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Lebensqualität im Alter

Gerontologische und ethische Perspektiven auf Alter und Demenz

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783170234758
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
In den ethischen Diskursen über das gelingende Alter(n) rücken Fragen nach dem guten Leben und einer entsprechenden Lebensqualität ins Zentrum des Interesses. Die interdisziplinäre gerontologische Forschung untersucht, wie in gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen sowohl breit akzeptierte als auch kontrovers diskutierte Leitbilder und Bewertungen des Lebens im Alter entstehen. Diese Vorstellungen von Lebensqualität im Alter haben jedoch auch Einfluss auf die Bearbeitung ethischer Konflikte in Medizin und Pflege. Deshalb bezieht dieser Band die gerontologischen und medizinethischen Fragestellungen aufeinander und vertieft diese Verschränkung exemplarisch am Beispiel des Umgangs mit Demenz.

Pastor Dr. Michael Coors ist Theologischer Referent am Zentrum für Gesundheitsethik (ZfG), Hannover. Prof. Dr. Martina Kumlehn lehrt Religionspädagogik an der Universität Rostock und ist dort Vorstandsmitglied im Department 'Altern des Individuums und der Gesellschaft'.

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Leseprobe

Alter und Lebensqualität: Einleitende Beobachtungen zu Spannungsfeldern der ethischen Bewertung


Michael Coors

1. Ambivalenzen des Alters


Wenn wir uns dem Thema der Lebensqualität im Alter widmen, so liegt es nahe zu fragen, ob und inwieweit wir das Leben im Alter selbst als eine Lebensqualität begreifen können. Immerhin verdanken wir es unserer menschlichen Fähigkeit, die natürlichen Grundlagen unserer Existenz kulturell zu gestalten, dass wir heute in unserem Kulturkreis so alt werden, wie wir es nun einmal werden: Grob vereinfacht hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung seit 1840 in den europäischen Industrienationen nahezu verdoppelt.1 Die meisten Autoren2 dieses Bandes wären also Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest schon sehr alt gewesen. Über 150 Jahre Entwicklung in der Medizin, in der Hygiene, in der Ernährung, usw. haben aber dazu beigetragen, dass wir heute sehr viel länger leben. Dass wir im statistischen Mittel sehr viel älter werden, ist also auch eine Errungenschaft unserer Kultur im umfassenden Sinne,3 und darin liegt sehr offensichtlich Lebensqualität, wenn man bedenkt, wie viele Jahre unseres Lebens wir heute mehr gestalten können – und das nicht nur mit Arbeit, sondern auch mit anderen sinnstiftenden Tätigkeiten. Dieses Phänomen des dritten Lebensalters, der sogenannten „best agers“ oder der jungen Alten ist hinlänglich bekannt.

Aber auch diese Entwicklung hat ihre Schattenseite, denn auf die guten Jahre im Alter folgen häufiger und immer mehr die schweren Jahre, die gerne aus der öffentlichen Diskussion verdrängt werden:4 Es sind Jahre, in denen die körperlichen Gebrechen zunehmen, die vielfach von Pflegebedürftigkeit geprägt sind und häufig mit einer dementiellen Erkrankung einhergehen. In der öffentlichen Wahrnehmung werden diese letzten Jahre des Lebens bei Vielen als Jahre des Schwindens der Lebensqualität angesehen: Ist das noch Leben mit Lebensqualität, wenn man abhängig ist von der Hilfe anderer Menschen? Ist das noch Leben mit Lebensqualität, wenn das Bewusstsein und die Erinnerung schwinden, wie im Fall der Demenz?

