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Geburtsurkunde

Die Geschichte von Danilo Ki?

AutorMark Thompson
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl512 Seiten
ISBN9783446249578
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Einige Jahre vor seinem Tod hat Danilo Kis auf wenigen Seiten einen Abriss seines Lebens geschrieben, dem er den Titel 'Geburtsurkunde' gab. Der Osteuropakenner Mark Thompson nimmt diesen Text auf virtuose Weise als Vorlage für seine fundierte und vorzüglich lesbare Biografie des Schriftstellers. Sein Buch erzählt nicht nur das Leben von Danilo Kis, sondern ist zugleich eine Werkbiographie und vermittelt den besonderen Zusammenhang von Geschichte und Literatur in Mittel- und Osteuropa. 'Mark Thompsons Kompetenz auf diesem Gebiet ist atemberaubend.' (Adam Zagajewski)

Mark Thompson, 1959 geboren, ist Historiker und wurde für sein Werk mehrfach ausgezeichnet. Neben seiner Forschung arbeite er in den 1990er Jahren im Rahmen mehrerer Friedensmissionen für die Vereinten Nationen und in den Jahren 2000 und 2001 für das Balkan Programm der International Crisis Group ISG. Er lebt in Oxford und arbeitet an der dortigen Universität. Geburtsurkunde. Die Geschichte von Danilo Ki? stand 2013 in der Kategorie Biographie auf der Shortlist des National Critics Circle Award und erhielt 2015 den Jan-Michaelski-Preis für Literatur.  

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Leseprobe

 

 

2

Mein Vater

 

 

Der Vater war für Kiš, was Dublin für James Joyce, Mut für Hemingway oder das Exil für Nabokov war: Ansporn zur Kreativität, oft auch deren Gegenstand. Der Vater ist Dreh- und Angelpunkt von Kišs frühen Gedichten und die zentrale Figur der meisten seiner Prosatexte. Filiation ist selbst dann Kišs Thema, wenn er nicht über den eigenen Vater schreibt: Seine beste Erzählung, Enzyklopädie der Toten, handelt von einer Tochter, die nach der Biographie ihres Vaters forscht. Kišs Erzählzyklus über sowjetische Gewaltherrschaft, Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch, konzentriert sich auf Stalin, dessen Bild an der Wand des Zimmers eines Vernehmungsoffiziers hängt: Schlechter kann ein Vater nicht sein, Quell grausamer Illusion, ein falscher Gott. »Miksa blickte auf das Porträt, in das gutmütig lächelnde Gesicht eines weisen alten Mannes, der seinem Großvater ähnlich sah, und betrachtete es flehentlich und voll Ehrfurcht.«

Kišs erste veröffentlichte Arbeiten waren allerdings herzergreifende Gedichte über den Verlust der Mutter. Sie starb an Krebs, als Kiš sechzehn Jahre alt war. Die erste Zeile seines Erstlings, »Abschied von der Mutter«, lautet: »Mutter! Dein glasiger Blick trübt mir die Seele«. Nach vier schlichten ABAB-Kreuzreimen endet das Gedicht mit einer Beschwörung der »zärtlichen Liebe einer Mutter, die nicht mehr ist!« Kiš äußert seinen Schmerz zu direkt, sein literarisches Handwerkszeug erlaubt ihm nicht mehr als einen Verzweiflungsschrei. Das Gedicht ist rührselig und fällt höchstens durch die Entschlossenheit auf, mit der der Dichter ein Erlebnis, das ihm in der Seele brennt, offen ausspricht.

Kiš war damals achtzehn und kein Wunderkind. Seine Begabung zeigte sich in der Geschwindigkeit, mit der er nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum dazulernte. 1953, zwei Jahre nach dem Tod der Mutter, heiratete seine Schwester und zog in eine montenegrinische Küstenstadt, die sie aus ihrer Studienzeit kannte. Und wieder triggerte der Verlust ein Gedicht:

 

Hochzeitsgäste

 

Hochzeitsgäste

verlassen mein Haus

 

Die Schwarzen nahmen mir

die Mutter

 

die Weißen

die Schwester

 

Meinem Herzen ist es gleich

ob die Glocken schießen

oder die Kanonen läuten

 

Hochzeitsgäste

verlassen mein Haus

 

Der Dreiundzwanzigjährige hatte begriffen, dass sich wahre, tiefe Gefühle unbewältigt keineswegs in wahres, tiefes Schreiben übersetzen: Kreativität braucht den Abstand zum Schmerz. Die nackte Dringlichkeit ist einer Folge von Gegensatzpaaren gewichen, die kreisend zum Anfang zurückkehren. (Zirkuläre Formen sollten ihn bis an sein Lebensende faszinieren.) Vor allem aber hatte Kiš begriffen, dass er selektieren und verdichten musste: Jedes Wort ist mit Bedacht gewählt, jede Silbe gewichtet.

»Hochzeitsgäste« ist Kišs letztes Gedicht, das auf die Mutter anspielt. Dank einem jener Zufälle, die seine Biographie begleiten – und sein Gefühl stützten, nichts im Leben eines Schriftstellers sei Zufall –, druckte es eine Zeitschrift 1955 neben dem ersten Text ab, den er über seinen Vater veröffentlichte.

 

Biographie

 

Ein großer Säufer war Eduard Kohn.

Er hatte eine Brille aus glitzernden Prismen und sah durch sie die Welt

wie durch einen Regenbogen.

 

1

Schon als Kind in der Schule mußte er nach allen anderen pinkeln, denn

er war beschnitten.

Früher einmal liebte er die Bäckerstochter und war ein bißchen glücklich.

