Kapitän Ulrich Prahn
I. Im Packeis
Die folgende Geschichte spielte sich im Jahr 1968 ab. Zu dieser Zeit war ich Erster Offizier auf dem Hochseetrawler Ros 404 »Elvira Eisenschneider«.
Wie jeden Winter fischten wir bei Labrador. Dort betrieben wir Übergabefischerei, unsere »Elvira Eisenschneider« gehörte zu einer Reihe von Trawlern, welche ihren Fang regelmäßig an das Mutterschiff »Junge Garde« abgaben.
Tagsüber lagerten wir den Fisch in Bunkern. Jeden Abend wurde er, noch fangfrisch, in den Übergabesteert, einen Netzsack, gepumpt. Um diesen Steert schwimmfähig zu halten, versahen wir ihn mit großen Blasen. Anschließend befestigten wir an ihm ein dickes Tau, den sogenannten Übergabetampen, und eine Kork- oder Schwimmleine. Die »Junge Garde« konnte den Steert dann mit einem Draggen aufpicken und über eine Heckslip an Deck ziehen. Auf dem Mutterschiff erfolgte anschließend die weitere Verarbeitung des Fisches. Diese Art der Fischerei erwies sich als sehr effektiv, doch die Übergabe gestaltete sich oft schwierig und führte zu manch gefährlicher Situation.
Ein folgenschwerer Zwischenfall ereignete sich auch auf jener Märzreise 1968, von der hier zunächst die Rede sein soll. Sturm, Kälte und Treibeis hatten uns seit mehreren Tagen das Leben schwer gemacht und die Übergabe regelmäßig zu einer Zitterpartie werden lassen. Eines Abends passierte es dann: der Übergabetampen zog sich in die Schraube des Mutterschiffes, und die »Junge Garde«, nunmehr manövrierunfähig, trieb immer weiter ins Eis.
Mancher fragt sich vielleicht, warum wir mitten im Treibeis überhaupt fischten? – Nun, es gab während des späten Winters kaum eisfreie Zonen in jener Gegend: Der mächtige Labradorstrom beförderte jedes Jahr im März gewaltige Mengen von Treibeis gen Süden. Auch hielt sich der Fisch bevorzugt unter dem Eis auf, und ihm stellten wir ja nach. Auf der Jagd nach unserer Beute ignorierten wir die Gefahr und wurden täglich mutiger. Nach mehreren Wochen »im Fisch« hatten wir keinerlei Blick mehr für die imposanten, aber heimtückischen Treibeisfelder. Normalerweise ging alles gut aus, doch dieses Mal gerieten alle beteiligten Schiffe im wahrsten Sinne des Wortes in gefährliches Fahrwasser.
Auf Fischfang bei Labrador, 1968
Der Wind aus Nordosten drückte die »Junge Garde« also in den Packeisgürtel hinein. Da das Schiff weder Maschine noch Ruder benutzen konnte, war es den Kräften des Eises hilflos ausgeliefert.
Wir, die »Elvira Eisenschneider«, und mit uns die »Artur Becker« (Ros 401) wurden beordert, die »Junge Garde« freizuschleppen. Das war leichter gesagt als getan. Der Sturm behinderte unsere Versuche, auch machte unseren Schiffen die hohe Dünung, die unter dem Eis lief, zu schaffen.
Schön, aber klirrend kalt: vereistes Deck des Trawlers
Wenn die »Junge Garde« andersherum gelegen hätte, wäre sie freigekommen und an der Eiskante entlang getrieben. Deshalb hätten wir das Schiff am liebsten gedreht, doch dazu bot sich uns keinerlei Möglichkeit.
Während unser Kapitän noch überlegte, wie er überhaupt einigermaßen gefahrlos an das Mutterschiff heranfahren sollte, geschah das Befürchtete: Das Eis schlug die »Junge Garde« auf der Backbord-Seite leck, das Schiff erlitt einen Wassereinbruch. Gewaltige Mengen Wasser strömten in den Maschinenraum.
Etwa zur gleichen Zeit ereignete sich auf der »Artur Becker« ein Unfall. Beim Versuch, eine Schleppverbindung zur »Jungen Garde« herzustellen, brach sich ein Seemann den Arm und musste erst einmal versorgt werden. Jetzt war also unser Schiff, die »Elvira Eisenschneider«, gefordert. In Anbetracht der äußerst gefährlichen Situation, in der sich das Mutterschiff befand, riskierte unser Kapitän alles und fuhr ungeachtet der Eismassen dicht an die »Junge Garde« heran. Schnell gelang es uns, die Leine nach seemännischem Brauch festzumachen, aber als wir anschleppen wollten, rührte sich unser Schiff nicht. Die starke Eispressung verhinderte, dass wir Fahrt aufnahmen. Wir saßen nun auch fest!
Da wir die Schleppleinen nicht gegen den Wind hatten übergeben können, waren wir an die Backbord-Seite des Mutterschiffs herangefahren und damit tiefer ins Eis geraten als dieses selbst.