Dass in dieser Ausgrenzung des hohen und der Idealisierung des dritten Lebensalters auch eine theologische Problematik impliziert ist, macht ein Zitat des israelischen Sozialanthropologen Haim Hazan deutlich: „In einer säkularen Gesellschaft, die kulturell nicht mehr den Trost eines Lebens nach dem Tod bietet, wird das Ende des Lebens zu einer Sackgasse mit den Alten als Repräsentanten, die dadurch zum Gegenstand von Ausgrenzung, Zurückweisung und moralischer Panik werden.“5 Das „dritte Alter“ stellt sich dann als Lebensphase dar, die „es ablehnt, die Totenmaske des hohen Alters zu tragen“.6 Wie auch immer man zu diesen Thesen von Hazan steht, sie verweisen auf eine theologisch relevante Frage: Was geschieht eigentlich mit unseren Vorstellungen des guten Lebens, wenn der gerade in der Diskussion um eine Ethik des Alter(n)s viel beschworenen Endlichkeit des Lebens7 das Gegenüber der Unendlichkeit ewigen Lebens fehlt? Welchen Unterschied für das Leben im Alter also macht der Glaube an Gottes Ewigkeit aus? Hängt die allgemeine Tendenz, das Leben im Alter und darüber hinaus auch das Sterben planen und organisieren zu wollen oder gar zu sollen8 (z.B. in Form von Patientenverfügungen) auch damit zusammen, dass der Verlust des Gegenübers der Ewigkeit Gottes die letzte Lebensphase mit der Aufgabe belastet, sein Leben abrunden und gut abschließen zu müssen?9 Indem diese Frage gestellt wird, soll nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass auch Figuren der klassischen christlichen Eschatologie, insbesondere die Erwartung eines Jüngsten Gerichts, Menschen unter normative Zwänge in der Planung ihres Lebens gestellt haben und mitunter noch heute stellen.10 Doch die mit dieser eschatologischen Vorstellung verbundenen, normativen Zwänge verschwinden eben offensichtlich nicht einfach, wenn die religiösen Vorstellungen des ewigen Lebens und des jüngsten Gerichts ad acta gelegt werden. Vielmehr scheinen sie nun ins Leben hinein verlegt zu werden – ins hohe Alter und ans Ende des Lebens.

Wer nicht mehr an ein Jüngstes Gericht glaubt, der muss in diesem Leben alles zu Recht bringen – spätestens dann, wenn es aufs Ende zugeht. Damit wird deutlich, dass die christliche Gerichtsvorstellung durchaus auch ein Hoffnungsbild war und ist: „Die Erwartung des Gerichtes Gottes, das Gerechtigkeit bringt, ist ursprünglich die Hoffnung der Opfer von Unrecht und Gewalt.“11 Diese Hoffnung auf das Gericht erlaubt eben auch, damit zu leben und zu sterben, dass in diesem Leben nicht alles abschließend geregelt werden kann.12 Denn in die Vorstellungen eines Gerichtes Gottes konnte auch der Gedanke des gnädigen und begnadigenden Richters einbezogen werden. Fällt diese Vorstellung aber weg, so erweist sich zwar die Sehnsucht und der Wunsch danach, dass Gerechtigkeit hergestellt wird, als weiterhin wirkmächtig und nun normierend für die letzten Lebensphasen, doch der Gedanke der Gnade lässt sich ohne ein begnadigendes Gegenüber offensichtlich nicht mehr denken, geschweige denn als eine das Leben im Alter und im Sterben bestimmende Größe realisieren. Dieser Fragekomplex lässt sich hier nur anreißen. Deutlich wird aber, dass die diskutierten Fragen einer Ethik des Alter(n)s auch bisher noch wenig thematisierte theologische Voraussetzungen und Implikationen haben.

2. Lebensqualität messbar machen?


Ausgehend von der Frage nach dem Alter als Lebensqualität sind wir also auf eine Ambivalenz im Umgang mit der gewonnen Lebenszeit aufmerksam geworden. Dass hohes Alter eine Lebensqualität darstellt, ist alles andere als selbstverständlich: Gerade in den ethischen Diskussionen stehen die problematischen Aspekte des hohen Lebensalters im Vordergrund. Darum soll nun der Blick von den theologischen Fragen zurückgehen, hin zu den Orten, an denen sich die ethischen (und theologischen) Debatten in Handlungsoptionen konkretisieren: nämlich hin zu den Kontexten von Geriatrie und Altenpflege.13

