2.2 Wie und wofür Starke stark sind
Zweifellos sind auch starke und belastbare Menschen bedürftig. Wie alle Menschen sind sie auf der Suche danach, was sie emotional überleben und aufleben lässt. Die Motivationspsychologie erklärt, dass nicht erfüllte Grundbedürfnisse uns unermüdlich danach streben lassen, wie sie befriedigt werden können. Sie sind die unbewusste Absicht hinter unseren Aktionen und Reaktionen. Alle Menschen teilen die gleichen Grundbedürfnisse, wir brauchen und suchen Sicherheit, Anerkennung und Selbstbestimmung. Wir unterscheiden uns allerdings darin, welche dieser psychologischen Grundbedürfnisse für uns die höchste Priorität haben, das heißt welcher Mangel uns am härtesten trifft und umtreibt. Uns allen gemeinsam ist, dass die individuell wichtigsten Grundbedürfnisse der stärkste unbewusste Antrieb unseres Handelns sind. Vor diesem Hintergrund ist so manche unerklärliche oder unangemessene Reaktion subjektiv nicht sinnlos, auch wenn sie nicht zum gewünschten Ergebnis führt.
Richard hat in einem landwirtschaftlichen Elternhaus gelernt, in die Hände zu spucken. »Ob man die Tür aufmachte oder nicht, draußen wie drinnen war immer Arbeit da«, sagt er. Damit ist für ihn als ältesten von vier Geschwistern vorprogrammiert, wie er mit schwierigen Situationen umgeht: Nicht lange nachdenken, sondern pragmatisch das Nötige und Nützliche erledigen. Dafür gibt es keine besondere Anerkennung. Es ist eben notwendig, dass alle nach Kräften anpacken, damit der Betrieb läuft. Wer viel tut, kann allerdings auch viel mitreden. So wird es zumindest in seinem Elternhaus gehandhabt. Daraus erwächst bei Richard das Verhaltensmuster, schnell zu bestimmen, wo es langgeht, aber auch selbst tatkräftig anzupacken. Im Lauf der Zeit entwickelt er so eine ausgeprägte Eigenständigkeit, die für ihn einerseits selbstverständlich ist, auf die er aber auch großen Wert legt. Seine Geschwister, inzwischen längst erwachsen, würden es immer noch eher Eigenmächtigkeit nennen. Dennoch ist Richard in Krisenzeiten der Fels in der Brandung, auf den sich alle verlassen. Seine Schwester Johanna ist ihm sehr dankbar dafür, dass er ihr in einer schweren Ehekrise mit anschließender Scheidung unerschütterlich zur Seite gestanden hat, fühlt sich aber auch immer wieder von ihm bevormundet.
Richard ist ein »Macher«
Menschen wie Richard geht es in erster Linie um Selbstbestimmung und Eigenständigkeit. Ihre Stärke zeigen sie im beherzten Handeln. Macher haben verinnerlicht, dass es im Leben darauf ankommt, sich nicht unterkriegen zu lassen und nie aufzugeben. Der erste Impuls in einer schwierigen Situation ist für sie das Handeln. Macher wollen bestimmen oder zumindest mitbestimmen können, wie die Dinge laufen. Für sie ist es besonders wichtig, nicht abhängig zu sein. Sind andere ihnen nahestehende Menschen in Schwierigkeiten oder leiden sie, wollen Macher unbedingt etwas tun, um Abhilfe zu schaffen. Wenn sie helfen und sich einsetzen für andere, dann oft, indem sie vorangehen oder für die anderen handeln. Die Opferrolle vermeiden sie von vornherein, jede Art von Schwäche oder Unterlegenheit scheint ihnen traumatisch. Dadurch laufen sie jedoch Gefahr, zum Opfer ihres eigenen Durchhalteanspruchs zu werden. Bevor sie aufgeben, müssten sie schon völlig zusammenbrechen. Macher überfordern sich, weil sie nicht akzeptieren können, dass ihre Kräfte begrenzt sind. Um neue Wege zu gehen, brauchen sie die Gewissheit, dass sie nicht allein und nicht unaufhörlich die Welt bewegen müssen und können. Und sie brauchen das Vertrauen, dass sie nicht ausgenutzt, unterschätzt oder verachtet werden, wenn sie Schwächen zeigen.
