2. Denken und Reden, Versuch einer Verhältnisbestimmung
Auf den ersten Blick scheinen Intentionalität und Sprachfähigkeit zwei vollkommen unabhängige geistige Fähigkeiten zu sein, die sich parallel entwickelt haben und unabhängig von der jeweils anderen verstanden werden können. Ich werde in diesem Kapitel einige Argumente vorstellen, die die gegenteilige These zu untermauern versuchen, wonach beide Fähigkeiten, (a) die Fähigkeit, Gedanken zu haben, die ihren Inhalt begrifflich repräsentieren, (b) die Fähigkeit, Gedanken auszudrücken und mitzuteilen, einander benötigen und sich nicht unabhängig voneinander erklären lassen. Beide Fähigkeiten, das Denken und das Reden, sind zwar nicht identisch, jedoch in einer Weise miteinander verbunden, dass jedes des anderen bedarf, um verstanden werden zu können. Donald Davidson hat darauf aufmerksam gemacht, dass Philosophen dazu neigen, die Verbindung beider als so eng oder vollständig anzusehen, dass „eines von beiden […] ausreicht, um das andere zu explizieren“ (Davidson 1986a, 225). Dies geschah in der Vergangenheit meist unter dem Vorzeichen einer sprachanalogen Auffassung des Denkens: Denken galt per se als sprachartig, es vollzog sich in einem Medium, das Ähnlichkeit mit den Zeichen und Symbolen einer öffentlichen Sprache hat, ohne auf diese angewiesen zu sein (vgl. den historischen Überblick in 3.2). Die Verbindung beider ist weniger eng als die Tradition annahm. Umso dringlicher ist das Desiderat, zu zeigen, wie die Fähigkeit, Gedanken zu haben, vom Besitz einer Sprache abhängt. Für die Mehrheit der klassischen Autoren galt die Intentionalität unseres Geistes als das grundlegende Phänomen. Die ‚Intentionalität‘ der Sprachzeichen wurde von der Intentionalität der Sprachbenutzer abgeleitet. Ich möchte die Erklärungsrichtung nicht einfach umdrehen, sondern mit Davidson ein relationales Modell des Verhältnisses von Denken und Reden, Intentionalität und Sprachfähigkeit verteidigen.
2.1 Intentionale Einstellungen
Der Terminus ‚Intentionalität‘ wurde von dem deutsch-österreichischen Philosophen Franz Brentano eingeführt, um das Mentale von anderen Untersuchungsgegenständen der Psychologie abzugrenzen. Mentale Phänomene zeichnen sich für Brentano weniger durch das Merkmal des Bewusstseins als vielmehr durch ihre Intentionalität aus. Unter ‚Intentionalität‘ versteht Brentano die „Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt […], oder die immanente Gegenständlichkeit“ des Mentalen (Brentano 1924, 124f.). Die analytische Philosophie unserer Tage hat den von Brentano eingeführten Sprachgebrauch beibehalten, ohne seiner These zuzustimmen, dass der Objektbezug eine notwendige Bedingung des Mentalen sei. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, zwischen (a) intentionalen und (b) nicht-intentionalen Bewusstseinszuständen zu unterscheiden. Beispiele für (a) sind Meinen, Glauben, Überzeugtsein, Wünschen, Beabsichtigen, Urteilen und andere so genannte propositionale Einstellungen, aber auch Sinneswahrnehmungen, Träume, Halluzinationen, Emotionen wie Liebe, Hass, Furcht, Eifersucht und Begehren. Beispiele für (b) sind Empfindungen, Schmerz, Juckreiz, Gefühle, aber auch komplexere Phänomen wie Stimmungen, Angst, Freude, Depression.
Die Zuschreibung intentionaler Zustände kann mit Hilfe so genannter intentionaler Verben erfolgen. Die Art der Verwendung des intentionalen Verbs entscheidet über die Art des Objektbezugs, der dem zugeschriebenen mentalen Zustand eigentümlich ist. Intentionale Verben können in folgenden Satzkonstruktionen auftreten (vgl. Glock 2010, 13):
I. | S | Vs (denkt, glaubt, urteilt, erwartet etc.) | dass p | |
II. | S | Vs (beabsichtigt, plant, meint etc.) | zu Φ | |
III. | S | Vs (liebt, begehrt, denkt an etc.) | X | |
Die Verben, die sich in dem Schema für den Buchstaben ‚V‘ einsetzen lassen, bezeichnen gemäß einer Tradition, die auf Bertrand Russell zurückgeht, die unterschiedlichen Typen intentionaler „Einstellungen“ (‚attitudes‘, Russell 1921, 243). ‚S‘ vertritt in dem Schema das Subjekt der Einstellungen, während die Einsetzungen für ‚dass p ‚, ‚ zu Φ‘ und ‚X ‚den jeweiligen Inhalt einer Einstellung ausdrücken. Im Fall von (I) ist das grammatische Objekt von S‘ Einstellung eine Proposition, die mit Hilfe eines mit ‚dass‘ eingeleiteten Nebensatzes benannt und mittels der Satzphrase p ausgedrückt wird:
1) Otto ist davon überzeugt, dass einige Eisbären in der Antarktis leben.
