Altersbilder und ihre Bedeutung für die Sozialwirtschaft
Joachim Rückle
Im Jahr 1996 wollte der Gesetzgeber mit dem Altersteilzeitgesetz einen gleitenden Übergang in den Ruhestand ermöglichen. Im letzten Förderjahr 2009 entschieden sich 93,5 Prozent der Arbeitnehmer für das Blockmodell und damit für einen möglichst frühen Ausstieg aus dem Erwerbsleben (BMFSFJ 2010: 175). Dies ist ein klassisches Beispiel für die Wirksamkeit und die Genese von Altersbildern. Einerseits ließ sich der Gesetzgeber von einem defizitären Altersbild leiten, das von einem Nachlassen der Leistungsfähigkeit im Alter ausgeht. Gleichzeitig hat die große Mehrheit der Antragstellenden ein Altersbild vor Augen, das durch die politisch unterstützte Strategie der Frühverrentung überhaupt erst entstanden ist: das Bild des wohlverdienten Ruhestands. Der Ruhestand als große Chance, das Leben in Freiheit zu genießen.
Altersbilder werden geformt durch eine bestehende Praxis, sie werden genährt durch konkrete Anschauung. Altersbilder bleiben aber auch dann noch wirksam, wenn sich die sozialpolitischen Rahmenbedingungen längst verändert haben. Sie verhindern oder erschweren notwendige Entwicklungen, oder sie ermöglichen und begünstigen diese. Strategische Überlegungen zur Personalentwicklung in der Sozialwirtschaft sollten deshalb stets die Relevanz von Altersbildern und deren Gestaltbarkeit im Blick haben.
Der sechste und derzeit aktuelle Altenbericht der Sachverständigenkommission aus dem Jahr 2010 beschreibt sehr ausführlich die Relevanz von Altersbildern für verschiedene Bereiche der Gesellschaft. Dies geschieht in der Hoffnung, dass eine Reflexion der Altersbilder deren notwendige Weiterentwicklung voranbringt.
Im Folgenden wird deshalb nach der Relevanz und der Gestaltbarkeit von Altersbildern im Blick auf die Beschäftigung älterer Mitarbeitender in der Diakonie gefragt. Dazu seien zunächst einige wesentliche Befunde des 6. Altenberichts vorgestellt. Anschließend wird am Beispiel der Altenpflege die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung von Altersbildern beleuchtet. Diese Weiterentwicklung bedarf auch der ethischen Reflexion. Deshalb wird die Relevanz einer spezifisch diakonisch-theologischen Auseinandersetzung mit Altersbildern gezeigt, um abschließend Konsequenzen für die Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu skizzieren.
1. Altersbilder und Arbeitswelt: Ergebnisse aus dem 6. Altenbericht
Das 6. Kapitel des 6. Altenberichts ist überschrieben mit: „Arbeitswelt und Personalstrategien von Unternehmen: Welche Altersbilder wirken?“ (BMFSFJ 2010: 167–230)
Die Autoren, Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln und Gerhard Naegele vom Institut für Gerontologie der Technischen Universität in Dortmund, betonen die große Bedeutung der sozialpolitischen Rahmenbedingungen und die damit verbundenen Altersbilder. Sie unterscheiden dabei zwischen vier Phasen:
In der frühen Phase, ab 1957, habe das Bild von den „schutzbedürftigen älteren Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen“ dominiert (ebd.: 180). In der zweiten Phase, ab Mitte der 1970er-Jahre, stand das Bild von den „leistungsgeminderten“ und „nicht mehr gebrauchten älteren Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen“ im Vordergrund (ebd.: 181). In der dritten Phase, seit Mitte der 1980er-Jahre, wurde die Politik der Frühverrentung fortgeführt und galt als adäquates Mittel, um Arbeitslosigkeit abzubauen und die Erwerbschancen junger Menschen zu erhöhen (ebd.: 182). Seit Mitte der 1990er-Jahre lässt sich nach Einschätzung der Autoren ein Paradigmenwechsel beobachten: Seither geht es darum, die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Hintergrund dafür ist der demografische Wandel mit dem sich andeutenden Fachkräftemangel und dem Druck auf das Sozialversicherungssystem. Verbunden ist dieser Paradigmenwechsel mit entsprechenden beschäftigungspolitischen Vorgaben der EU und dem neuen Leitbild des lebenslangen Lernens. Das Kompetenzmodell soll die bisherigen defizitorientierten Altersbilder ablösen (ebd.: 184).
Dieses Kompetenzmodell wurde seitdem in zahlreichen Untersuchungen empirisch untermauert. Konsens ist mittlerweile, dass die Leistungsbilanz älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinesfalls geringer ist als bei jüngeren. Geringere Kreativität und Innovationsfreude gleichen erstere durch ihre Erfahrung, ihre Arbeitsmoral und ihr Qualitätsbewusstsein aus. Gleichzeitig hängt die Leistungsfähigkeit der Älteren aber auch stark davon ab, wie sehr diese gefördert und in Anspruch genommen wird (ebd.: 187). Entsprechend gewinnt eine qualifizierte, mitarbeiterorientierte Personalentwicklung an Bedeutung (ebd.: 196f.). In der Theorie werden die notwendigen Maßnahmen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit längst eingefordert. Die Praxis freilich hinkt häufig um Jahre hinterher (ebd.: 201).
