1 Spiritualität ist Erfahrung
1.1 Ist Gott erfahrbar?
Ob es Gott gibt oder nicht, diese Frage erhitzt die Gemüter nicht mehr. Die Meinungen sind weitgehend gemacht, zumindest in Westeuropa. Gott ist weder beweisbar noch widerlegbar. Unter den Nägeln brennt die Frage nach Spiritualität und der Erfahrung: Ist Gott, ist das Göttliche erfahrbar? Kann man solchen Erfahrungen Glauben schenken? Haben sie einen Einfluss auf unser Leben? Und an wen können wir uns damit wenden inmitten einer Kultur und Religion, die dafür kaum Gehör hat? Im Folgenden achte ich auf das, was Menschen unserer Tage – vorab Kranke und Leidgeprüfte – mit Gott oder als ein Göttliches vermissen und erfahren. Und ich begreife die Erfahrungen mit dem Unbegreiflichen als Spiritualität. Spiritualität hat grundsätzlich mit Erfahrung zu tun.
1.2 War das Transzendenzerfahrung? Beispiele
Ein Erlebnis wurde mir persönlich zum Initialzünder im Thema Spiritualität. Es begann mit folgendem Traum: »Ich sitze in einem kleinen Auto. Es ist mein Wagen und doch sieht er anders aus. Plötzlich steht daneben ein riesiger Bär, zehn Meter groß. Er ist im Begriff, mich mitsamt dem Auto zu verschlingen. Es gelingt ihm nicht. Dreimal dasselbe Geschehen, derselbe Schreck. Haarscharf am Tod vorbei, bin ich schlussendlich gerettet. Neben mir steht das zerstörte, glänzend gewordene Auto. Ich sage resolut: »Jetzt ergreife ich das Steuer.«
Tags darauf fliege ich zu einem Kongress, Thema: Spiritualität. Im Anschluss an meinen Vortrag werde ich, wie nie zuvor, mit Fragen bestürmt: Ob ich persönlich an die Möglichkeit von Gotteserfahrung glaube? Ob das, was Menschen dann erleben, wirklich Gott sei? Nach dem Kongress werde ich in einem kleinen Auto auf der dreispurigen Autobahn im Abendverkehr zum Wiener Flughafen chauffiert. Plötzlich fährt bei Höchstgeschwindigkeit haarscharf rechts neben uns ein anderes Auto auf uns zu. Schleudern – nach links, nach rechts, nach links … dann ist nur noch Licht, blendendes Licht da. Endlich kommt das Auto zum Stehen, halbwegs quer zur Fahrbahn. Ein Bus donnert auf uns zu und vermag gerade noch zu bremsen. Unser Auto ist noch fahrtauglich. Ich steige vom Rücksitz aus und sage: »Jetzt fahre ich.« Wie ich mich am Flughafen verabschiede, schaue ich nochmals zum Auto zurück und erschrecke: So ähnlich hatte das Auto im Traum ausgesehen.
War das eine Erfahrung mit einem Transzendenten, mit Gott? Was soll ich damit anfangen? Wie kann ich meinen Traum im Vorfeld dieses Ereignisses verstehen? Mich schauderte über Tage. Eines weiß ich seither: Spiritualität hat mit einem in menschlichen Kategorien nicht fassbar »Großen« (Traumbild riesiger Bär) zu tun. Und der Umgang damit setzt von Seiten des Menschen Autonomie (Traumbild Auto) und ein steuerungstüchtiges Ich voraus. Und ich überlege: Ich wäre töricht oder eine verbissene Atheistin, würde ich nicht glauben. Umgekehrt wäre ich sektiererisch, würde ich mir nicht auch meine Zweifel und eine nüchterne Distanz erlauben.
Norbert Noth, ein Sterbender Mitte 50, weiß nicht, ob er sich selbst als Christ oder als Buddhist verstehen soll. Er hat sich von allen verabschiedet und stirbt doch nicht. Zwei Wochen ist er da, einfach um da zu sein, wie er einmal sagt. Monochordklänge berühren ihn. Er begreife nicht, was ihm da geschehe. Eigentlich sei da ja nichts als Ton. Aber dieser Ton habe ihn erschüttert wie Meereswogen. Er habe Musik sonst nie so sinnlich einfach gehört. Es war die Musik und doch viel mehr: »Mit der Musik war etwas da. Wie wenn ich die Atmosphäre schwingen höre.« »War eine Präsenz spürbar?« frage ich vorsichtig. Tage studiert er dieser Frage nach und versinkt immer mehr in einen anderen Bewusstseinszustand, ist manchmal kaum erreichbar. Ein zweites Mal berührt ihn diese Musik. Kommentar: »Die Töne mit den Obertönen sind wie ein Himmelszelt, in welches ich hineinfalle oder -fliege. Ob fallen oder fliegen, spielt keine Rolle mehr, ist dasselbe. Ob Christ oder Buddhist auch nicht. Nur eines ist wichtig: Präsenz! Etwas ist da, und ich bin da, aber bald nicht mehr.« Immer schweigsamer wird Herr Noth, immer dichter die Atmosphäre um ihn herum, in die er schließlich still hineinstirbt, das Geheimnis um seine letzte Identität mitnehmend.