Ethische Fragen nach der Lebensqualität im Alter sind ebenso im Kontext von Medizin- und Pflegeethik virulent. Denn hier stellt sich ganz konkret die Frage: Was kann an Lebensqualitätssteigerung und -gewinn durch medizinische und pflegerische Interventionen herbeigeführt werden und wie kann man überhaupt feststellen, ob Lebensqualität gesteigert wird? Und weil in einem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen alles irgendwie refinanziert werden muss, steht immer auch die Frage im Raum: Was darf das kosten? Wie viel ist uns die Lebensqualitätssteigerung im Alter eigentlich wert und wo hat sie ihre Grenzen?

All das sind ersichtlicherweise Fragen, die sich nur beantworten lassen, wenn man Wege findet, Lebensqualität messbar zu machen. Die grundlegende Problematik der darin vorausgesetzten Quantifizierung von Lebensqualität kann man sich exemplarisch an den so genannten QALY-Analysen verdeutlichen – auch wenn sie ihren Ort nicht so sehr im Kontext der angewandten Geriatrie oder Pflege alter Menschen, sondern in Rationierungs- und Priorisierungsdiskussionen haben. Solche Diskussionen werden aber durchaus auch mit Blick auf das Lebensalter als Priorisierungskritierium geführt14 und gerade dort erweist sich die Problematik standardisierter Messungsverfahren für die Lebensqualitätsbewertung. In Deutschland ist eine Bemessung von medizinischen Leistungen aufgrund von „Quality Adjusted Life Years“ (QALY) bisher äußerst umstritten und findet keinen Eingang in das Gesundheitssystem.15 In England hingegen muss die Zulassung neuer Medikamente und Therapieformen sich bereits anhand der Kosten pro QALY messen lassen.16 Die Diskussion macht auf ein grundsätzliches Problem des Lebensqualitätsbegriffes aufmerksam, nämlich auf die Frage: Lässt sich Lebensqualität überhaupt messen?

Messbarkeit setzt Objektivierbarkeit voraus. Denn messen können wir etwas nur anhand einer festen von allen anerkannten Skala. Deswegen brauchte man früher ein Urmeter und ein Urkilogramm, die heute durch allgemeine anerkannte physikalische Definitionen ersetzt wurden. Es braucht für die Messbarkeit einen Referenzpunkt, der für alle, die sich auf die Messung beziehen, derselbe ist und darin von allen anerkannt ist. Einen solchen festen Referenzpunkt gibt es im Blick auf den Begriff der Lebensqualität aber nicht. Darum versucht man sich in der Berechnung von Lebensqualitätserwartung dadurch abzuhelfen, dass man statistische Mittelwerte erhebt: Wie also bewertet eine statistisch repräsentative Population die Situation des Lebens ohne und mit einer bestimmten Therapie? Jeder einzelne kann hier zum Beispiel bei einer Umfrage einen Wert zwischen 0 und 1 angeben, wobei 0 so viel bedeutet, wie „lieber wäre ich tot“ und der Wert 1 für optimale Lebensqualität steht. Aus diesen Werten werden dann arithmetische Mittelwerte gebildet, die an die Stelle eines objektiven Referenzpunktes für die Messung treten.17

Die grundlegende Frage dabei ist allerdings, ob die unterschiedlichen Messungen der einzelnen Personen, über die hier ein Mittelwert gebildet wird, überhaupt auf eine gemeinsame Skala Bezug nehmen bzw. die vorgegebene Skala der Befragung in gleicher Weise deuten. So zeigt sich auch, dass es stark von den eingesetzten Befragungsinstrumenten abhängt, welche Ergebnisse erzielt werden.18 Denn ganz offensichtlich fallen die Bewertungen sehr unterschiedlich aus und die Annahme, dass es eine gemeinsame Skala gäbe, auf die sich alle beziehen, bleibt eben eine bloße Behauptung: Es ist schlicht nicht klar,...

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