DIE SCHLÜSSELPRINZIPIEN
SCHLÜSSELPRINZIP
AGONIST/ANTAGONIST: REZIPROKE HEMMUNG
Die Beziehungen zwischen Agonisten und Antagonisten setzen biomechanische und physiologische Schwerpunkte im Körper. Die Winkel und Stellungen der Gelenke verleihen einer Yogahaltung ihre Form. Die Kontraktion der Agonisten verringert den Winkel des bewegten Gelenks. Der Antagonist wird gedehnt und der Winkel an der Rückseite des Gelenks vergrößert. Die Kenntnis dieser Beziehung ist unerlässlich, um ein beliebiges Asana auszuarbeiten.
Sobald Sie die Muskelgruppen im Bereich aller wichtigen Gelenke kennen, sollten Sie sich auf die Kontraktion der Muskeln konzentrieren, die eine Haltung formen und präzisieren. Verlagern Sie den Fokus im Körper und aktivieren Sie die Agonisten, um auf biomechanischem Wege ihre Antagonisten zu ermitteln (wie im Abschnitt „So finden Sie den Schwerpunkt einer Haltung“ beschrieben). Die Kontraktion bewegt Ursprung und Ansatz eines Muskels aufeinander zu. Bei seinem Antagonisten hingegen werden Ursprung und Ansatz auseinandergezogen, der Muskel wird gedehnt.
ABBILDUNG 1 illustriert diese Beziehung zwischen Rückenstreckern (Erector spinae) und quadratischen Lendenmuskeln (Quadratus lumborum) auf der Rückseite sowie den Bauchmuskeln auf der Vorderseite des Rumpfes. Die Kontraktion der Rückenstrecker und quadratischen Lendenmuskeln streckt die Wirbelsäule, öffnet die Vorderseite des Körpers und dehnt die Bauchmuskeln.
ABBILDUNG 2 Wenn Sie einen Muskel bewusst kontrahieren, erhält sein Antagonist gleichzeitig vom Zentralnervensystem den Befehl zur Entspannung. Dieses Phänomen wird reziproke Hemmung genannt. Die Kontraktion der großen Gesäßmuskeln (Gluteus maximus) streckt die Hüften. Gleichzeitig bekommen die Lenden-Darmbein-Muskeln (Iliopsoas) den Befehl zu entspannen.
ABBILDUNG 3 zeigt Agonisten und Antagonisten des Hüftgelenks. Normalerweise beugen die Muskeln der Oberschenkelrückseite die Knie. Im Rad (Urdhva Dhanurasana) sind die Füße auf der Matte fixiert. Beim Versuch, sie zu den Händen zu ziehen, kontrahieren die hinteren Oberschenkelmuskeln und unterstützen so die Hüftstreckung. Lenden-Darmbein-Muskeln (Iliopsoas), gerade Oberschenkelmuskeln (Rectus femoris), Kammmuskeln (Pectineus), lange und kurze Schenkelanzieher (Adductor longus und brevis) bilden den Fokus der Dehnung.
ABBILDUNG 4 Ähnlich verhält es sich am Schultergelenk. Die Kontraktion der vorderen Deltamuskeln (Deltoideus anterior) und der oberen Trapezmuskeln (Trapezius) hebt die Arme. Der Brustbein-Rippen-Teil der großen Brustmuskeln (Pectoralis major) und andere Muskeln wie die großen Rückenmuskeln (Latissimus dorsi) werden gedehnt.
Der große Brustmuskel, der vordere Deltamuskel und der Unterschulterblattmuskel (Subscapularis) drehen den Oberarm einwärts (ABBILDUNG 5). Dadurch werden etwa in der Marichi-Haltung III (Marichyasana III) der Untergrätenmuskel (Infraspinatus), kleine runde Muskel (Teres minor) und hintere Deltamuskel (Deltoideus posterior) gedehnt ( ABBILDUNG 6).
ABBILDUNG 7 Die Beziehung zwischen Agonisten und Antagonisten beeinflusst auch die Armstreckung nach hinten, etwa im umgekehrten Brett (Purvottanasana). Die hinteren Deltamuskeln (Deltoideus posterior), großen runden Muskeln (Teres major) und großen Rückenmuskeln (Latissimus dorsi, nicht im Bild) strecken die Schultern. Die vorderen Deltamuskeln (Deltoideus anterior) und großen Brustmuskeln (Pectoralis major) werden gedehnt. Die Kontraktion der hinteren Deltamuskeln bewirkt die reziproke Hemmung der großen Brustmuskeln und ihrer Synergisten.
ABBILDUNG 8 Die Kontraktion der Trizepse (Triceps brachii) streckt die Ellenbogen und dehnt Bizepse (Biceps brachii), Oberarmmuskeln (Brachialis) und Rabenschnabeloberarmmuskeln (Coracobrachialis).
ABBILDUNG 9 Aktivieren Sie die zweiköpfigen Wadenmuskeln (Gastrocnemius) und die Schollenmuskeln (Soleus), um die Füße im Sprunggelenk Richtung Sohle zu beugen. Dies dehnt ihre Antagonisten, den vorderen Schienbeinmuskel (Tibialis anterior) und die Zehenstrecker. Beim umgekehrten Brett hemmt die bewusste Kontraktion der Plantarflexoren ihre Antagonisten. Die Fußsohlen lassen sich leichter zum Boden senken.
