus und nehmen wahr, dass es möglich ist, aus dem wenigen viel zu machen.
Es braucht wohl beides, die Erfahrung des Bestehens und die des Scheiterns, um wirklich zu lernen. Eine Ausgewogenheit zwischen anspruchsvollen Herausforderungen und realistischen Zielsetzungen zu erreichen, verbunden mit dem Vertrauen in die Menschen, ist die Kunst des Trainers, die Jesus offensichtlich ganz gut beherrscht hat. Dieses Grundmuster der Berufung in eine Aufgabe treffen wir in der Bibel an vielen Stellen an. Abraham und Mose und viele andere wurden in Aufgaben gestellt, für die sie nicht umfassend ausgebildet oder perfekt ausgerüstet waren. Sie haben auf dem Wege, im Tun gelernt, ihrer Aufgabe gerecht zu werden und Gott hat das Nötige dazu getan, dass ihnen das gelang. Das ist ein guter Ansatz, den die Erlebnispädagogik beherzigt. Es geht um Entwicklung, mit dem Wissen, dass wir nie fertig sind! Und dem Glaubenden ist es ein Hinweis, dass wir in unseren Aufgaben auf Gott angewiesen bleiben, alles andere wäre Überheblichkeit.
Wie lernen Menschen in der Bibel sich selbst kennen?
Lebensschule Jüngerschaft
Die Jünger um Jesus sind geradezu Paradebeispiele, wenn es um Persönlichkeitsentwicklung geht, allen voran Simon Petrus, der die Wandlung vom Fischer zum Menschenfischer immer wieder am eigenen Leibe erfährt. Seine Entwicklung wird sogar bis in die Namensgebung hinein deutlich. Im Unterwegssein mit Jesus aus Nazareth entdeckt er Potenziale und Fähigkeiten, die ihm bislang fremd waren. Er beginnt sich um das Heil von Menschen zu sorgen und macht ermutigende Erfahrungen. Aber er erlebt auch Hilflosigkeit und Scheitern.
Der Gang auf dem See Genezareth ist sicher ein Schlüsselerlebnis für ihn. Wenn wir in erlebnispädagogischen Übungen dem nachspüren, was es heißt, gewohntes Terrain zu verlassen und sich auf Unbekanntes, ja scheinbar Unmögliches einzulassen, dann können sie uns zum Schlüsselerlebnis werden, das unserem Bewusstsein neue Dimensionen der Erfahrung erschließt. Petrus erfährt es hautnah, ein Vermögen, das über die Grenzen unseres Horizontes hinausgeht, als auch eine Situation des Scheiterns, buchstäblich des Untergehens.
Der Trainer Jesus greift die Situation auf und spricht Petrus auf sein Scheitern an. Er macht ihm keine Vorwürfe, sondern er nimmt seine Gefühlslage wahr und verbalisiert sie. Er lässt ihn nicht untergehen, er hält an ihm fest. Diese körperlich-psychische Erfahrung wird eine wichtige Grundlage seiner Selbst- und Gotteserkenntnis. Ich empfinde es wohltuend, dass Jesus nach solchen Erfahrungen eine Art Reflexion beginnt. Es ist wichtig, dass die wunden Punkte, die zum Scheitern einer gestellten oder sich ergebenen Herausforderung benannt werden, zur Sprache kommen. Das bringt Menschen weiter.
Insgesamt darf man sicher sagen, dass die Lebensschule, die die Jünger durchlaufen ein sehr fruchtbarer Raum für Persönlichkeitsentwicklung ist. Das Unterwegssein, sowie die gemeinsamen Erlebnisse und Herausforderungen, bergen große Chancen. Erlebnispädagoginnen und -pädagogen nutzen diesen Raum sehr bewusst. Ob Jesus das nicht auch getan hat?
Wo man miteinander lebt, bleiben aber natürlich die sehr menschlichen Seiten nicht aus, im Gegenteil, sie treten eher zu Tage. So wundert es auch nicht, dass es unter den Jüngern zu Positionskämpfen kommt. Wie in jeder Gruppe spielt sich mit dem Rangstreit der Jünger (Mk. 9,33-37) so etwas ab. Ein wichtiger Prozess, der nicht ausbleiben darf und jeden berührt. Wo stehe ich? Bin ich zufrieden damit? Will ich mich verändern?
Die Antworten auf diese Fragen muss jede und jeder selbst finden, sobald sie oder er sich in einen Gruppenprozess begibt. Es ist positiv zu bewerten, wenn diese Fragen zu Tage treten, denn sie zeugen von Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und den anderen. Allzu oft verdrängen wir sie aus einem Mix von falscher Scham und Ängstlichkeit. Und auch die Jünger schweigen, als Jesus sie mit dem Inhalt ihrer Weggespräche konfrontiert. Auch in dieser Situation hat er wahrgenommen, was die Jüngergruppe oder Einzelne davon bewegt und bringt das zur Sprache. Seine Antwort fällt dann ganz anders aus, als die Jünger das wohl erwartet haben. Jesus stellt die gewohnten Vorstellungen von Hierarchie auf den Kopf und setzt völlig neue Maßstäbe. Damit fordert er immer wieder die Jünger heraus und ermöglicht ihnen neue Denkweisen, die ihr Leben verändern.
Die tiefste Erfahrung, die Petrus nachhaltig prägt, dürfte seine Verleugnung und die eng damit in Beziehung stehende Beauftragung (Joh. 21,1-18) sein. „Du bist nicht festgenagelt auf dein Versagen, sondern ich erkenne in dir, was du kannst. Ich glaube an dich!“, das sind Sätze, die der auferstandene Jesus so eventuell nicht wörtlich gesagt hat, aber von der Aussage höre ich das heraus. Das ist angesichts des Ereignisses schon etwas ganz Besonderes, wird sich aber im Bereich der Erlebnispädagogik ähnlich ereignen können. Das ist jedenfalls zu hoffen, dass Trainer und Teilnehmende immer wieder neu das Vertrauen ineinander setzen, selbst nach groben Schnitzern.
Wenn ich nun den Jüngerkreis für einen letzten kleinen Ausflug verlasse, dann hat das den Grund, dass ganz allgemein auffällt, dass Menschen, denen Jesus begegnet oder die ihm begegnen, als Veränderte aus der Begegnung herausgehen. Den Kernsatz des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber „Am Du werde ich zum Ich!“, gilt für jede Gruppe, erfährt aber in der Begegnung mit Jesus Christus noch mal eine ganz andere Tiefe. Aus der Beziehung zu ihm heraus passiert es, dass ich mich als geliebtes Geschöpf Gottes, als sein Gegenüber begreife. Und damit begegne ich meiner Bestimmung und dem, was mein Menschsein ausmacht.
Wie lernen Menschen Gott kennen?
Gott begegnen
Man könnte auch viel allgemeiner ansetzen. Wie lernen sich Menschen kennen? Durch Begegnung, ist die einfache und folgerichtige Antwort. Gott lernt man ebenfalls durch Begegnung kennen. Und das ist kein intellektuelles Aneignen eines Stoffes, sondern eine sichtbare, hörbare, greifbare oder zumindest spürbare Erfahrung, die in der Regel eine Veränderung nach sich zieht.
So ist das jedenfalls bei Mose, dem Gott im brennenden Dornbusch begegnet. Da passiert etwas Außergewöhnliches, das sein Interesse weckt und ihn...