4.
Die Bühne bricht ein
Piggeldy und Frederick. Die beiden Schweine aus dem »Sandmännchen« sind mir aus jenen Jahren in so lebhafter Erinnerung, als wären sie wahrhaftig unsere Gefährten gewesen. Nicole und Nadine liebten diese zwei rosaroten Brüder, die einer hinter dem anderen durch die Welt stapften – den kleinen Piggeldy, der vorwitzig seine cleveren Fragen stellte, und den großen Frederick, der gewichtig dreinschaute und vorgab, auf alles eine Antwort zu wissen. Für mich waren die beiden mit ihrem Wortwitz und ihrer bestechend einfachen Lebensphilosophie, die zum Lachen, aber auch zum Nachdenken reizte, vielleicht sogar ein Ersatz für meinen Clown, an den ich nie mehr dachte.
In beiden erkannte ich mich: So wie Piggeldy kamen mir oft Fragen in den Sinn, die »man« eigentlich nicht stellen durfte. Und so wie Frederick verlangte ich stets von mir, für alle Probleme eine Lösung parat zu haben und auf jede Frage eine Antwort zu wissen. Die beiden Schweine brachten uns drei – Nicole, Nadine und mich – dazu, in unserem turbulenten Leben innezuhalten. »Gleich kommen Piggeldy und Frederick!«, wurde zu einer Art Formel in unserem Alltag. Sie bedeutete: Gleich kommen zehn Minuten, die nur uns gehören, in denen wir beisammen sitzen und miteinander staunen, lachen, grübeln, rätseln. Dass die Namen der beiden liebenswerten Gesellen für uns schon bald noch eine ganz andere Bedeutung erlangen würden, hätte ich mir nicht träumen lassen.
Die Kinder waren lebhaft und aufgeweckt und wären am liebsten den ganzen Tag herumgetollt. Um zu begreifen, dass auch ihre immer präsente Mutter sich ab und an nach ein wenig Ruhe sehnte, waren sie zu klein.
Obwohl Nicole ein temperamentvolles Kind voller Bewegungsdrang war, das am liebsten mit den wildesten Jungen des Kindergartens spielte, verblüffte sie mich immer wieder mit ihrem erstaunlichen Sinn für Ordnung. In ihrem Zimmer hatte jedes Ding seinen Platz – während ihre kleine Schwester in ihrem eigenen Zimmer mit Vorliebe alles durcheinander schmiss.
Nicoles Gesundheit war immer robust gewesen. Von den üblichen Kinderkrankheiten abgesehen, hatte sie höchstens gelegentlich eine kleine Verletzung, wie energiegeladene Kinder sie sich beim Spielen zuziehen. An aufgeschlagene Knie und verknackste Knöchel waren wir gewöhnt, weshalb wir es zunächst nicht weiter ernst nahmen, als Nicole Anfang Oktober auf einmal über Schmerzen im linken Oberschenkel klagte. Sie musste sich irgendwo gestoßen haben, vermuteten wir. Als die Schmerzen jedoch nach ein paar Tagen nicht nachließen, beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Kurzerhand packte ich beide Kinder ein und fuhr mit ihnen zu einem Orthopäden.
Nicole war kein wehleidiges Kind. Gejammer kannten wir von ihr kaum, doch dass das Bein ihr wehtat, war nicht zu übersehen. Der Orthopäde versuchte, die Sache zu verharmlosen. Schmerzen bei Kindern in dem Alter kämen öfter vor, das liege am Wachstum und sei kein Grund zur Aufregung. Nur weil ich keine Ruhe gab, ließ der geplagte Mann sich schließlich widerstrebend dazu herab, ein Röntgenbild von Nicoles Bein anzufertigen. Leider beschränkte er sich dabei auf das Kniegelenk und fand, wie er erwartet hatte, nichts. »Na sehen Sie«, brummte er. »Alles in bester Ordnung. Wahrscheinlich ist das kleine Fräulein einfach zu faul zum Laufen.«
Mir gefiel nicht, dass er so abfällig von meiner Tochter und ihren Schmerzen sprach, und wenn Nicole etwas nicht war, dann zu faul zum Laufen – im Gegenteil, wir fragten uns zuweilen, ob ihre flinken kleinen Beine überhaupt jemals müde wurden. Dennoch bemühte ich mich, dem Arzt zu vertrauen. Wenn auf dem Röntgenbild nichts zu sehen war, konnte da schließlich auch nichts sein, versuchte ich mich zu beschwichtigen. Zumindest halbwegs beruhigt fuhr ich mit meinen Kindern nach Hause. Wir kamen gerade noch rechtzeitig zu »Piggeldy und Frederick«.
In den nächsten Tagen war von den Schmerzen keine Rede mehr. Nicole tollte wie eh und je herum, und als an einem Nachmittag Patrick, ihr bester Freund aus dem Kindergarten, zu Besuch kam, hatte ich den Eindruck, eine Herde Wildpferde sei in unserer Wohnung unterwegs. »Es wird höchste Zeit, dass der Frühling kommt und sie zum Spielen in den Garten gehen können«, dachte ich mit einem Lächeln, während ich den beiden zusah. Zirkus spielten sie, drehten im Galopp ihre Runden durch die »Manege«, kletterten auf selbst gebaute Trapeze und purzelten als Clowns übereinander. Sekundenlang erfasste mich Wehmut bei der Erinnerung an meinen eigenen Traum vom Clown. Gleich darauf aber ließ ich mich von der Fröhlichkeit der Kinder anstecken. Noch heute sehe ich Nicole vor mir, wie sie weltvergessen mit ihrem Freund durch alle Zimmer sprang. Hätte mir in diesem Augenblick jemand prophezeit, dass ich sie so ausgelassen nie wieder spielen sehen würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. In dieser Nacht schlief Nicole nicht gut. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, schreckte immer wieder aus dem Schlaf und rief nach uns. Abwechselnd gingen Rudolf und ich ins Kinderzimmer, um sie zu beruhigen und zu trösten. Was verursachte diesen Spuk? War das ausgelassene Toben am Tag doch zu viel für sie gewesen oder brütete sie eine Erkältung aus? Wieder klagte sie über die Schmerzen im Oberschenkel und musste sich sogar das Weinen verkneifen – aber der Arzt hatte doch gesagt, es sei alles in Ordnung! Wir gaben ihr ein Schmerzmittel für Kinder und blieben an ihrem Bett sitzen, bis sie endlich eingeschlafen war. Selbst fanden wir in dieser Nacht jedoch keinen Schlaf mehr, und wie gerädert standen wir am nächsten Morgen auf.
