3. Die drei Wege zur Vergebung
Im vorigen Kapitel habe ich beschrieben, wie Kränkungen zustande kommen und sich im Leben der Betroffenen auswirken.
Wenn die Arten von Kränkungen, die dort aufgeführt wurden, der Gegenstand der Vergebung sein sollen, mag man jetzt vielleicht denken, dass das Ganze ja eine ziemlich subjektive Sache ist. Und wenn Sie selbst betroffen sind, werden Sie sich möglicherweise sogar missverstanden fühlen, denn was Ihnen passiert ist, war vielleicht wirklich eine ausgemachte Gemeinheit oder ein schlimmes Unrecht. Wenn es angeblich sein kann, dass sich der eine bei genau der gleichen Handlung überhaupt nicht gekränkt oder geschädigt fühlt, während ein anderer tief verletzt ist, gibt es dann überhaupt so etwas wie ein objektives Recht, gekränkt zu sein? Wenn es das nicht gibt, was gibt es dann zu vergeben? Ist denn alles nur meine Empfindlichkeit, meine Animosität? Oder, wenn wir die Begrifflichkeit von oben verwenden wollen: Liegt alles nur daran, dass mein Selbst seinen Identitätsraum zu weit ausgedehnt hat, zumindest in eine der möglichen Richtungen?
Ich möchte hier eine vorläufige Antwort wagen. Später werden wir noch näher darauf eingehen. Sie lautet: Wenn Sie verletzt sind, haben Sie recht.
Das Gefühl der Kränkung ist subjektiv, wie alle psychische Befindlichkeit subjektiv ist. Und wir haben ja gerade gesehen, dass es gar keine Kränkungen auf der objektiven Ebene gibt. Verlust (von Geld z. B.) kann sowohl Kränkung bedeuten als auch das Selbstbewusstsein heben, es geht nicht um den objektiven Verlust. Selbst der drohende Verlust des eigenen Lebens, normalerweise die größte denkbare Kränkung, wird nicht eindeutig bewertet. Denken Sie nur an die Märtyrer der frühen Kirche oder auch – man möge mir die Nebeneinanderstellung verzeihen, es geht mir aber um die sachliche Klarheit – die Selbstmordattentäter der heutigen Zeit.
Wenn Sie verletzt sind, haben Sie also recht, subjektiv recht. Und das bedeutet für die Vergebung: Es wird und kann auch nur Ihre Vergebung sein, Ihre subjektive Vergebung.
Was jetzt folgt, sind demnach Wege, wie Sie mit Ihrer persönlichen Kränkung umgehen können. Das wird allerdings auch Auswirkungen auf Ihre Umgebung haben, die nicht zu unterschätzen sind. Es wird auch Auswirkungen auf den Täter haben.
Ein sehr häufiges Missverständnis in christlichen Kreisen ist, dass viele Menschen Vergebung im Grunde für einen mehr oder weniger definierten Verhaltenskatalog halten. Wenn einem dieses oder jenes Unrecht angetan wird, hat man in etwa so und so zu reagieren, das ist dann eben christlich bzw. christlich korrekt. Dabei steht, auch wenn das nicht so benannt und darüber nicht weiter nachgedacht wird, ein Modell von objektiver Vergebung als Antwort auf objektives Unrecht im Hintergrund.
Wenn Kindern Beispiele von gelungener Vergebung erzählt werden, können sie diese nur als Vorbild zum direkten Nachmachen verstehen, und ähnlich kommt es auch bei vielen Erwachsenen an. Wenn Vergebungsberichte in Gemeinden so verstanden werden, wird ein praktisch unerfüllbarer Standard gesetzt. In der Bibel ist zu lesen, dass die Apostel den Herrn priesen, weil sie für ihn Schmach leiden durften, als sie gerade verprügelt worden waren. Oder es wird berichtet, dass vielleicht ein Missionar gerade wieder in das Dorf zurückging und für die Leute betete, die ihm seine Hütte verbrannt hatten. Brave Gemeindemitglieder nicken vielleicht, wenn sie diese Berichte hören, aber im Grunde ist jedem klar: es würde mich völlig überfordern, tatsächlich so zu reagieren. Ich würde das nicht aushalten. Ich würde auch nicht so reagieren. Gott sei Dank prügelt mich keiner.
Im Unklaren bleibt meist, dass es bei diesen Beispielen immer um eine individuelle Bewältigung von Kränkungen geht, die subjektiv auf ganz bestimmte Weise erlebt wurden. Was in den Betroffenen wirklich abgelaufen ist, wird normalerweise nicht transparent. Es wird allerdings deutlich, dass es Menschen immer wieder gelungen ist, auf für andere überraschende Weise zu reagieren. Es ist ihnen – wie auch immer – gelungen, aus einer Eskalation der Gewalt auszubrechen und sich alternativ zu verhalten. Sie haben nicht mit Gegengewalt reagieren müssen, haben sich aber offensichtlich auch nicht einschüchtern lassen, sodass sie sich nicht mehr getraut hätten zu handeln. Im Gegenteil: Diese Menschen sind mutig bei ihrer Linie geblieben, und allem Anschein nach sind sie auch noch zufrieden, wenn nicht sogar glücklich. Jedenfalls wesentlich glücklicher als ihre Verfolger.
Nur: Was da wirklich passiert ist, bleibt meistens eine „black box“. Wir sehen nur Input und Resultat. Weniger technisch ausgedrückt: wir sehen nur, was Menschen angetan wurde und wie sie darauf reagiert haben, aber nicht, was sich in der Zwischenzeit in ihnen abgespielt hat.
