Zum Geleit
Ulrich Luz
Es ist bewegend und schmerzlich, wenn ein engagierter Kollege, den man gern hat, noch relativ jung sterben muss. Es ist aber ganz besonders schmerzlich, wenn dies ein Kollege ist, der an einem Buch arbeitete, auf das wir mit großer Spannung gewartet haben. Das war so bei Eckhard Rau. Er ist – gerade einmal dreiundsiebzigjährig – von uns gegangen und hat sein seit langem geplantes Buch über Jesu letzte Reise nach Jerusalem, die zu seinem Tod führte, nicht mehr vollenden können. Seit Jahren hat er an diesem Buch gearbeitet – und jetzt bleibt es ein unvollendetes Fragment.
Die Frage, die hinter diesem Buch steht, liegt auf der Hand. Warum ist Jesus gestorben? Die Antworten, welche die theologische Literatur der Vergangenheit auf diese Frage gab, kreisten im Großen und Ganzen um die Bedeutung seines Todes. Sie waren vor allem von den neutestamentlichen Briefen und der kirchlichen Tradition inspiriert: Sühne, Opfer, Loskauf, Stellvertretung sind die wichtigsten Stichworte. In den synoptischen Evangelien, unseren wichtigsten Quellen über Jesus, ist bekanntlich davon fast nichts zu lesen.
Um die historische Frage nach dem Tod Jesu war es seit dem ersten Weltkrieg recht still geworden. Das hat verschiedene Gründe: Albert Schweitzers großartige und wortgewaltige „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ hat die Leben-Jesu-Forschung des neunzehnten Jahrhunderts als pseudohistorisches Wunschdenken entlarvt und ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Schweitzer maß sie mit dem Maßstab seiner eigenen historischen Hypothese über das Leben Jesu, die seine Zunftgenossen – mit Recht – ebenso wenig überzeugte wie umgekehrt ihre Hypothesen Albert Schweitzer. Ebenso wichtig wie dieser Grabgesang Schweitzers, aber in der Öffentlichkeit viel weniger bekannt wurden das wichtige Buch von William Wrede über das Messiasgeheimnis in den Evangelien, welches die Grundkonstruktion des Aufrisses des Markusevangeliums, das den besten Biographien Jesu aus dem neunzehnten Jahrhundert als Basis gedient hatte, als Gemeindebildung erwies, und die in den frühen zwanziger Jahren vorgelegten Arbeiten der Formgeschichtler: Sie machten plausibel, dass in den Evangelien zwar viele alte und historisch möglicherweise zuverlässige Einzeltraditionen stehen, ihre Anordnung in den Evangelien aber jung und zu einem großen Teil das Werk der Evangelisten ist. Dazu kam, dass durch die dialektische Theologie sich die grundlegenden Interessen der Theologie verschoben: An die Stelle der Geschichte trat das Wort Gottes, an die Stelle des historischen Jesus der Christus des Glaubens, an die Stelle der Ethik die Rechtfertigung.
Auch nach dem zweiten Weltkrieg blieb es zunächst so: Die historische Frage nach dem Tod Jesu wurde auch von denen, die wieder neu nach dem historischen Jesus fragten, kaum gestellt. Nur ein ganz besonderer Aspekt wurde wichtig: Nach der traumatischen Erfahrung des Holocaust musste man neu nach der Schuld, der Mitschuld oder der Unschuld der Juden am Tod Jesu fragen. In den Evangelien und noch mehr in der späteren kirchlichen Tradition wurden sie bekanntlich in immer höherem Maße belastet. Man versuchte durch historische Forschung, die Juden möglichst von jeder Mitschuld am Tod Jesu zu entlasten. Mindestens in der Grundtendenz herrschte hier in der Forschung ein bemerkenswerter Konsens. Diese Entlastung diente auch der eigenen Selbstentlastung. Auch in der so genannten “Third Quest”, dessen Vertreter Jesus oft sehr profiliert als Juden, nicht nur als „Rand-Juden“, sondern gerade als Zentraljuden charakterisieren, blieb die Frage nach dem Tod Jesu und den Gründen, die zu ihm führten, im ganzen recht marginal.
Vor allem eine Frage blieb marginal und wurde von der Forschung nur sehr zögerlich gestellt: Was hat Jesus selbst zu seinem Tod beigetragen? Wollte er seinen Tod? Oder hat er ihn nur als Möglichkeit in Kauf genommen? Sein Verhalten in seinem letzten Lebensabschnitt ist ja sehr ungewöhnlich. Er zog nach Jerusalem – ob zum ersten Mal in der kurzen Zeit seiner öffentlichen Wirksamkeit bleibe hier offen. Dort verhielt er sich höchst auffällig: Er zog in die heilige Stadt ein, als ein – vorsichtig gesagt – ganz ungewöhnlicher Festpilger. Er ging dann in den Tempel, dessen bevorstehende Zerstörung er angekündigt hatte, und verhielt sich dort – wiederum vorsichtig gesagt – ziemlich provokativ. Er hätte damals noch die Gelegenheit gehabt, sich aus Jerusalem unauffällig abzusetzen, denn er musste ja wissen, wie brenzlig dort die Situation während der großen Pilgerfeste war. Er hätte sich durch das Schicksal Johannes des Täufers und durch das Schicksal der Propheten, die ihm beide wohl vertraut waren, warnen lassen können, aber er ließ sich nicht warnen. Er hätte seine Verhaftung leicht vermeiden können, aber er tat es nicht – im Unterschied zu seinen Jüngern. Eckard Rau sagt: Jesus nutzt das Passahfest, „dessen Riten er sich nicht unterwirft, als Forum für ein ganz und gar festfremdes, äußerst anstößiges Anliegen“ (40) Hat er – so fragt er provokativ – „menschlich gesehen, mit Hilfe Dritter seinen Suizid“ betrieben? (80). Die Evangelisten sehen es ähnlich, aber sie interpretieren es anders: Nach ihnen hat Jesus seine Passion, sein Sterben und seine Auferstehung selbst angekündigt. Sie interpretieren das aus göttlicher Perspektive: So „musste“ geschehen, was geschah. Entspricht diese Interpretation der historischen Wirklichkeit? Hat Jesus seinen Tod selbst angekündigt und dann folgerichtig auch das Seine zur Erfüllung seiner eigenen Prophezeiung beigetragen?
