1. DIE “VÄTER” UND DIE ANFÄNGE DES VOLKES – HINFÜHRUNG ZU DEN ELTERN ISRAELS
Spricht die Bibel von den Anfängen des Gottesvolkes, so beruft sie sich auf die “Väter”. Nach gängiger Überzeugung führt Israel seine Herkunft auf die Patriarchen zurück, also auf jene Männer, die als Ahnväter am Anfang der Volksgeschichte stehen. Der Gott, der sie gerufen und ihnen die Verheißungen gegeben hat, ist der “Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs”. Die Geschichte Israels – eine ‘His-Story’? Die Anfänge des Gottesvolkes – eine reine ‘Männergeschichte’?
In der alttestamentlichen Forschung wird die Sammlung von Gen 12-36 Erzväter-, Väter- oder Patriarchen-Erzählungen genannt. Der Terminus technicus provoziert die Vorstellung, daß es in diesen Erzählungen ausschließlich männliche Protagonisten gäbe. Väter- oder Patriarchenerzählungen sind Erzählungen über Männer, daran ist kein Zweifel. Wissenschaftliche Publikationen provozieren allein durch ihre Sprachwahl die Vorstellung, daß es in diesen Geschichten der “Vätergott” nur mit Vertretern des männlichen Geschlechts zu tun habe, er auch ausschließlich ihr Gott sei. Eine solche Sprachwahl, die suggeriert, daß die Anfangsgeschichte Israels ausschließlich von Männern getragen wurde, ist nun aber nicht beliebig oder gar zufällig. Sie ist die Brille, durch die die Texte gelesen werden. Sie ist Ausdruck des theologischen Verständnisses dieses Teiles der Genesis.
Nun ist es aber auffällig, wie viele Texte der Genesis, aber auch zu Beginn des Buches Exodus sowie die im Buch Rut erzählte Vorgeschichte der Davidischen Königsdynastie, von Frauen handeln. Biblische Exegese, sei sie nun an wissenschaftlichen oder pastoralen Zielen orientiert, hat mit den vielen ‘Frauentexten’ nie sonderlich viel anfangen können. Dies läßt sich anhand mehrerer Phänomene auf den verschiedenen Ebenen der Beschäftigung mit der Bibel aufweisen:
1. Den Frauentexten wird in der Exegese und in der theologischen Reflexion der Forschung eine Sonderstellung zugewiesen:
- Theologisch relevant sind nur die Männertexte. Das zeigen nicht nur die großen Entwürfe in den Theologien des Alten Testaments, sondern auch die wissenschaftlichen Monographien und das Vorlesungsprogramm so mancher Professoren, wo selbstverständlich die Texte von der sogenannten Berufung des Abraham (Gen 12,1ff.), die Anrechnung seines Glaubens zur Gerechtigkeit (Gen 15), der Bund mit ihm (Gen 17), das Opfer des Abraham (Gen 22) und für den Jakobs-Kreis die Gotteserscheinung in Bet-El (Gen 28) und der Jakobskampf am Jabbok (Gen 32) als für eine theologische Exegese ertragreiche Texte herangezogen werden. Alles also Geschichten, in denen im Erzählzusammenhang Frauen bestenfalls mitgemeint sind.
- Forschungen am Textkomplex Gen 12-36 interessieren sich für die ‘Frauentexte’ meist nur deshalb, weil es sich dabei um Doppel- oder sogar Dreifachüberlieferungen handelt, an denen man anschaulich die postulierten Pentateuchquellen oder deren mündliche Vorlagen nachweisen kann. Was es bedeutet, daß Frauen im Zentrum dieser Geschichten stehen, wird dabei kaum thematisiert; zu sehr steht die theoretische Frage nach dem literarhistorischen Werden des Pentateuchs im Mittelpunkt.
- Noch viel weniger wird das Faktum der Mehrfachüberlieferungen für die theologische Gewichtung dieser Texte reflektiert. Was etwa bei der Doppelüberlieferung des Dekalogs oder bei der zweifach überlieferten Erzählung des Gottesbundes mit Abraham (Gen 15.17) eine Selbstverständlichkeit darstellt, wird bei den Frauentexten der Genesis als Lust am Fabulieren abgetan.
2. Die Engführung im wissenschaftlichen Diskurs hat tiefgreifende Konsequenzen für die Praxis:
- Die Auswahl der Perikopen für die Schriftlesungen der Liturgie wurde weitgehend so vorgenommen, daß die Frauentexte überhaupt nicht oder nur an marginaler Stelle vorkommen, etwa in den Wochentagslesungen des katholischen Lektionars. Predigten zu diesen Texten sind dementsprechend noch viel seltener.
- Bibelpastorale Arbeitshilfen und sogenannte geistliche Literatur stellen als große Glaubensgestalten vor allem die Männer dar.11 Erfreulich sind hier die Initiativen, die die deutschen Bibelwerke in der letzten Zeit ergriffen haben. Man denke etwa an die von Bettina Eltrop und Anneliese Hecht herausgegebene neue Reihe FrauenBibelArbeit, Stuttgart 1999ff.
- Religionsbücher, die für die Aufbereitung im Schulunterricht zur Auswahl biblischer Texte gezwungen sind, wählen wie selbstverständlich Geschichten von männlichen Glaubenden.