Als Kind ist Luise zurückhaltend, viele finden sie sogar ausgesprochen schüchtern. Schon im Kindergarten mag sie weder beim Krippenspiel noch beim Sommerfest auf der Bühne stehen, sie hält sich lieber im Hintergrund. Luise lebt mit ihrer Mutter und deren Mutter zusammen, die nach einem Schlaganfall pflegebedürftig ist. Zwar werden Luise nicht ausdrücklich Pflichten auferlegt. Doch es bleibt ihr nicht verborgen, wie belastet ihre Mutter durch Berufstätigkeit, Haushalt und Pflege der Oma ist. Luise versucht ihren Teil beizutragen, ihr den Alltag zu erleichtern. Sie erledigt bedeutend mehr häusliche Aufgaben als andere Kinder ihres Alters. Nach der Schule liest sie ihrer Oma vor und bereitet ihr Essen und Trinken zu, was alsbald stillschweigend als ihre Aufgabe angesehen wird. Ihr Onkel besucht seine Mutter regelmäßig, dabei übernimmt er für Luise eine Art Vaterrolle, lässt sich ihre Schulhefte zeigen und weist sie darauf hin, wie sie sich verbessern kann. Er verfolgt ihre Fortschritte, hat aber auch ein wachsames Auge auf Fehler und Unzulänglichkeiten. Alle sind überzeugt, dass Luise ein intelligentes Mädchen ist, dessen Zeugnisse noch besser sein könnten. Luise lernt gut aufzupassen, dass sie nichts vergisst oder falsch macht. Zwar wird sie dafür nicht direkt bestraft, aber sie spürt die enorme Erwartungshaltung der Erwachsenen. Deren Erwartungen verinnerlicht sie, bis sie schließlich zu eigenen Anforderungen an sich selbst werden. Noch heute als über Vierzigjährige arbeitet Luise gewissenhaft ihre Todo-Listen ab, bevor sie sich Feierabend oder Ruhepausen gönnt. Beim Lesen und beim Baden kann sie entspannen – sofern alles erledigt ist. »Ich weiß natürlich vom Kopf her, dass ich erst mal in der Badewanne mit einem Krimi das Wochenende einläuten könnte. Aber gefühlt ist es einfach nicht in Ordnung, solange die Wohnung nicht aufgeräumt ist«, sagt sie. In besonders stressigen Phasen schreckt sie sogar manchmal aus einer Tätigkeit hoch mit dem Gefühl, etwas anderes vergessen zu haben, was auch noch zu erledigen ist.
Luise gehört zu den »Funktionierern«
Für sie ist in erster Linie Absicherung wichtig. Sie sind bemüht, alles richtig zu machen. Funktionierer versuchen die Erwartungen anderer zu erfüllen und den Laden in jedem Fall am Laufen zu halten. Sie wollen sich keine Fehler und Versäumnisse nachsagen lassen. Ihnen geht es nicht so sehr darum, ihre Interessen zu vertreten und sich durchzusetzen oder sich durch ihr Tun für andere unersetzlich zu machen. Funktionierer setzen ihre Energie vor allem dafür ein, nirgends anzuecken, niemanden zu enttäuschen, nichts falsch zu machen. Sie wollen sich darauf verlassen können, dass Aufgaben und Pflichten so erledigt werden, wie es nach Maßstäben von Ordnung und Absicherung sein sollte. Funktionierern ist es besonders wichtig, auf verlässliche Informationen, Abläufe und Strukturen zählen zu können. Damit das gewährleistet ist, versuchen sie, solche Strukturen zu schaffen. Sie sind genervt bis verzweifelt, wenn andere sich nicht daran halten. Wenn sie helfen und sich einsetzen für andere, dann oft aus Sorge und Pflichtgefühl heraus und um Schlimmes zu verhüten. Auf den ersten Blick wirken Funktionierer nicht einmal besonders stark, sondern eher bemüht und tüchtig. Doch sie lassen nicht locker. Selbst wenn sich schon Kopfschmerzen ankündigen, wenn sie keine Lust mehr haben, wenn ihnen alles auf die Nerven geht oder zur Last fällt, machen sie unermüdlich weiter und tun, was sie für ihre Pflicht halten oder womit sie kein Missfallen erregen. Sie verausgaben sich, damit man ihnen nichts vorwerfen kann und sie niemandem etwas schuldig bleiben. Oft sind sie von der Angst getrieben, Wichtiges versäumt zu haben oder schuld zu sein, wenn etwas schief geht. Um neue Wege zu gehen und entspannter zu sein, brauchen Funktionierer die Gewissheit, dass niemand sie wegen Nachlässigkeit oder Pflichtvergessenheit zur Rechenschaft zieht. Und sie brauchen das Vertrauen, dass weder ihnen noch anderen etwas passiert, wenn sie nicht alles unter Kontrolle haben.
Stefan ist ein freundliches und liebes Kind. Gerne kuschelt er sich bei Mama, Opa oder Oma an, wenn sie zusammen fernsehen oder sich unterhalten. Er spielt auch mit den kleineren Kindern aus der Nachbarschaft und kümmert sich um sie, wenn sie sich wehgetan haben. Allerdings leidet Stefan sehr darunter, dass sein Vater seinem wilderen Bruder Torsten viel mehr Aufmerksamkeit schenkt. Er versucht bei seinem Vater Eindruck zu machen, indem er ihm kleine Gefälligkeiten erweist und Geschenke bastelt. Doch der ist mehr angetan von Torstens sportlichen Erfolgen. Seine Mutter gibt Stefan dagegen häufig zu verstehen, wie schön es ist, dass er schon so verständig und fürsorglich ist. Sie weiht Stefan ein, wenn ihr Mann etwas nicht wissen soll. Stefan hilft ihr dabei, dass ihre Heimlichkeiten nicht auffliegen. Wenn sie sagt »Was würde ich nur machen ohne dich!«, macht ihn das stolz und glücklich. Er fühlt sich dadurch aber auch derart gebunden, dass er seine...