Karin Kaufmann, einer kinderlosen, kirchenfernen Akademikerin, geht es von Tag zu Tag schlechter. Unsere ersten Gespräche handeln von Beziehungsproblemen und ihrer Schwierigkeit, sich berühren zu lassen. Jetzt liegt sie mit aufgesperrten Augen, Schmerzen, Atemnot und panischer Angst vor der Intensivstation da. Ich rege sie in einer Klangreise dazu an, imaginativ ein Licht durch ihren Körper führen zu lassen. Sie solle sich zuschauen, wo das Licht aufgenommen werde, wo weniger, wo es angenehm sei, wo nicht. Religiöse Worte fallen keine. Die Erfahrung beschreibt sie als dicht: »Das war Engelnähe. Das Licht wurde größer, kam von außen und war wie Jesus, der mir sagte: Du überlebst es, lass es zu.« Nach einem weiteren Eingriff sagt sie: »Das Licht war auch auf der Intensivstation da, wie eine Nahtoderfahrung.«
Die Gespräche mit Alain Fauré sind intensiv. Von Gott und Religion ist nie die Rede, bis er eines Tages hört, ich sei auch Theologin. Er habe keinen Zugang zu Gott und Religion, da sei zu viel Moral, zu viele Glaubenskriege. Er sei aus Leidenschaft Organist, aber mit Gott könne er nichts anfangen. Irgendwann fragt er, was mir Gott bedeute. Ich antworte spontan und frage zurück: Was er erlebe, wenn er Orgel spiele? »Ohhh, das kann man nicht sagen.« Ich erzähle ihm vom Gott am Sinai, wie Mose diesen Gott erfahren habe: so gewaltig und numinos, dass es keine Worte, keine Bilder dafür gegeben habe. Vielleicht ähnlich unbeschreibbar. Herr Fauré unterbricht: »Sie meinen, dass das, was ich beim Orgeln fühle, Gotteserfahrung sei?« »Das kann ich mir vorstellen.« Stille. Bewegt sagt er: »Es ist wirklich unaussprechbar.« Nun insistiere ich, meinerseits bewegt: »Ergriffenheit gehört zur großen Erfahrung, weil in uns etwas geschieht, das uns übersteigt.« In den kommenden Wochen verdichten sich unsere Gespräche. Immer mehr will Herr Fauré hören und sogar beten. Und er wächst hinein in ein neues Vertrauen wider alle Angst.
1.3 Ein Phänomen – verschiedene Namen
Transzendenz-Erfahrung, Spirituelle Erfahrung, Gotteserfahrung sind dreierlei Begriffe, die Ähnliches meinen und doch in je eigener Nuance.
Transzendenzerfahrung, vom lateinischen Begriff transcendentia (= das Übersteigen) kommend, verweist auf das, was durch die Erfahrung ausgelöst wird und zugleich über sie hinausweist. Die eben genannten Beispiele reden von einem Erschüttert- oder Durchströmt-Werden, vom Einbrechen eines Lichtes ins innere Dunkel, von einer Aha-Erfahrung im Glauben, die auf die andere – göttliche – Dimension hin öffnet. Der Begriff Transzendenzerfahrung wird in der Palliative Care vor allem für spirituelle Erfahrungen von Atheisten (McGrath, 2005) verwendet. Dieser eingeschränkte Fokus wird im Folgenden nicht übernommen.
Vor dem Ausdruck Gotteserfahrung schrecken viele Menschen zurück, die einen, weil gefangen in Aversion, die andern aus Respekt, weil sie dieses letzte Wort vor dem Verschweigen (vgl. Rahner, 1969) lieber Geheimnis sein lassen. In diesem Buch tritt noch ein dritter Grund für das Zurückschrecken hervor: Hinter vermeintlicher Ablehnung liegt oft die menschliche Urerfahrung mit dem Numinosen, die als unbedingt, hautnah und darin als zutiefst überfordernd vorgestellt werden muss. Ein winziges Ich begegnet fast ›leibhaftig‹ Gott als dem riesigen unendlichen Ganzen (vgl. Stichwort Urangst in Renz 1996/2009, 2011, S. 49–61). Mein eigenes oben erwähntes Beispiel sprach von einem überdimensioniert großen Bären und von einem blendenden Licht. Andere Menschen träumen von einem Elefanten, ein übrigens im Indischen heiliges Tier. Der Begriff Gotteserfahrung rückt den Begegnungsaspekt ins Zentrum und damit eine unüberbrückbare Differenz zwischen dem kleinen wehrlosen Menschen und dem unfassbar großen Gegenüber. Dieses wird bald schützend, rettend, lebenspendend, bald bedrohlich bis überwältigend erfahren. Angesichts eines solchermaßen Bedrohlichen entstand/entsteht ein Tabu: Tabuisiert ist darin Gott selbst und dies in seinem Erfahrungsaspekt und als Gegenüber. Über Jahrhunderte wurde Gottes Erfahrbarkeit aus den kirchlichen Lehren ausgeklammert und nur von Mystikern in ihrer randständig autonomen Position eingebracht. Heute nicht minder verdrängt ist der Aspekt der Verbindlichkeit. Wo von Gotteserfahrung die Rede ist, ist der Mensch ungleich stärker angebunden und zur verbindlich antwortenden Haltung herausgefordert als dort, wo allein vom Göttlichen, vom Kosmos und von Seinserfahrung gesprochen wird. Nur die wenigsten Menschen sind schlicht offen für ganz verschiedene Gotteserfahrungen, solche, die dem jüdisch-christlichen Gedankengut entsprechen neben ganz anderen. Der Begriff Gotteserfahrung betont das Absolute, Gewaltige, aber auch das Unbequeme der Erfahrung. Eine tiefe Überforderung respektive Gottesaversion scheint tiefster Hintergrund eines unverbindlichen Spiritualitätsverständnisses zu sein. Dass es aber mit Ausklammern doch nicht getan ist, zeigt die boomende Branche.
Spirituelle Erfahrung: Im Wort ›spirituell‹ wird das Phänomen am offensten erfasst. Der Begriff wird heute unterschiedlich verwendet, im weiten Spektrum zwischen ganzheitlichem ›Well-being‹, Bewusstseinserweiterung und Mystik....