Vorwort
Darf man heute noch, in Zeiten der Globalisierung, eine Nationalgeschichte schreiben? Eine erste positive Antwort auf diese Frage könnte lauten, dass die Kenntnis anderer Nationalgeschichten hilft, die in Deutschland immer noch bestehende Fixierung auf die »eigene« Geschichte zu durchbrechen und zu ergänzen. Denn erst mit der Kenntnis verschiedener Nationalgeschichten werden die Voraussetzungen geschaffen, um überhaupt europäische Geschichte schreiben zu können. Jedoch stoßen wir im Falle Portugals – wie bei anderen Nationalgeschichten auch – unweigerlich auf ein Problem: Seit wann gibt es das portugiesische Volk oder die portugiesische Nation überhaupt? Die jüngere Forschung ist bei dieser Frage sehr zurückhaltend, geht von langsamen, keinesfalls gleichmäßig verlaufenden Prozessen aus. Erschwert wird eine Antwort weiterhin dadurch, dass in Portugal erst im 12. Jahrhundert – im Vergleich zu anderen europäischen und selbst iberischen Nachbarn somit ausgesprochen spät – ein eigenständiges Königtum entstand. Dabei hat die römische Bezeichnung Lusitania zwar zahlreiche Wortbildungen beeinflusst, die mit Portugal verknüpft sind, allerdings nicht den Namen des Landes.
Während in manchen Fällen die alten Namen des Römischen Reiches auf Länder übergingen und teilweise bis heute Bestand haben – man denke an Italia oder Hispania, bedingt auch Belgica – entwickelte sich etwa der Name Deutschland aus der Bezeichnung für die Sprache – theodisk –, die Bezeichnung Frankreich wiederum mit Blick auf die gens der Franken. Wie stand es im Falle Portugals? Hier war es eine Stadt beziehungsweise ein Hafen, der für den Namen des Landes entscheidend wurde: Porto (Portucalis). An der atlantiknahen Mündung zweier Flüsse in den Douro/Duero und am Kreuzungspunkt der Straße von Tuy nach Lissabon lag calis, cale (Pfad, Steig), das bald mit der Bezeichnung für Hafen/Flussmündung (portus) verbunden wurde (Portucale). Mit der Bezeichnung Portucale seit dem frühen Mittelalter war sowohl das umliegende Territorium dieses Schnittpunktes gemeint, aus dem das Königreich Portugal hervorging, als auch die Stadt Porto. Dass sich dieser Name, der aus einer Grenzstadt im Norden des heutigen Landes abgeleitet wurde, und nicht Lusitania für das spätere Königreich durchgesetzt hat, ist nicht ohne Bedeutung. Es könnte darauf verweisen, dass die Reconquista bei der Namensbildung prägend wurde, denn ab dem 8. und 9. Jahrhundert wurde das seit 711 von den Muslimen unterworfene Territorium von Norden her, wo auch Porto lag, zurückerobert.
Aber wann begreift sich ein Volk als solches, oder wann verstehen sich große Teile eines Volkes als Einheit? Für viele europäische Länder und die in Folge der »Völkerwanderung« entstandenen Reiche war das Konzept der »Ethnogenese« hilfreich. Demnach kam es nur unter bestimmten Bedingungen und in gewissen Fällen zur Ausbildung von so genannten Traditionskernen. Darunter verstand man Personengruppen, die zum Beispiel durch die Vorstellung einer gemeinsamen Herkunft eine eigene, spezifische Identität entwickelten, aber ständigem Wechsel unterworfen waren. Sind solche Überlegungen jedoch auf den portugiesischen Raum übertragbar, wo zwar die Sueben, später die Westgoten lange Zeit herrschten, aber gleichzeitig wichtige hispano-romanische Traditionen fortbestanden und die muslimischen Eroberungen außerdem gentile Strukturen teilweise zerstörten?
Aus diesen Voraussetzungen ergibt sich, dass eine Geschichte Portugals immer in die allgemeine iberische Geschichte eingebettet sein muss. Dies haben beide Autoren des vorliegenden Bandes in ihren jeweiligen Abschnitten je nach Epoche und sachlicher Notwendigkeit berücksichtigt. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass in Deutschland eine moderne Gesamtdarstellung der portugiesischen Geschichte bisher fehlt (lediglich eine zweibändige Geschichte von Lautenbach 1932–1937 und die Übersetzung einer 1995 in Portugal vorgelegten Zusammenfassung von Oliveira Marques von 2001 liegen vor), während in anderen Ländern einige größere Darstellungen auf dem Markt sind. Man denke etwa nur an die englischsprachige Geschichte Portugals von Livermore oder an die jüngere zweibändige von Disney; auch in Frankreich gibt es von Jean-François Labourdette eine relativ neue Gesamtdarstellung. In Portugal selbst ist eine Reihe großer, teilweise monumentaler Überblickswerke entstanden. Die siebenbändige sogenannte Barcelos Geschichte (»História de Portugal«) ist unter der Leitung von Damião Peres in den Jahren 1928 – 1935 erschienen. Sie bleibt nach wie vor ein Referenzwerk für viele Details, besonders der politischen Geschichte. Nach 1970 sind allein vier große Geschichten Portugals publiziert worden, zunächst von Joaquim Veríssimo Serrão die »História de Portugal« (Lissabon 1977–2001). In den 14 Bänden wird ein eher konservativer politikgeschichtlicher Akzent gesetzt. Die achtbändige »História de Portugal«, die von dem Mediävisten José Mattoso 1992 bis 1994 herausgegeben wurde, räumt der mittelalterlichen Entwicklung zwar großen Raum ein, bleibt aber auf Grund der Vielzahl der Autoren sehr unterschiedlich im Zugriff. Die von João Medina betreute »História de Portugal dos tempos pré-históricos aos nossos dias«, 1995 erschienen, stammt ebenfalls aus der Feder verschiedener Beiträger und liegt in 15 Bänden vor. Die vierte und wichtigste Geschichte ist sicherlich die »Nova História de Portugal«, die Joel Serrão und A. H. de Oliveira Marques vorgelegt haben und deren Publikation 1986 begann. Bisher sind dreizehn Bände erschienen. Die Tendenz dieses groß angelegten Werkes hebt sich insofern von den zuvor genannten umfangreichen Handbüchern ab, als die Strukturen wesentlich stärker als die politische oder die Ereignisgeschichte in den Fokus gerückt werden.
