Auch sie hat drei Brüder. Auch sie ist die Jüngste in der Geschwisterreihe: Nunzia Graviano, von der Familie liebevoll „a Picciridda“, „die Kleine“, genannt. Doch das Nesthäkchen ist kein verträumtes und verzärteltes Mädchen. Sie wächst fest verankert im Wertekodex der Mafia auf und übernimmt, als ihre Brüder im Gefängnis landen, eine Schlüsselfunktion im Clan. Nunzia wacht über die „Graviano-Holding“. Sie ist die Finanzexpertin des Clans und entwickelt sich in vielen Bereichen zum „Alter Ego“ ihrer mächtigen Geschwister. „Ich war mir ziemlich sicher, dass sie der Boss war. Ich hatte zumindest diesen Eindruck“, sagt später Giorgio Puma, ein bekannter und angesehener Steuerberater aus Palermo, während seiner Vernehmung aus. Puma, der auch beste Beziehungen zu den Justizbehörden hatte, für die er immer wieder als Konsulent tätig war, arbeitete für die Familie Graviano. Seine erste Ansprechperson in wirtschaftlichen Fragen war Nunzia, und es war ein Kontakt auf Augenhöhe mit einer fachlich bestens informierten Frau. Nunzia zeigt stellvertretend auf, dass sich die Mafia der 1990er-Jahre verändert hat. Sie ist nicht mehr von coppola und lupara – also von der typisch sizilianischen Mütze und der berüchtigten abgesägten Flinte – geprägt, die auch in unzähligen Hollywood-Filmen als Symbole Verwendung finden. Nein, sie dringt vielmehr in den Börsen- und Finanzbereich ein – was aber nicht bedeutet, dass die Clans deshalb weniger grausam agieren. Nur die Prioritäten haben sich verändert.
Wie Giusy Vitale ist auch Nunzia aus dem Stoff, aus dem Bosse gemacht werden. Doch anders als die junge Frau aus Partinico, die einem Mafia-Clan aus den ländlichen Gebieten angehört, stammt Nunzia aus Palermo und gehört der städtischen Cosa Nostra an. Ihre Heimat ist nicht die Kleinstadt mit ihren vorgelagerten Ställen und Feldern. Sie ist ein Mitglied der sogenannten Mafia-Bourgeoisie, die sich durch sicheres Auftreten und eine ausgeprägte Vorliebe für Luxus auszeichnet.
Nunzia Graviano wird 1968 in eine der tonangebenden Mafia-Familien der sizilianischen Hauptstadt hineingeboren. Mit vierzehn Jahren verliert sie ihren Vater. Michele Graviano hatte sich mit den Corleonesern verbündet und wurde dafür im Zweiten Mafia-Krieg von der gegnerischen palermitanischen Fraktion im Rahmen eines Rachefeldzuges ermordet. Acht Jahre später wird die Familie für diesen Verlust entschädigt und ihre Treue zu Totò Riina belohnt. Nunzias Brüder, der damals 29-jährige Filippo und der 27-jährige Giuseppe, treten die Nachfolge des inhaftierten Clanchefs Giuseppe Lucchese an. Filippo und Giuseppe werden somit formal die Herren über Brancaccio-Ciaculli, ein Industrie- und Wohnviertel in Palermo. Hier, wo um das Jahr 1000 ein arabischer Emir seine blühende Residenz erbaute und später die normannischen Eroberer einen riesigen künstlichen See anlegen ließen, herrschen nun die Gravianos. Und damit Gewalt und Verbrechen.
Als im Jänner 1993 der Superboss Totò Riina nach über zwei Jahrzehnten mitten in Palermo endlich festgenommen wird, ist das eine der wichtigsten Herausforderungen in der kriminellen Karriere des Brüderpaares. Es geht um die Zukunft der Cosa Nostra. Gemeinsam mit den bedeutendsten Bossen der Insel – wie Matteo Messina Denaro und Giovanni Brusca – nehmen Giuseppe und Filippo an einem eilig einberufenen Mafia-Gipfel nahe Bagheria teil. Dort beraten sie, wie die Cosa Nostra auf die Festnahme des capo dei capi reagieren soll. Die Antwort ist schnell gefunden und die Strategie der kommenden Monate ebenso: Die Mafia wird den Staat erneut herausfordern. Und sie wird dies wieder mit Bomben tun. Nicht mit einem einzelnen Attentat, sondern gleich mit einer Bombenserie. Nach den tödlichen Attacken auf Richter Giovanni Falcone und – nur 57 Tage danach – auf seinen Mitstreiter Paolo Borsellino will die Cosa Nostra mit aller Härte zeigen, dass sie in der Lage ist, den Staat Italien in die Knie zu zwingen. Sie will dies umso mehr, da die Ermordung der beiden auch außerhalb Italiens bekannten Juristen zum ersten Mal eine Welle der Empörung in Sizilien selbst ausgelöst hatte und die Behörden in Rom endlich reagierten: Tausende Soldaten wurden auf die Insel geschickt, wie in eine abtrünnige, aus dem eigenen Machtbereich entglittene Provinz. Doch von dort kommt eine erneute Kampfansage. Mit ihrer neuen Strategie zielt die Mafia nicht nur auf Menschen, sondern in erster Linie auf Kulturdenkmäler ab. Richter und Staatsanwälte können ersetzt werden, zitiert der vormalige oberste Anti-Mafia-Staatsanwalt Pietro Grasso aus Abhörprotokollen, weltberühmte Monumente nicht. Dass dabei auch unschuldige Menschen ums Leben kommen können, wird nicht nur in Kauf genommen, sondern ist vielmehr beabsichtigt. Es verstärkt die Wirkung. Die Mafia kennt keine Gnade.