Die Brisanz dieser Fragen ist evident. In der neutestamentlichen Wissenschaft wurden sie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts weithin vernachlässigt. Eckard Rau hat sich ihnen gestellt. Er schwimmt damit gegen den Hauptstrom auch der gegenwärtigen Jesusforschung. Darum haben viele mit großer Spannung auf die Antworten, die er in seinem Buche geben würde, gewartet. Aber es blieb leider ein Fragment. Rau hat in den Teilen, die er druckfertig hinterlassen hat, zwar Antworten angedeutet und Richtungen gewiesen. Aber den größten Teil des dritten Hauptteils, in dem er seine eigenen Thesen hätte entfalten wollen, hat er nicht geschrieben; und es gibt auch keine Notizen und Entwürfe dazu. Im Einzelnen hat er also seine Thesen, wenn er sie selbst schon hatte, mit ins Grab genommen. Nicht einmal die Disposition der noch nicht geschriebenen Kapitel des dritten Hauptteils kennen wir ganz genau. Die Aufgabe, vor der seine Schülerin Silke Petersen stand, aus verstreuten Andeutungen Eckard Raus ein Gesamtbild dessen zu erahnen und zu skizzieren, was er wohl geschrieben hätte, und so das unvollendet gebliebene Buch im Sinn und Geist von Eckard Rau zu ergänzen, war also sehr schwierig. Sie hat sie m.E. in ihrem ergänzenden Aufsatz mit Bravour gelöst. Der zweite Teil ihres Aufsatzes enthält Untersuchungen zu einigen in Raus Text fehlenden Textkomplexen, nämlich zur Austreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel, zur Ansage der Tempelzerstörung und zum Jerusalemwort Q 13,34f. Hier hat sie in feinfühliger Weise, in intensivem geistigen Gespräch mit Eckard Rau, behutsam versucht, ihre eigene Sicht zu entfalten. Sie hat so das Fragment, das uns Eckart Rau hinterlassen hat, in sehr schöner Weise abgerundet. Wir sind ihr dafür zu großem Dank verpflichtet.
Denn dieses Fragment musste veröffentlicht werden: Denn es enthält – versteckt in der Forschungsgeschichte seit Günter Bornkamm (= erster Hauptteil) und in den Referaten und Würdigungen einiger großer Jesusforscher aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Heinrich Julius Holtzmann, Karl Theodor Keim und Albert Schweitzer = zweiter Hauptteil) mehrere ganz wichtige Forschungsperspektiven und Richtungsangaben, welche die Jesusforschung vorantreiben können. Ich möchte vier nennen:
1. Rau möchte erneut an die Jesusforschung des 19. Jahrhunderts anknüpfen. Er ist überzeugt, dass wir von der scheinbar diskreditierten und überholten Jesusforschung des 19. Jahrhunderts eine Menge lernen können. In der Tat: Wer sich die Mühe nimmt, sich durch seine ausführlichen und pointierten Darstellungen der in den Grundlinien bekannten Thesen Schweitzers, der im Einzelnen schon etwas weniger bekannten Thesen Holtzmanns und der heute so gut wie unbekannten und auch von Schweitzer nur ganz kurz und referierten Thesen Theodor Keims durchzuarbeiten, wird reichlich entschädigt. Raus Darstellung bürstet die Autoren des 19. Jahrhunderts wider den heute üblich gewordenen negativen Strich und fragt: Was können wir aus ihnen lernen? Sein Hauptinteresse ist also gerade nicht, sie als zeitbedingt in die gesellschaftlichen, theologischen und geistesgeschichtlichen Kontexte des 19. Jahrhunderts einzuordnen. Wenn man sie mit Raus Augen liest, so enthalten sie – inmitten von sehr vielem Zeitbedingten – eine Menge höchst anregender Fragen, Beobachtungen, Vermutungen und Hypothesen. Rau profiliert sie und macht sie für unsere heutigen Diskurse über Jesus fruchtbar. Das ist höchst reizvoll und lehrreich.
2. Rau revidiert manche spätestens seit der Mitte des letzten Jahrhunderts „gängig“ gewordenen Unechtheitsurteile. Sie betreffen insbesondere apokalyptisch geprägte Worte Jesu, Gerichtsaussagen und prophetische Worte, die nach wie vor überaus gerne Jesus abgesprochen werden, um ihn „von der Verantwortung für futurische Eschatologie, Apokalyptik und Gericht zu entlasten“1. Rau vermutet, dass ein großer Teil der Gerichtsworte Jesu, darunter alle von „dieser Generation“ sprechenden, die meisten gegen die Pharisäer oder Schriftgelehrten...