Wer umfassend und detailliert informiert werden möchte, muss zu diesen großen Werken oder zu der im Literaturverzeichnis aufgeführten Spezialliteratur greifen. Das Anliegen unserer Darstellung ist hingegen ein konziser, verschiedene historische Bereiche und Methoden berücksichtigender Überblick. Dabei wird in einem ersten Kapitel auch der Geschichte Portugals vor der Entstehung des Reiches Raum gewährt, waren doch schon vor den ersten Königen immer wieder Tendenzen eines gewissen Eigenbewusstseins im westiberischen Raum festzustellen, die sich im 11. Jahrhundert deutlich verstärkten. Im zweiten Kapitel wird die Entstehung eines eigenständigen Königtums aus verschiedenen Facetten beleuchtet. Grundsätzlich geht es darum, in wie weit die politische und kirchenpolitische Entwicklung ineinandergriffen. Die Reconquista hat hier ihren Platz, denn sie hat sicherlich die Entstehung und Konsolidierung des Königtums begleitet und gefestigt. Das dritte Kapitel zeichnet vor allen Dingen die politische Entwicklung der ersten (burgundischen) Dynastie Portugals bis zum Bruch in der Krise 1383–1385 nach, an deren Ende der Beginn des Hauses Avis stand. Die grundlegenden Entwicklungen von Wirtschaft und Gesellschaft sowie von Kirche und Kultur werden in eigenen Unterkapiteln herausgearbeitet. Der vierte Abschnitt des mittelalterlichen Teils thematisiert die Zeit, die auch in den meisten portugiesischen Darstellungen besonders ausführlich gewürdigt wird: das 15. Jahrhundert als Epoche der beginnenden Europäischen Expansion. Dabei werden wissenschaftliche Entwicklungen, Eroberungs- und Kolonisationszüge auf die atlantischen Inseln und nach Nordafrika sowie die Afrikafahrten und die beteiligten Akteure eingehend vorgestellt.
Die Darstellung des 15. Jahrhunderts als Epoche der beginnenden Europäischen Expansion bietet den Ausgangspunkt, um im folgenden Kapitel in die neuzeitliche Geschichte Portugals einzutreten. Dabei geht es vor allem um die Anfänge des Kolonialimperiums in Afrika, sodann um den Estado da India, anschließend um die China- und die Japanmission der Portugiesen und schließlich um die Stellung Brasiliens im Kolonialimperium Portugals. Das Kapitel »Zwischen Mittelalter und Neuzeit: Wirtschaft, Politik und Kultur« beschäftigt sich mit den ökonomischen Binnenwirkungen des Kolonialhandels, beschreibt die politischen Zentralisierungstendenzen des Frühabsolutismus und widmet sich kulturellen Erscheinungen wie Renaissance, Humanismus und bildender Kunst als Spiegelung von Ruhm und Reichtum der überseeischen Ausbreitung.
Zwischen 1580 und 1640 waren Spanien und Portugal für die Dauer von 60 Jahren in Personalunion vereint. Im Kapitel über diese Iberische Union wird die Konstellation geschildert, die zum Ende des Königshauses Avis und zur Übernahme des portugiesischen Throns durch Philipp II. von Spanien führte. Unter den Günstlingsherrschern der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam es bald zu einer Entfremdung zwischen Spanien und Portugal; 1640 erfolgte, als Reaktion auf die Zentralisierungsbestrebungen durch »Ministerpräsident« Olivares, die Wiederabspaltung Portugals von Spanien. Der Herzog von Bragança übernahm den portugiesischen Thron. Die endgültige Anerkennung der Unabhängigkeit Portugals von Spanien fand erst 1668, nach jahrelangen erbitterten Kämpfen zwischen beiden Ländern statt.
Das Kapitel über »Absolutismus und Merkantilismus« skizziert die wirtschaftliche und die politische Entwicklung während der zweiten Hälfte des 17. und während des ganzen 18. Jahrhunderts. Insbesondere geht es um die Gründe für die »Dekadenz« Portugals in jener Phase und um die Rolle, die England als privilegierter Handelspartner bei diesem Niedergang gespielt hat. Im Einzelnen wird...