I. Einführung in das Neue Testament
Literaturgattungen im Neuen Testament
Das Neue Testament bildet gemeinsam mit dem Alten Testament die christliche Bibel. Es umfasst eine Auswahlsammlung von 27 Schriften, die sich in den ersten Jahrhunderten n. Chr. als zweiter Teil der Heiligen Schrift herauskristallisierten. Das Korpus der zum Neuen Testament gewordenen Schriften des frühen Christentums umfasst die Literaturgattungen Evangelium, Apostelgeschichte, Brief und Apokalypse. Zu diesen Formen findet sich in der urchristlichen Literatur eine Vielzahl weiterer Werke, die entweder aus sachlichen Gründen oder wegen ihrer späten Entstehungszeit nicht in den Bibelkanon aufgenommen wurden. Man bezeichnet diese Schriften als die Neutestamentlichen Apokryphen. Die im Neuen Testament vertretenen Literaturgattungen sind überwiegend keine völligen Neuschöpfungen, sondern haben eine Vorgeschichte. Die Gattung Evangelium besitzt zwar unverwechselbare Züge und kann daher als literarisches Novum gelten, weist aber Parallelen zur hellenistischen Biographie auf. Die Apostelgeschichte orientiert sich bei aller Originalität in vielerlei Hinsicht an den stilistischen Merkmalen der griechisch-römischen Historiographie. Die Autoren der neutestamentlichen Briefe folgen im Blick auf die äußere Form bzw. den Rahmen in hohem Maße den Konventionen der antiken Briefliteratur. Die literarische Form der Apokalypse mit Enthüllung des geschichtlichen Heilsplanes Gottes, die im Neuen Testament allein durch die Johannesoffenbarung vertreten ist, entwickelte sich im antiken Judentum und hielt von dort Einzug in das christliche Schrifttum.
Der Begriff »Neues Testament«
Alter Bund und neuer Bund
Im Hintergrund des Begriffs »Neues Testament« steht die Verheißung eines neuen Bundes durch den Propheten Jeremia (Jer 31,31-34). In der griechischen
Das »Neue Testament« enthält die 27 heiligen Schriften des »neuen Bundes«
Übersetzung des Jeremiabuches wird das hebräische Wort für Bund (berit) mit diatheke wiedergegeben, das auch Anordnung oder Verfügung heißt. Daher wählten die lateinischen Bibelübersetzer an dieser Stelle das Wort testamentum. Während Jeremia den neuen Bund als neuerliche Zuwendung Gottes an sein erwähltes Volk Israel verstand, haben frühchristliche Schriftsteller wie Paulus und der Autor des Hebräerbriefes diese prophetische Verheißung auf das endzeitliche Handeln Gottes im Christusgeschehen bezogen. Im 2. Jh. n. Chr. wurde die Aussage vom neuen Bund (lat. novum testamentum) zum Fachbegriff für den zweiten Teil der christlichen Bibel und zog gleichzeitig eine Betrachtung der heiligen Schriften Israels als Altes Testament nach sich. Diese Entwicklung ist durch die paulinische Gegenüberstellung eines alten Bundes, dessen Kennzeichen die in Stein gehauenen Buchstaben des Mosegesetzes sind, und eines neuen Bundes, der sich im Christusgeschehen verwirklicht hat, begünstigt worden (2Kor 3,6-15).
Keine Abwertung des Alten Testamentes
Wenn der Begriff Neues Testament zur Bezeichnung des hebräischen Bibelkanons als Altes Testament führte, ist dies alles andere als unproblematisch. Die neutestamentlichen Autoren kennen keine Kategorisierung der heiligen Schriften Israels als »alt«. Sie ist erst im Rahmen der Abgrenzung der Kirche vom Judentum entstanden und nicht selten mit negativen Konnotationen verbunden, indem sie eine Abwertung des Judentums und eine Betrachtung seiner heiligen Schriften als alt im Sinne von überholt beinhaltet. Vielfach gibt es daher die Forderung, sich von dem Begriffspaar »Altes und Neues Testament« völlig zu verabschieden und es durch »Erstes und Zweites Testament« oder »Hebräische und Griechische Bibel« zu ersetzen. Wenn aus Traditionsverbundenheit an den Begriffen Altes und Neues Testament festgehalten wird, kann dies nur unter der Prämisse geschehen, dass »alt« dabei ohne jeden abwertenden Bedeutungsgehalt im Sinne von »altehrwürdig« gemeint ist und die Gegenüberstellung von Altem und Neuem Testament nicht als Gegensatz, sondern als Entsprechung verstanden wird. Beide Testamente sind durch ein und denselben Gott verbunden, von dem sie in jeweils unterschiedlicher Weise Zeugnis geben. Als erster Teil der christlichen Bibel gewinnen die heiligen Schriften Israels eine neue Bedeutung, indem durch ihre Voranstellung das im Neuen Testament dokumentierte Handeln Gottes in Jesus Christus in den heilsgeschichtlichen Kontext der Erschaffung der Welt und der Bundesgeschichte mit Israel eingefügt wird.