2) Verena befürchtet, dass es in hundert Jahren keine Alpengletscher geben wird.
3) Attila (der Nachbarshund) glaubt, dass sein Herrchen vor der Tür steht.
Im Fall von (II) ist das grammatische Objekt von S‘ Einstellung ein Handlungstyp, der durch eine mit ‚zu‘ eingeleitete Infinitivphrase eines Handlungsverbs Φ charakterisiert wird:
4) Otto plant, zu heiraten.
5) Verena zieht es vor, zu schweigen.
6) Attila (dem Nachbarshund) widerstrebt es, zu baden.
Im Fall von (III) ist das grammatische Objekt von S‘ Einstellung ein Einzelding, d. h. ein konkretes oder abstraktes Individuum, das durch den singulären Terminus ‚X‘ benannt wird:
7) Otto bewundert Verena.
8) Verena fürchtet die (Zahl) Sieben.
9) Attila (der Nachbarshund) liebt Rapunzel (die Nachbarskatze).
Die aufgelisteten Typen intentionaler Objekte erfüllen ausnahmslos das Kriterium der „intentionalen Inexistenz“ des Mentalen (Brentano 1924, 124). Otto kann davon überzeugt sein, dass in der Antarktis Eisbären leben, auch wenn das Gegenteil davon wahr ist. Er kann planen, zu heiraten, selbst wenn er seinen Plan niemals ausführt. Er kann jemanden bewundern, der nicht mehr existiert oder nie existiert hat. Intentionale Einstellungen lassen sich auf der Grundlage des oben eingeführten Schemas in (I.) propositionale Einstellungen, (II.) handlungsbezogene Einstellungen und (III.) objektbezogene Einstellungen unterteilen (Glock 2010a, 13). Die Mehrzahl der analytischen Autoren neigt dazu, sämtliche Formen der Intentionalität unter dem Titel der ‚propositionalen Einstellungen‘ zu thematisieren. Die Vorrangstellung des propositionalen Inhalts wird damit begründet, dass auch die handlungs- und objektbezogenen Einstellungen sprachbegabter Wesen propositionale Einstellungen implizieren (Kenny 1963, 126, 206f.; Tugendhat 1976, 102; McDowell 1998, 33, 35, 71f.). Die Fähigkeit, sich intentional auf Objekte oder Handlungsweisen zu beziehen, schließt die Fähigkeit ein, den Inhalt solcher Einstellungen zum Inhalt eines Urteils oder anderer propositionaler Einstellungen zu machen. Objektbezogene Einstellungen ziehen sehr oft handlungsbezogene Einstellungen nach sich und diese propositionale Einstellungen oder setzen sie voraus. Die Korrektheit der Zuschreibung ‚S wünscht ein X‘ kann es erforderlich machen, dass wir S die handlungsbezogene Einstellung ‚S wünscht ein X zu Φ-en‘ zuschreiben sowie die propositionale Einstellung ‚S ist davon überzeugt, dass X-e F sind‘. Beispiele: ‚S wünscht einen Apfel‘, ‚S wünscht einen Apfel zu verspeisen‘, ‚S ist davon überzeugt, dass Äpfel schmackhaft sind‘; ‚S bewundert Verena ‚, ‚S beabsichtigt, Verena zu heiraten‘, ‚S ist davon überzeugt, dass Verena eine ideale Partnerin ist‘. Die These des Vorrangs der Einstellungen des Typs (I) vor den Einstellungen der Typen (II) und (III) impliziert nicht, dass Subjekte, die die Fähigkeit besitzen, sich intentional auf Propositionen zu beziehen, niemals objekt- oder handlungsbezogene Einstellungen haben könnten. Es wird nur der entgegengesetzte Fall angezweifelt: dass wir Subjekten, denen wir aus welchen Gründen auch immer die Fähigkeit absprechen, Einstellungen des Typs (I) zu haben, bedenkenlos Einstellungen der Typen (II) und (III) zuschreiben.
2.2 Ein Plädoyer für Propositionen
Propositionen werden durch das sprachliche Mittel eines mit ‚dass‘ eingeleiteten Nebensatzes...