I. Teil Friede: Der Staat
1. Kapitel: Legitimität
§ 2 Souveränität und Legitimität
Zwei Begriffe bilden den Schlüssel zum Verständnis fast aller Probleme der Staatslehre, die sich auf den neuzeitlichen Staat beziehen: Souveränität und Legitimität. In einer ersten und vorläufigen Kennzeichnung richtet sich die Frage nach der Souveränität auf die Durchsetzungsmacht der Staatsgewalt, die Frage nach der Legitimität auf ihre Rechtfertigung. Beide Fragen hängen auf das engste zusammen, ja bilden gewissermaßen die Außen- und Innenseite desselben Problems. Denn die Durchsetzungsmacht der Staatsgewalt besteht nur so lange, als sie im Großen und Ganzen als gerechtfertigt gilt, mindestens bei den Trägern des Staatsapparates. Ist die Legitimitätsgrundlage der Staatsgewalt erschüttert, so kommt es zu passivem und aktivem Widerstand, zu Rechtsverweigerung, zu Sabotage, schließlich zur Totalpolarisierung und zum Bürgerkrieg, der in die Unterwerfung der einen Partei durch die andere und also in den Terror, in den Bürgerkrieg mit Polizeimitteln, mündet. Die Souveränität des Staates hängt von seiner Legitimität ab, und die Legitimität begründet seine Souveränität. Insofern ist die Legitimitätsfrage die Innenseite der Souveränitätsfrage. Was sich von außen als einfache Machtfrage darstellt, ist von innen gesehen ein Komplex von moralischen, psychologischen, anthropologischen, ökonomischen und geschichtlichen Fragen.
Je tiefer man in das Legitimitätsproblem eindringt, desto tiefer versteht man, was den Staat »im Innersten zusammenhält«, was ihn und seine Verfassungsgeschichte bewegt, wie Macht und Recht sich wechselseitig bedingen. Desto zuverlässiger kann man aber auch voraussehen, wovon Stabilität oder Labilität des Staates abhängen, wo die aktuellen Zukunftschancen und Gefährdungen des demokratischen Verfassungsstaates liegen, welche dialektischen Bewegungsgesetze und Automatismen in ihm wirken und welche politischen Bedingungen welche politischen Folgen erwarten lassen. Kurz, mit der Legitimitätsfrage ist die Frage nach den Souveränitätsbedingungen aufgeworfen. Um diesen Zusammenhang anschaulich zu machen, ist es unvermeidlich, das staatsphilosophische Legitimitätsproblem wenigstens zu skizzieren.
Die Funktionsbedingung eines Staates ist die Verbindlichkeit seiner Entscheidungen. Worauf beruht sie? Von welchen Voraussetzungen und Bedingungen hängt sie ab? Wie kommt es, dass wir Gesetzen, Richtersprüchen, Verwaltungsakten usw. Folge leisten?
Wenn ein Hoheitsakt unseren subjektiven Wünschen und Interessen entgegenkommt, ergibt sich kein Problem. Auch dann, wenn er ihnen widerstreitet, wenn wir z. B. einen Prozess verloren haben, ist es gleichwohl möglich, dass wir die die Entscheidung tragende Norm grundsätzlich anerkennen, dann nämlich, wenn wir einsehen, dass die Norm im Allgemeininteresse liegt oder auf einer gerechten Abwägung von Interessen beruht und dass wir ihr, wenn wir als Gesetzgeber über sie zu entscheiden hätten, zustimmen würden. Es gibt also Anerkennung einer Entscheidung aus subjektivem Interesse und aus objektiver Einsicht.
Wie aber, wenn wir ein Gesetz für politisch falsch, für unzweckmäßig, überholt usw. halten? Es gibt drei Möglichkeiten: 1. Kampf gegen die Verfassung, gegen das »System«, das solche Ungerechtigkeiten zulasse; 2. Nichtbeachtung nur dieses einen Gesetzes bei Verfassungstreue im Übrigen; und 3. Beachtung des Gesetzes, verbunden eventuell mit dem rechtspolitischen Kampf für seine Änderung, gemäß der für das angelsächsische Rechtsbewusstsein prägenden Parole: »to obey punctually, to censure freely« – pünktlich gehorchen, frei kritisieren.
Die dritte Möglichkeit ist die normale, die übliche, die uns zuerst beschäftigen soll. Warum befolgen wir »normalerweise« Gesetze, die wir politisch missbilligen? Eine naheliegende Antwort lautet: weil wir dazu gezwungen werden könnten, letztlich mittels physischer Gewalt, nämlich mittels Polizei, gerichtlicher Zwangsvollstreckung oder Strafen. Staatstheoretisch gesprochen, weil der Staat souverän genug ist, sich durchzusetzen. Ist also die Situation prinzipiell vergleichbar der Zwangssituation, in die uns ein Räuber mit der Alternative »Geld oder Leben« stellt und in der wir ihm daraufhin das Portemonnaie aushändigen? Beruht m.a.W. die Geltung des Gesetzes auf dem Kalkül, dass man das geringere Übel wählt, wenn man der Sanktion aus dem Wege geht? Gegen diese Annahme spricht einiges:
Wenn die Geltung des Gesetzes nur auf der Furcht vor der zu erwartenden Sanktion beruhte, so würde in Situationen, die die Gefahr der Sanktion ausschließen, das missliebige Gesetz niemals beachtet werden, und dies mit gutem Gewissen. Die Ausnutzung der Chance, dass eine Gesetzesverletzung unentdeckt bleibt, kommt gewiss häufig vor, aber es gibt auch andere Möglichkeiten. Man kann sich in solchen Situationen sagen: »Dies ist nun einmal Gesetz«. Oder man missachtet zwar das Gesetz, aber doch mit dem Bewusstsein, etwas Unrichtiges zu tun, das man eigentlich nicht tun sollte. Ein solches Bewusstsein hätte niemand, der sich den Forderungen eines Räubers zu entziehen vermag. Warum dann bei der Verletzung eines missbilligten Gesetzes?