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MUSKELISOLATION
Aktivieren Sie die Muskelgruppen, die einem Asana seine Haltung geben, um Schwerpunkte zu setzen. Dadurch werden die Knochen automatisch korrekt ausgerichtet. Es folgen einige Hinweise, wie Sie bestimmte Agonisten isolieren können. Nutzen Sie diese Tricks (und entwickeln Sie eigene), um Praxis und Unterricht zu verbessern.
ABBILDUNG 1 Isolieren Sie die vorderen Deltamuskeln (Deltoideus anterior), um in Haltungen wie dem Rad (Urdhva Dhanurasana) die Schultern zu strecken. Versuchen Sie, die Hände zu den Füßen zu schieben. Da sie fixiert sind, wird die Brust nach vorne geschoben und die Haltung vertieft.
ABBILDUNG 2 Konzentrieren Sie sich in Haltungen wie dem Bogen (Dhanurasana) in ähnlicher Weise auf die hinteren Deltamuskeln (Deltoideus posterior), um die Schultern zu strecken und die Rückbeuge zu verstärken. Fassen Sie dazu die Fußgelenke und ziehen Sie sie nach oben.
ABBILDUNG 3 Bringen Sie mit den Agonisten die wichtigsten Gelenke in die richtige Position. Bei Rückbeugen sind die Hüften gestreckt. Dafür ist in erster Linie der große Gesäßmuskel (Gluteus maximus) zuständig. Rollen Sie das Steißbein ein und kneifen Sie den Po zusammen. Damit strecken Sie die Hüften, ziehen das Kreuzbein nach unten (Retroversion des Beckens) und schützen die Lendenwirbelsäule vor Überstreckung. Die Kontraktion der Gesäßmuskeln löst zudem eine reziproke Hemmung aus, sodass die Hüftbeuger entspannen.
ABBILDUNG 4 Wölben Sie in Haltungen wie dem Kamel (Ustrasana) den Rücken, um Rückenstrecker (Erector spinae) und quadratische Lendenmuskeln (Quadratus lumborum) isoliert zu kontrahieren. Dadurch werden die gedehnten Muskeln der Körpervorderseite wie der gerade Bauchmuskel (Rectus abdominis) reziprok gehemmt.
ABBILDUNG 5 Fixieren Sie in der Marichi-Haltung III (Marichyasana III) das Knie und drücken Sie mit der Rückseite des Arms dagegen. Diese Kontraktion in geschlossener Kette isoliert den großen Rückenmuskel (Latissimus dorsi), intensiviert die Drehung und öffnet die Brust.
ABBILDUNG 6 Fixieren Sie den Arm und drücken Sie mit der Außenseite des Knies dagegen. Dies aktiviert den Schenkelbindenspanner (Tensor fasciae latae) und den mittleren Gesäßmuskel (Gluteus medius). Da der Arm das Abspreizen des Knies verhindert, dreht die Kraft der Kontraktion den Oberschenkel einwärts – eine Sekundärfunktion der Abduktoren. Die Drehung wird verstärkt.
ABBILDUNG 7 Versuchen Sie, in der Vorbereitung zum Drehsitz (Parsva Sukhasana) die aufs Knie gepresste Hand zum Körper zu ziehen, um Trizeps (Triceps brachii), hinteren Deltamuskel (Deltoideus posterior) und großen Rückenmuskel (Latissimus dorsi) zu aktivieren. Der Rumpf wird gedreht, die Brust geöffnet.
ABBILDUNG 8 Versuchen Sie, die in die Matte gedrückte Hand nach vorne zu schieben, als wollten Sie den Arm heben. Dies aktiviert Bizeps (Biceps brachii), Oberarmmuskel (Brachialis), großen Brustmuskel (Pectoralis major) und vorderen Sägemuskel (Serratus anterior). Der Fokus auf diese Muskelgruppen verstärkt die Rumpfdrehung.
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DIE MUSKELSPINDELN
Wer Yoga praktiziert oder lehrt, sollte die Dehnungsrezeptoren sowie die Reflexbogen der Wirbelsäule kennen. Diese komplexen Rückkopplungsmechanismen bestehen aus drei Elementen: Einem Rezeptor auf Muskelebene, der Veränderungen der Länge und/oder der Spannung registriert; einem sensorischen Nerv zum Rückenmark, der diese Information an das Zentralnervensystem weiterleitet; und einem motorischen Nerv, über den der Muskel den Befehl zur An- oder Entspannung erhält.
ABBILDUNG 1 Bei einem dieser Reflexbogen dienen die Muskelspindeln als Rezeptoren. Sie erfassen Veränderungen der Muskellänge und -spannung. Wird ein Muskel zum Beispiel in einer Yogahaltung gedehnt, registrieren die Muskelspindeln die Zunahme der Länge und der Spannung und geben die Information ans Zentralnervensystem weiter. Das Signal gelangt über die sensorischen (afferenten) Nerven zum Rückenmark. Von dort ergeht über die motorischen (efferenten) Nerven wiederum der Befehl an den Muskel zu...