Wir lagen nun ca. 50 bis 100 Meter vor dem Backbord-Bug der »Jungen Garde«, die das zwischen beiden Schiffen liegende Packeis gegen uns drückte. An Backbord hatten wir zusätzlich das »normale« Treibeis. Wir konnten weder vorwärts noch rückwärts, dafür knackte es bedrohlich. Schon befürchteten wir, durch den Eisdruck an beiden Seiten zerquetscht zu werden, als auch schon der Chief im Laufschritt aus dem Maschinenraum heraufkam und unsere Ahnungen bestätigte: »Das kracht da unten und die Spanten biegen, da kann man zugucken.«
In dieser ungemütlichen Situation beschlossen wir, den Schiffsrat zusammenzuholen. Nach längerer Beratung kamen wir zu dem Entschluss, Notausstiege für eine eventuelle Evakuierung der Besatzung vorzubereiten. Wir ließen Netze und Knotentampen auf beiden Seiten der Reling bis aufs Eis hinab. Um Panik zu vermeiden, sagten wir der Besatzung zunächst, unsere Notausstiege seien Rettungsleitern für die Männer der »Jungen Garde«, falls sie über das Eis zu uns herüberkommen würden.
Trotzdem gab es sicher niemanden an Bord, der sich nicht seine Gedanken machte. Jedenfalls verbrachten wir eine schreckliche Nacht, unsere Gefühle schwankten zwischen Hoffnung und Angst. Schlafen konnte niemand, zumal der Sturm immer stärker tobte und beide Schiffe durch die unter dem Eis laufende hohe Dünung schwer krängten.
Inzwischen hatte die »Junge Welt«, ein Schwesternschiff der »Jungen Garde«, ihr Kommen angekündigt. Sie war in der Nähe mit zehn Zubringer-Trawlern unterwegs und wollte uns nun zu Hilfe eilen. Auch dieser Kapitän erfasste den Ernst der Lage, in dem die »Junge Garde« und wir uns befanden. Er ignorierte das Risiko und fuhr, ebenfalls zum Äußersten entschlossen, in den Eisgürtel hinein. Es dauerte nur Minuten, da demolierte das Eis die Schraube. Nun waren wir drei Schiffe, die im Eis gefangen lagen.
Doch immer, wenn die Situation aussichtslos zu werden droht, naht Rettung von unerwarteter Seite.
Es war schließlich das Wetter, das ein Einsehen hatte. Gegen Nachmittag des nächsten Tages drehte der Wind auf Nordwest. Er nahm den Druck von uns, und wir trieben allmählich ins freie Wasser zurück. Nach sechsunddreißigstündigem Kampf gegen die Naturgewalten konnten wir langsam und vorsichtig anschleppen und die »Junge Garde« aus dem Packeisgürtel herausdrehen. Es ist schwer, meine Erleichterung angesichts des glimpflichen Ausgangs unseres Abenteuers in Worte zu fassen. Nach den Anstrengungen der letzten Tage waren wir nun beides: glücklich und erschöpft.
Da die »Junge Garde« manövrierunfähig war, wurde sie von zwei Zubringer-Trawlern nach St. John’s (Kanada) geschleppt, während die »Junge Welt« die Heimreise antreten sollte. Ein Gespann brachte sie bis Skagen. Dorthin kam der Eisbrecher »Stephan Jantzen«, um sie auf den Haken zu nehmen und nach Hause zu bringen.
Die »Elvira Eisenschneider« in der Werft von Marystown
Die »Elvira Eisenschneider« hingegen wurde nach Marystown, Südneufundland, beordert. In diesem kleinen Hafen hatten die Einheimischen eine moderne Werft für ihre Fischdampfer gebaut, und diese Werft steuerten wir nun an. Sie tat in der Folge ihr Bestes, um unser Schiff notdürftig zusammenzuflicken. Die Reparatur gelang und wir konnten schon bald unseren Fangplatz wieder ansteuern und die Fischerei fortsetzen.
II. Der Brand
Nach beendeter Reise ergab eine Inspektion der »Elvira Eisenschneider«, dass durch die Eiseinwirkung zahlreiche Spanten im Wasserlinienbereich angeknickt oder verbogen waren. Sie benötigte ohne Zweifel eine Generalüberholung.
Als erstes DDR-Schiff sollte sie nach Szczecin in die Werft »Szczecinska Stocznia Remontowa«, also fuhren wir mit einer wenige Mann umfassenden Mindestbesatzung nach Polen. Aufgrund der Unterwasserschäden musste sie eingedockt werden. Auch nahmen die Ingenieure umfangreiche Stabilitätsberechnungen vor, denn sie waren sich nicht sicher, ob das Schiff überhaupt zusammenhielt, wenn man eine große Anzahl von Spanten und Stahlplatten auswechseln würde. Erst nach sorgfältiger Abwägung gingen sie das Risiko einer Reparatur ein.
Eines Abends saß unsere kleine Besatzung gemeinsam mit dem Werftdirektor, dem Bauleiter und weiteren wichtigen Persönlichkeiten zu Bordabsprachen in der Kapitänskammer. Der Werftdirektor, der sehr gut Deutsch sprach, wollte uns ein wenig aufheitern und sagte unvermittelt: »Polen ist das reichste Land der Welt.«
Er wartete darauf, dass wir nun fragten, warum er dieser Ansicht sei. Als wir ihm den Gefallen taten, antwortete er verschmitzt: »Ja, ja, alles klaut, und es ist immer noch etwas da.«
Wir lachten...