Wenn wir das, was sich da abgespielt hat, als blinden Gehorsam gegenüber irgendwelchen Idealen oder Geboten auffassen, brauchen wir immerhin nicht zu staunen. Wir können allerdings auch nicht erklären, warum die Menschen, die in den genannten Beispielen vergeben haben, zufrieden wirken. Wenn wir das, was da geschehen ist, aber als aktiven Bewältigungsprozess verstehen, beginnen wir zu ahnen, dass es sich bei diesen Beispielen um den Ausdruck der größten seelischen Leistung handeln könnte, zu der Menschen überhaupt fähig sind.
Nun ist Vergebung aber für die meisten Menschen nicht nur graue Theorie. In mehr oder weniger wichtigen Situationen haben wir praktisch alle auch schon eigene Erfahrungen mit Vergebung gemacht. Und von daher wissen wir auch darum, dass es eigentlich nichts Entspannenderes, Wohltuenderes gibt, als an einem Punkt endlich vergeben zu können, besonders, wenn er uns schon lange beschäftigt hat. Der innere Friede ist endlich wieder da.
Darum ist in der christlichen Szene auch ein Lied über die Versöhnung aus dem Joseph-Musical so zum Ohrwurm geworden: Dass ein „Ich-mag-dich-trotzdem-Kuss“, wie er da besungen wird, etwas Nettes ist, ist allen klar, die es hören.
Das Problem ist nur, dass Kränkungen uns so erwischen können, dass wir nicht zum Vergeben bereit sind, selbst wenn wir uns im Grunde danach sehnen, unsere Tage weniger spannungsreich zu verbringen.
Vergrößert werden die Schwierigkeiten oft dadurch, dass auch ein Anspruch durch Bekannte und Freunde besteht. Sätze wie „Na, war vielleicht schlimm, aber nun hab dich doch nicht so“ oder „Du kannst dich doch nicht ausschließen“ bekommen Betroffene oft zu hören. Gesellschaftlich sind gute Laune und Aktivsein angesagt. Wer mit einem anderen Menschen lange Zeit nicht kann, manövriert sich selbst ins Abseits.
In christlichen Kreisen lassen Ratschläge und Ermahnungen ebenfalls oft nicht lange auf sich warten: „Du musst endlich vergeben!“ oder „Lasst die Sonne nicht untergehen über eurem Zorn.“
Das alles ist meistens nicht besonders hilfreich, sondern eher eine Wiederholung der Gedanken der Betroffenen. Sie wollten ja selber, wenn es ginge!
Letztlich bringen diese Reaktionen Menschen, die schwer gekränkt wurden, oft dazu, sich mit ihrem Schmerz immer weiter zurückzuziehen und ihn mit niemandem mehr zu teilen, weil sie die Antworten sowieso schon kennen und keine Lust darauf haben, lästig zu fallen.
Das Dilemma der Betroffenen ist: Sie spüren durchaus, dass es gut wäre, aus diesem Zustand des „Krankseins an Kränkung“ herauszukommen, aber sie können es innerlich nicht.
Die Psyche hat offensichtlich so viel zu verarbeiten durch diesen Einschnitt in das Selbstsystem, den die Kränkung bedeutet, dass sie noch nicht fertig ist damit. Auch wenn schon deutlich wird, dass es zum Teil keine konstruktive Arbeit ist, nützt es nichts. In den Phasen zwischen Hass- und Entwertungsgrübeleien über den Verursacher, die bei jeder schweren Verletzung auftreten, ist es vielen Menschen klar, dass es wenig bringen wird, noch einmal und noch einmal in diese Gedankenszenarien einzusteigen. Und doch überfällt es sie sozusagen oft unerwartet, und während es läuft, ist es nicht ohne Befriedigung. Sich Gedanken zu verbieten, funktioniert nicht.
Manche Menschen versuchen sich durch eine „Flucht nach vorne“ zu helfen, indem sie sich ganz schnell mit dem Verursacher der Kränkung wieder „versöhnen“. Aber sie stellen fest: Auch das nützt nichts. Ihre Psyche, ihre Gedankengänge haben anscheinend einfach nicht mitbekommen, dass sie sich offiziell schon vertragen haben. Vergebung kann deshalb so schwierig sein, weil sie einen endgültigen Verzicht bedeutet.
Sie bedeutet, dass mir Unrecht getan wurde und ich bewusst darauf verzichte, vom Täter eine vollständige Wiedergutmachung zu erhalten.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Wie kann es denn überhaupt zwischen mir und einer Person, die mir Unrecht getan hat, wieder gut sein, wenn ich auf die fällige Wiedergutmachung verzichte? Wo bleibe ich denn mit dem Defizit, das da bei mir zurückbleibt: nämlich an Gutem, das der Täter mir eigentlich noch tun müsste? Oder andersherum ausgedrückt: Wo bleibe ich mit dem Überschuss an Ärger und Verletztheit, den ich noch in mir habe?
Es soll im Folgenden von den Möglichkeiten die Rede sein, wie ich bewusst mit Unrecht umgehen kann, das mir zugefügt wurde. Nur darüber können wir reden.
Wir gehen auch sehr stark unbewusst mit Leid um, das uns angetan wurde. Insbesondere dann, wenn wir keine sinnvollen Vorgehensweisen auf der bewussten Ebene kennen und wir nichts mit unseren Verletzungen anfangen können. Unsere Psyche verdrängt dann nach...