Die Textüberlieferung
Probleme der Textüberlieferung
Alle 27 Schriften des Neuen Testaments sind von ihren Autoren in griechischer Sprache niedergeschrieben worden. Von keiner einzigen Schrift ist allerdings das Original erhalten. Wir verfügen nur über handschriftliche Kopien aus späterer Zeit. Diese lassen sich in Papyri, Majuskeln, Minuskeln und Lektionare unterteilen. Der Text galt in den ersten Jahrhunderten keineswegs als unantastbar. Die
Mangelnde Sorgfalt oder willkürliche Eingriffe der Kopisten führten zur Verfälschung des Bibeltextes
Kopisten sind nicht immer penibel ihren Vorlagen gefolgt, sondern haben sich die Freiheit genommen, den Bibeltext durch Kürzungen, Ergänzungen oder Kommentare zu verändern, ohne dies kenntlich zu machen. So konnte sich der Text in der Frühzeit der Kirche frei entfalten. Hinzu kommen Abschreibfehler oder versehentliche Auslassungen. Origenes beklagt im frühen 3. Jh. n. Chr. die großen Unterschiede in den Bibelhandschriften, welche die Kopisten durch nachlässiges Arbeiten oder unverfrorene Eingriffe in den Text verursacht hätten (Orig., comm. Mt 15,14). Die Bibelwissenschaft steht daher vor dem Problem, aus den ungefähr 5500 erhaltenen und sich zum Teil erheblich voneinander unterscheidenden handschriftlichen Zeugen für den neutestamentlichen Text dessen ursprüngliche Gestalt zu rekonstruieren. Diese Aufgabe bezeichnet man als Textkritik.
Papyri als älteste Textzeugen
Die ältesten entdeckten Textzeugen sind Papyri aus dem 2. und 3. Jh. n. Chr., die aber nur Teilstücke des Neuen Testamentes wiedergeben und in der Regel stark beschädigt sind. Papyrus war in der Antike ein relativ preiswertes und daher weit verbreitetes Beschreibmaterial. Für seine Herstellung wurde das Mark der Papyrusstaude verwendet, einer vor allem in Ägypten am Nil gedeihenden Sumpfpflanze. Papyrus zeichnet sich zwar grundsätzlich durch eine erstaunliche Haltbarkeit aus, beginnt aber unter dem Einfluss von Feuchtigkeit sich zu zersetzen und zu verrotten. Die alten Papyri sind noch keine Vollbibeln, sondern bieten nur einzelne Schriften oder Schriftengruppen des Neuen Testaments. Der älteste erhaltene Textzeuge fÜr das Neue Testament, der Papyrus 52 aus der Zeit um 125 n. Chr., enthält nur wenige Sätze aus Joh 18. Dieser Papyrusfetzen ist das einzige überbleibsel einer Handschrift, die einst das gesamte Johannesevangelium umfasste. Von herausragender Bedeutung für die Evangelien sind die Bodmer-Papyri 66 und 75, für die Paulusbriefe der Chester-Beatty-Papyrus 46, die alle aus der Zeit um 200 n. Chr. stammen.
Majuskel-Handschriften
Ab dem 4. Jh. n. Chr. setzte sich zunehmend Pergament als Beschreibstoff durch, das aus Tierhaut gewonnen wurde und ungleich beständiger als Papyrus ist. Der Siegeszug des im Vergleich mit Papyrus deutlich teureren Pergaments hängt auch mit der Konstantinischen Wende zusammen, die das zuvor noch verfolgte Christentum zur staatlich privilegierten Religion werden ließ. Kaiser Konstantin selber gab im Jahr 330 n. Chr. im Zuge der formellen Einweihung von Konstantinopel die Anfertigung von 50 Bibeln auf Staatskosten in Auftrag, nachdem in der letzten großen Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian unzählige Bibelhandschriften vernichtet worden waren. Die in griechischen Großbuchstaben
Für eine Bibel aus Pergament wurde das Fell von etwa 400 Tieren benötigt
geschriebenen Pergamenthandschriften, in der Regel bereits Vollbibeln, bezeichnet man als Majuskeln. Für eine Vollbibel waren nahezu 400 große Tierhäute notwendig, die sorgfältig präpariert werden mussten, bevor sie als Beschreibmaterial dienen konnten. Die beiden ältesten griechischen Majuskel-Handschriften, die den gesamten Text des Neuen Testaments enthalten und zudem das Alte Testament in griechischer Version voranstellen, sind der Codex Sinaiticus und der Codex Vaticanus. Der aus dem 4. Jh. n. Chr. stammende Codex Sinaiticus wurde im 19. Jh. von Konstantin Tischendorf unter spektakulären Begleitumständen im Katharinenkloster auf dem Sinai entdeckt. Während Teile des Alten Testaments fehlen, ist das Neue Testament vollständig erhalten geblieben. Von der Bedeutung her vergleichbar ist der ähnlich alte Codex Vaticanus, der von seiner Textqualität her sogar noch etwas...