In Italien herrscht Anfang der 1990er-Jahre ein gefährliches Machtvakuum. 1992 wird Mario Chiesa, Leiter eines Altenheimes und Mitglied der Sozialistischen Partei, in Mailand erwischt, als er eine Schmiergeldzahlung in der Höhe von sieben Millionen Lire annimmt. Der Skandal weitet sich wie ein Lauffeuer innerhalb kürzester Zeit in ganz Italien aus. Die Mani pulite, also „Saubere Hände“ genannten Ermittlungen decken ein riesiges System aus Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteienfinanzierung auf. Tangentopoli taufen die Italiener diesen Skandal, der die Grundfesten des Staates erschüttert und das Ende altgedienter Parteien wie der Democrazia Cristiana und der Sozialistischen Partei bedeutet. Wie ein Erdbeben erschüttern die Ereignisse Italien. Die Erste Republik bricht zusammen. Allerorts herrscht Chaos. Mitten darin aber zieht die Mafia – und mit ihr die Familie Graviano – ihre Fäden. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod.
19. Juli 1992: tödliches Attentat auf Richter Paolo Borsellino
Die erste Bombe explodiert am 14. Mai 1993 kurz vor Mitternacht an einer Kreuzung im römischen Nobelviertel Parioli. Einhundert Kilogramm Sprengstoff sind in einem geparkten Fahrzeug deponiert worden. Als das Auto des bekannten Journalisten und Fernsehmoderators Maurizio Costanzo vorbeifährt, wird der Sprengsatz mittels Fernsteuerung zur Explosion gebracht. Costanzo selbst bleibt unversehrt, sieben Menschen werden jedoch verletzt. An den umliegenden Gebäuden kommt es zu schweren Schäden. Das Attentat auf Costanzo wird als Warnung interpretiert. Seine in ganz Italien beliebte und nach ihm benannte Show hatte sich immer wieder mit Anti-Mafia-Themen befasst. Giovanni Falcone war mehrmals bei ihm zu Gast. Und in einer seiner Livesendungen verbrannte Costanzo in einer aufsehenerregenden Aktion ein T-Shirt mit der Aufschrift: Mafia Made in Italy.
Dreizehn Tage nach dem nächtlichen Anschlag in Rom schrecken die Bewohner von Florenz um ein Uhr morgens auf. Ein ohrenbetäubender Knall reißt sie aus dem Schlaf. 250 Kilo Tritol, ebenfalls in einem Auto versteckt, explodieren in der Via Gergofili, ganz in der Nähe der weltberühmten Uffizien. Fünf Personen kommen bei diesem Attentat ums Leben. 36 Menschen tragen teils schwere Verletzungen davon. Die einzigartige Gemäldegalerie wird schwer beschädigt. Rund ein Viertel des Kunstbestandes weist Schäden auf, einige Bilder sind für immer zerstört.
Doch der terroristische Flügel der Cosa Nostra schlägt weiter zu. Allein am 27. Juli 1993 explodieren fast gleichzeitig drei Bomben in Mailand und Rom. Drei Feuerwehrleute, ein Polizist und ein marokkanischer Obdachloser werden in der lombardischen Hauptstadt vor dem Pavillon der zeitgenössischen Kunst getötet. In Rom selbst wird die Lateranbasilika beschädigt und Teile der Fassade von San Giorgio al Velabro, einer der ältesten Kirchen der Hauptstadt, werden zerstört. Die Cosa Nostra nimmt neben dem Staat nun auch die Kirche ins Visier.
„Ich habe auf euch gewartet“
Zur gleichen Zeit fühlen sich die Brüder Graviano auf ihrem ureigenen Hoheitsgebiet bedroht: in Palermo, im Stadtteil Brancaccio. Zur ernsthaften Bedrohung für sie wird ein kleiner, schmächtiger und von Natur aus sanfter Mann: Giuseppe Puglisi, der Pfarrer des Viertels, von allen Don Pino genannt. Pino Puglisi ist mit Leib und Seele Priester. Das Evangelium zu verkünden heißt für ihn in erster Linie draußen bei den Menschen zu sein. Seine Pfarre sind die engen Straßen und Gassen des verrufenen Viertels, das von Arbeitslosigkeit und Drogenhandel gezeichnet ist sowie eine der höchsten Kriminalitätsraten der Stadt aufweist. Hier kämpft der „tapfere Priester“, wie er später genannt wird, darum, den jungen Menschen Mut und Hoffnung zu geben. Er will ihnen eine andere Perspektive vermitteln als die, sich als einzigem Ausweg dem organisierten Verbrechen anzuschließen.
Mitten in Brancaccio gründet Don Pino deshalb ein Sozialzentrum: das Padre Nostro. Der Pater und sein Zentrum sind der nach außen hin so gottesfürchtigen Cosa Nostra von Anbeginn ein Dorn im Auge. Denn dort spricht Don Pino von Geschwisterlichkeit, von Solidarität und von sozialem Frieden. Seine Mission sieht er im Einsatz für Gerechtigkeit und Recht, im Einsatz für die Rechte und Pflichten der Bürger und Pfarrangehörigen. Puglisi stellt sich offen und eindeutig auf die Seite der Unterdrückten und der am Rande der Gesellschaft...