Man kann diese Frage noch schärfer stellen, wenn man nicht von der Gesetzesbefolgung durch den Bürger, sondern durch den Beamten und Richter spricht. Warum vollstreckt der Polizeibeamte einen Verwaltungsakt, den er inhaltlich für falsch hält? Weil das von der zuständigen Stelle angeordnet worden ist und weil es seines Amtes ist, den Anordnungen der zuständigen Stelle Folge zu leisten. Warum aber folgt er den Anordnungen der zuständigen Stelle? Nach der Räubertheorie müsste man ihm das Kalkül unterstellen, dass er seine Stellung gefährden könnte, wenn er solchen Anordnungen nicht Folge leistete. Motiviert ihn wirklich nur dies und nichts sonst? Angenommen, der Beamte, der den vollstreckten Verwaltungsakt erlassen hat, hält ihn inhaltlich ebenfalls für unrichtig. Er hat ihn aber dennoch erlassen, weil das dem Gesetz entspricht. Warum tut er das? Nur, weil er verwaltungsgerichtlicher Kontrolle unterworfen ist? Gesetzt, die Verwaltungsrichter halten das Gesetz ebenfalls für inhaltlich unrichtig, wenden es aber trotzdem an. Warum? Nur weil ihre Entscheidung sonst von einer höheren Instanz aufgehoben würde? Richter sind im Verfassungsstaat unabhängig, das wäre also für sie nicht schlimm. Immerhin, sie könnten ihre Aufstiegschancen beeinträchtigen. Gesetzt, auch die Richter letzter Instanz halten das Gesetz inhaltlich für unrichtig. Sie wenden es trotzdem korrekt an. Warum? Sie sind sachlich und persönlich unabhängig, sie sind am Ziel ihrer Karriere, was motiviert sie? Von der Räubertheorie her ist diese Frage kaum zu beantworten. Man müsste schon zu etwas hilflosen Konstruktionen greifen, die aber doch gerade nur das Ungenügende der Räubertheorie sichtbar machen würden. Was sie motiviert, ist die Geltung des Gesetzes.
Diese Überlegung will deutlich machen: Die Befolgung und Anwendung des Gesetzes lässt sich aus einer Summe von ichbezogenen Zweckkalkülen nicht hinreichend erklären. Es muss hinzukommen die Vorstellung von der Verpflichtungskraft, der Geltung, der Verbindlichkeit des Rechts. »Verpflichten« bedeutet etwas anderes als »nötigen«. Die Aufforderung des Räubers: »Geld oder Leben« verpflichtet nicht, sie nötigt nur. Gewiss, der Staat nötigt auch, er zwingt seine Bürger zur Einhaltung der Verpflichtungen, nämlich mittels Zwangsvollstreckung oder Strafen und deren Androhung. Aber Verpflichtung geht nicht in der Nötigung auf; die Nötigung tritt zur Verpflichtung hinzu. Die Verpflichtung, die Rechtsgeltung, ist das Primäre. Der nötigende Beamte selbst (oder der den Nötigenden letzten Endes Nötigende) muss schließlich von der Verpflichtung überzeugt sein. Denke man sich die Überzeugung von der Verpflichtungskraft weg, so bliebe ein System der Nötigungen übrig, das keinen Tag überdauern könnte. »Der Gewalt weichen ist ein Akt der Notwendigkeit, nicht des Willens, höchstens ein Akt der Klugheit. Inwiefern sollte daraus eine Pflicht werden?« (Rousseau4).
Man pflegt zwischen Geltung und Wirksamkeit des Rechts zu unterscheiden: Recht »gilt« kraft seiner Verbindlichkeit, seiner innerlich akzeptierten Verpflichtungskraft; es ist wirksam, soweit es, empirisch feststellbar, befolgt oder durchgesetzt wird. Wer gegen ein Gesetz verstößt, bezweifelt deswegen nicht ohne weiteres seine Geltung; nur ist das Gelten in diesem Fall nicht wirksam geworden. Der Satz: »Die Souveränität beruht auf Legitimität« lässt sich in einem ersten Schritt durch den Satz verdeutlichen: »Die Wirksamkeit des Rechts beruht auf seiner Geltung.«
§ 3 Amt, Macht und Recht
Beruht aber nicht auch, anders herum, die Geltung des Rechts auf seiner Wirksamkeit? Kann Recht als verpflichtend anerkannt werden, wenn nicht eine Zwangsgewalt dahintersteht, die es durchsetzt, nachdem es vom Inhaber der gesetzgebenden Gewalt als verpflichtend angeordnet oder anerkannt worden ist? Anders gewendet: Souveränität beruht auf Rechtsgeltung. Beruht aber nicht auch die Rechtsgeltung auf Souveränität?
Man kann sich die Zusammenhänge am besten am Begriff der Autorität anschaulich machen, der gewissermaßen den Schnittpunkt der Begriffe Souveränität und Rechtsgeltung bildet. Der Legitimität der Staatsordnung im Ganzen entspricht die Autorität der jeweiligen Inhaber der Staatsgewalt. Autorität hat m.a.W. der Amtsinhaber in...