Entsprechend uneinheitlich ist die Situation im Blick auf die vorherrschenden Altersbilder: Nach wie vor wirken defizitorientierte Altersbilder, auch wenn lautstark kompetenzorientierte Altersbilder propagiert werden. Mittel- und langfristig werden der Arbeits- und Fachkräftemangel und die gesetzlich verordnete längere Lebensarbeitszeit für eine Aufwertung der älteren Beschäftigten sorgen (ebd.: 190f.). Gleichzeitig fordern die Autoren, die Risiken und Schwierigkeiten bei der Verlängerung der Lebensarbeitszeit nicht aus dem Blick zu verlieren. Dazu gehören insbesondere die steigenden Anforderungen einer sich immer schneller verändernden und komplexer werdenden Arbeitswelt (ebd.: 196). Es sei deshalb zu kurz gegriffen, lediglich über die Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nachzudenken. Es gehe vielmehr um eine „lebenszyklusorientierte Personalpolitik“, die die jeweiligen Bedürfnisse der einzelnen Beschäftigten ernst nimmt (ebd.: 227). Es geht also darum, den einzelnen Mitarbeitenden in seiner Gesamtheit wahrzunehmen – eine Personalpolitik, die dem diakonischen Grundanliegen „Zuerst der Mensch“ – so auch der Titel des Verbandsleitbildes des Diakonischen Werkes in Württemberg – gerecht wird.
2. Altersbilder und die Situation älterer Pflegekräfte
Was der 6. Altenbericht über die Altersbilder in der Kirche schreibt (BMFSFJ 2010: 109–128), gilt zumindest teilweise auch für die Diakonie. Alter wird entgegen der großen Aktivität älterer Menschen in den Kirchen immer noch stark mit Bedürftigkeit verbunden. Fürsorge und Betreuung sind nach wie vor wirksame Paradigmen für den Umgang mit älteren Menschen (Neuhausen/Giesler 2011). Pointiert versucht deshalb die EKD-Denkschrift „Im Alter neu werden können“ sich für ein neues, aktives Altersbild stark zu machen (Kirchenamt der EKD 2010).
Am Beispiel der Altenpflege soll im Folgenden gezeigt werden, welche Altersbilder hier wirksam sind und zum schlechten Image des Pflegeberufs beitragen (BMFS-FJ 2010: 363ff.).
Der sich zuspitzende Mangel an Pflegekräften führt nur zögerlich dazu, dass intensiver über das Potenzial älterer Pflegekräfte nachgedacht wird. Entsprechende Kampagnen versuchen vor allem junge Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen. In der Praxis absorbieren die Pflegearbeit und deren immer aufwendiger werdende Organisation alle Kräfte. Maßnahmen, die ein längeres Arbeiten im Beruf ermöglichen sollen, haben es deshalb schwer oder werden nicht ausreichend wahrgenommen. Hierzu gehören insbesondere eine verbesserte Kommunikation und Mitwirkungsmöglichkeit, Gesundheitsprogramme, Auszeiten, Supervision, Fort- und Weiterbildung.
Der Berliner Journalist Andreas Voigt hat in einem Artikel für Spiegel online (Voigt 2012) die Arbeit eines Pflegehelfers beschrieben, der als klassischer Quereinsteiger nach drei Jahren Arbeitslosigkeit zur Altenpflege kam. Der Artikel schildert realistisch und wertschätzend die harten Arbeitbedingungen im Pflegealltag. Am Schluss heißt es dann: „Lajos Piros mag seinen Job, ist froh, ihn zu haben. Bis zur Rente will er unbedingt durchhalten.“
Neuere empirische Untersuchungen zeigen, dass eine Mehrheit der Beschäftigten in der Pflege diese Haltung teilt. Im Hintergrund wirkt jedoch die Vorstellung, Altenpflege sei kein Beruf, in dem man alt werden könne. Bis heute ist immer wieder zu lesen und zu hören, dass die Verweildauer im Pflegeberuf bei unter 10 Jahren liegt (Joost 2007). Die europäische NEXT-Studie hat dies 2003 scheinbar bestätigt mit dem Ergebnis, dass knapp 20 Prozent der Pflegekräfte ernsthaft über einen Ausstieg aus dem Beruf nachdenken. Die Hauptgründe für einen Ausstieg sind weniger die Bezahlung und die Arbeitszeiten. Im Vordergrund stehen vielmehr die hohe Arbeitsbelastung, familiäre Gründe und Schwierigkeiten mit der Leitung (Hasselhorn et al. 2005) Die einseitige Rezeption solcher Forschungsergebnisse hat ein Bild verfestigt, das bis heute hochwirksam ist: Der Pflegeberuf ist kein Beruf fürs Leben. Je älter man ist, desto schwerer wird es, ihn auszuüben.
Eine neuere Untersuchung des Instituts für Wirtschaft, Arbeit und Kultur in Frankfurt zeigt allerdings, dass dieses Bild nicht der Realität entspricht (Joost et al. 2009). Eine differenzierte Betrachtung kommt zu folgendem Ergebnis: Die Berufsverläufe sind mit durchschnittlich 20 Jahren relativ lang. Entsprechend hoch ist die Berufsbindung: 15 Jahre nach Ausbildungsende sind noch 63 Prozent im Beruf (ebd.: 28). „Knapp ein Viertel der Altenpfleger/innen wandte sich nach dem Berufseinstieg sehr schnell vom Beruf ab und stieg wieder aus. Ein weiterer Teil arbeitete fünf bis zehn Jahre (ggf. mit Unterbrechungen) im Beruf, orientierte sich in dieser Zeit aber um. Für den weitaus größten Teil der Altenpfleger/innen allerdings bot der...