- Wie wenig von biblischen Frauengestalten in traditionellen pfarrlichen Bibelrunden gesprochen wird, zeigt sich mir immer wieder drastisch, wenn ich im Rahmen biblischer Vorträge nach bekannten Frauen der Bibel frage. Das ohnedies geringe und meist vorurteilsbeladene Wissen über das Alte Testament kumuliert in bezug auf die Frauen. Mag sein, daß das bibelpastorale Defizit vor allem ein katholisches Problem ist.
3. Ein anderer demaskierender Befund zeigt sich über alle konfessionellen Grenzen hinweg: Die frei gewählten Überschriften der Bibelübersetzer, die sie über die einzelnen Perikopen in der Absicht setzen, die Geschichte in ihrer Überschrift für weniger versierte Bibelleserinnen zusammenzufassen, erweisen, daß die Engführung in der Terminologie nicht Zufall ist, sondern konsequenter Ausdruck des Verständnisses der Texte. Die als Lesehilfen gedachten Überschriften werden so zu Leitsystemen, die das Interesse der Leserinnen und Leser von vornherein auf die agierenden Männer hin kanalisieren und die biblischen Frauen nur als Randfiguren erscheinen lassen.2
Meint die Bibel, wenn sie von den ‘Vätern’ spricht, tatsächlich nur die Männer? Ein Spruch aus dem Zweiten Jesaja lehrt uns, wie wir die biblische Sprache zu verstehen haben:
“Hört mir zu,
die ihr der Gerechtigkeit nachjagt und JHWH sucht!
Schaut auf den Fels, aus dem ihr gehauen seid,
auf die Höhlung des Brunnens,
aus dem ihr gegraben seid!
Schaut auf Abraham, euren Vater,
und auf Sara, die euch geboren hat!
Denn als einzelnen rief ich ihn,
segnete ihn und mehrte ihn.” (Jes 51,2)
Abraham und Sara, Fels und Brunnenhöhlung, die Väter und die Mütter Israels sind die tragenden Fundamente und Quellen israelitisch-jüdischer Identität in einer Zeit, die Heil nicht aus der Gegenwart, sondern vom Hören-Sagen der Geschichte kennt. Mit dem Aufmerksamkeitsruf “Hört mir zu!” werden die Hörerinnen und Hörer angesprochen, die Gott suchen und nicht finden: Nehmt Abraham und Sara als Gestalten der Gewähr dafür, daß er beruft, daß er auch heute segnet und noch mehren wird! Wenn die Gottesrede ihren Aufruf, auf den Ahnvater und die Ahnmutter zu schauen, in grammatikalisch männlicher Sprache im Singular fortsetzt, so muß der Aufmerksamkeitsruf die Exegetinnen und Exegeten treffen: Hört mir zu, mit dem berufenen Vater, der die Segens- und Mehrungsverheißung trägt, ist nicht der Patriarch allein gemeint! Die “Väter” sind die Eltern Israels! Nicht Eisegese und Wunschvorstellungen heutiger Exegetinnen verstehen die “Väter” Israels als Eltern, sondern die biblischen Texte selber: Deuterojesaja als ein unverdächtiger und früher Exeget der Genesistexte und die Ursprungserzählungen des Volkes, wenn sie so vieles über Frauen zu erzählen wissen.
Diesem Textbefund hat die Exegese zu entsprechen. Sie kann nicht länger mehr das Geschlecht als die entscheidende exegetische Kategorie für die Bewertung der Einzelerzählungen oder ganzer Textkomplexe heranziehen und damit Geschichten mit männlichen Protagonisten heroisieren und jene mit weiblichen Hauptfiguren trivialisieren. Mein Plädoyer gilt einem geschlechter-fairen Forschungsansatz, der jedoch so lange eine feministische, für Frauen parteinehmende Option haben muß, so lange Frauen nicht dieselbe Möglichkeit und Macht haben, Kultur, Religion, Wirtschaft und Wissenschaft egalitär mitzugestalten. Daß wir am Beginn des 3. Jahrtausends selbst in westlichen Gesellschaften noch weit davon entfernt sind, zeigt der Frauenanteil in den Führungsetagen aller gesellschaftlich relevanten Institutionen, die mit Macht verbunden sind. Ein geschlechter-fairer Forschungsansatz schafft die Voraussetzungen dafür, die Geschichten von Frauen und Männern der Genesis als Einheit wahrzunehmen und die dichotomische Auslegungstradition aufgrund der weitgehend unreflektierten, aber deswegen in der traditionellen Forschung nicht weniger wirksamen Kategorie des Geschlechts zu verlassen.3
Den Erzeltern-Erzählungen mit ihrem starken Interesse an den Lebenszusammenhängen von Frauen sind die ersten Kapitel des Buches Exodus sowie das Rutbuch an die Seite zu stellen. In beiden Textkomplexen geben Frauen durch ihr engagiertes Handeln der Geschichte des Volkes eine entscheidende Wendung. Beide sind zudem durch genealogische Verbindungen und das Erzählkolorit mit den Erzeltern-Erzählungen verknüpft und damit als logische Fortsetzung derselben zu lesen. Die subversiven Frauen an den Anfängen des Volkes in Ägypten (Ex 1-2) sowie Rut und Noomi werden daher in diesem Buch als Teil der ‘Genealogie’ Israels dargestellt. Die Geschichte dieser Frauen ist abzuheben von den weiblichen politischen Führungsgestalten der Frühzeit wie Mirjam und Debora, aber auch von den zahlreichen Frauen, von denen das deuteronomistische Geschichtswerk...