Es war ein Freitag, der 18. Oktober 1991. Das Datum hat sich mir ins Gedächtnis geprägt und wird nicht mehr daraus zu löschen sein. Rudolf hatte sich Urlaub genommen, weil verschiedene Dinge zu erledigen waren, und ich wollte rasch Nicole in den Kindergarten bringen und dann wie jeden Freitag einen Nusskuchen backen – den Lieblingskuchen meiner Familie, auf den wir uns die ganze Woche über freuten. Draußen stürmte und regnete es, und umso gemütlicher würde es sein, wenn wir heute Abend alle beisammen um den Küchentisch saßen, Tee tranken und Kuchen aßen.
Den Plan, Nicole in den Kindergarten zu bringen, konnte ich vergessen. Sie lag in ihrem Bett und krümmte sich vor Schmerzen. Ich zog behutsam die Decke von ihren Beinen und sah, dass der linke Oberschenkel dick angeschwollen war. Als ich die Schwellung versehentlich streifte, schrie Nicole gellend auf.
»Mir reicht es«, platzte mein Mann heraus. »Was immer dieser Orthopäde gesagt hat, irgendetwas stimmt nicht mit ihrem Bein, und das finden wir jetzt heraus. Ich fahre mit Nicole zu Doktor Scholz.«
Das war eine gute Idee, fand ich. Doktor Scholz war seit vielen Jahren unser Hausarzt, kannte beide Kinder seit ihrer Geburt und würde uns nicht mit leeren Floskeln abspeisen. »Bis das Prachtstück aus dem Ofen ist, sind wir wieder zurück«, sagte Rudolf mit einem Fingerzeig auf meine Teigschüssel. Ich wusste, er wollte mich beruhigen, doch seinem Gesicht sah ich an, dass er selbst alles andere als ruhig war. Mein Mann, der sonst in allen Lebenslagen die Fassung bewahrte, war kreidebleich, und auf seiner Stirn stand ein Schweißfilm.
Dieses eine Mal war ich froh, dass Nadine wieder einmal voller Energie und Tatendrang steckte und mich mit ihren Spielzeugkisten, die sie in der gesamten Wohnung entleerte, von meinen Sorgen ablenkte.
An dem Tag aber gelang es mir nicht, mich auf Nadines Spiel zu konzentrieren. Immer wieder wanderte mein Blick nach der Uhr über dem Herd, und mit zum Bersten gespannten Nerven wartete ich auf das erlösende Klingeln, das verriet, dass Rudolf und Nicole zurück waren. Natürlich übertrug sich meine Unruhe auf Nadine, und so dauerte es eine wahre Ewigkeit, bis ich den Kuchen schließlich in den Ofen schieben und die Kleine zum Mittagsschlaf hinlegen konnte. Nun saß ich allein in der totenstillen Wohnung, die allmählich von den köstlichen Düften des Kuchens durchzogen wurde, und fragte mich, ob ihn an diesem Tag wohl jemand essen würde.
In diesem Moment läutete das Telefon. Mit einem Satz war ich im Korridor und riss den Hörer von der Gabel. Mein Mann meldete sich. Sichtlich bemühte er sich darum, ruhig zu sprechen, doch mir kam es vor, als spulte er die Worte ab wie ein Automat. »Julia, du musst mir jetzt genau zuhören.«
Warum um alles in der Welt hätte ich ihm denn nicht zuhören sollen?
Mit seiner Automatenstimme berichtete er, Doktor Scholz habe ihn unverzüglich zu einem anderen Orthopäden überwiesen, um eine neue Röntgenaufnahme von Nicoles Bein machen zu lassen. Der Orthopäde zögerte keine Sekunde lang, sondern schickte meinen Mann mit unserer Tochter in die Kinderklinik nach Karlsruhe. »Es ist nichts Banales, Julia«, sagte Rudolf tonlos. »Nicole hat einen Tumor im Oberschenkel. Sie muss operiert werden.«
Es kam mir vor, als spräche er Latein oder Chinesisch mit mir. Ich verstand kein Wort, die Bedeutung des Gehörten kam bei mir nicht an. »Kannst du sofort herkommen?«, fragte er mich, ehe wir auflegten. Ich nickte heftig, ohne daran zu denken, dass er mich durch die Leitung ja nicht sehen konnte.
War ich nach dieser Nachricht überhaupt noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen? Ziellos lief ich durch alle Zimmer und sprach Rudolfs Worte wieder und wieder vor mich hin. Sie kamen einfach nicht bei mir an! Tumor – Kinderklinik – Operation, das konnte doch nichts mit uns zu tun haben, mit Nicole, die sich beim Sport im Kindergarten verletzt haben musste, wie es eben vorkam! Ich hielt es nicht länger in der Wohnung aus, musste in die Klinik und mir von den Ärzten bestätigen lassen,...