Als sie erfuhr, daß er beschnitten sei, meinte sie, daß sie das Bett

nicht mit ihm teilen könne.

Von da an liebte er sein Geld dem Csárdásgeiger zuzustecken und küßte

sich mit den Zigeunern.

Danach verliebte er sich – zum Trost – in Deliria, und sie umfing ihn

in ehrlicher Umarmung.

 

2

Der Wind verwehte seine Asche durch den schlanken Schornstein

des Krematoriums, höher und höher …

bis hinauf zum Regenbogen.

 

Die Mutter wird genannt, verehrt und beweint und gerät zum überlebensgroßen Archetypus; der Vater hingegen ist assoziiert mit Zeitgeschichte (Judenvernichtung) und Politik (Rassismus) und verlangt Erzählung (das Leben eines Mannes) und Poesie (Tropen, Tragikomik, Allegorie, Ironie). »Hochzeitsgäste« ist das handwerklich bessere Gedicht, »Biographie« vielversprechender für einen Dichter, dessen Zukunft in der Prosa lag.

Die drei Gedichte über Mutter, Vater und Schwester verweisen als kleines Triptychon auf das Terrain, das Kiš rund zwanzig Jahre lang schreibend kartographieren wird. Während der Vater als Thema immer deutlicher hervortritt, sucht Kiš tastend nach literarischen Entsprechungen für seine Ur-Erfahrung und die großen Fragen, die sich daraus ergeben. Die Suche nach der Form hat begonnen – er selbst spricht von der »milost uobličenja«, der Gnade der Form.

 

Eduard Mendel (oder Emanuel) Kohn wurde als sechstes von sieben Kindern am 11. Juli 1889 in Kerkabarabás geboren, einem Dorf bei Zalaegerszeg im Südwesten Ungarns. Seine Eltern hießen Miksa (*1840) und Regina (*1850, geb. Fürst); die Kohns waren die einzige jüdische Familie im Ort.

Miksa (eigentlich Max oder Mihály) besaß eine Gemischtwarenhandlung und etwas Wald in der Umgebung. Seine Vorfahren sollen mit Gänsefedern gehandelt haben und aus dem Elsass nach Ungarn geflohen sein. Irgendwann war der Forstbesitz verloren. »In den Wäldern, die ihm gehörten, wurde Holzasche (Pottasche) gewonnen, ein Material, das zur Herstellung von Kachelöfen und Keramikgeschirr dient«, sagte Kiš in einem Interview. »Ob ihn ein Waldbrand in die Armut trieb oder die Konkurrenz des tschechischen Porzellans, das die Bedeutung der Pottasche verdrängte, ich weiß es nicht.« Eduard jedenfalls grollte später einigen seiner Geschwister wegen der verlorenen Wälder, überzeugt, sie hätten ihn hinterrücks um seinen Erbteil gebracht.

Eduard besuchte die rund zwanzig Kilometer entfernte höhere Schule in Lendava, einer Marktgemeinde, die damals zu Ungarn, später zu Jugoslawien gehörte und heute in einem grünen Winkel Sloweniens liegt. 1903 schrieb er sich als Eduard Kiss an der Handelshochschule in Zalaegerszeg ein. Was er zwischen Sommer 1906 und September 1907 machte, als er bei der Eisenbahn anfing, weiß man nicht. Danilo Kiš nahm an, er hätte sich wie auch später nach der Frühpensionierung erfolglos als Geschäftsmann versucht.

Im Juli 1920 ließ sich Eduard in Subotica nieder. Vor dem Ersten Weltkrieg war das wohlhabende Städtchen mit seinen noblen Jugendstilhäusern noch ungarisch und hieß Szabadka. Die Synagoge hätte von Gaudí sein und in Barcelona stehen können. Durch den Friedensvertrag wurde der Ort Teil des neu gegründeten Staates der Südslawen, wenige Kilometer weiter verlief die ungarische Grenze. Um die ethnisch überwiegend ungarische Bevölkerung in diesem sensiblen Gebiet zu durchmischen, sprach die Regierung Hunderten von Montenegrinern Grund und Boden rund um die Stadt zu.

 

 

Hochzeit in Subotica 1931: »An jenem Abend erblickte Eduard Sam am Nachbartisch eine Frau in Gesellschaft, eine außerordentlich schöne Frau«. (Garten, Asche)

 

Doch wahrscheinlich kam Milica Dragićević (*1903) auf der ersten Reise, die sie aus dem heimatlichen Montenegro führte, nicht deshalb nach Subotica. Vielmehr besuchte sie ihre Schwester Draginja und deren Ehemann Milutin Malović, ebenfalls ein Montenegriner, die beide für die jugoslawische Eisenbahn arbeiteten. Es ist nicht bekannt, wie Milica Eduard kennenlernte. Danilo Kiš sprach später von einem »seltenen Zufall, für die damalige Zeit vielleicht einzigartig«. Von dieser denkwürdigen Beziehung soll in Kapitel 13 noch die Rede sein; an dieser Stelle sei nur erwähnt, dass es in Montenegro keine jüdische Bevölkerung und kaum Antisemitismus gab. Eduard war wahrscheinlich der erste Jude, den Milica traf, und sein Jüdischsein war für sie wohl eher ohne Bedeutung.

Unbekannt ist auch, wie sich die beiden näherkamen. Geheiratet haben sie im darauffolgenden Oktober, da war Eduard zweiundvierzig. Das Hochzeitsfoto zeigt ein ernstes, nicht mehr junges Paar, Seite an Seite, ihre Schläfen berühren sich fast, beide blicken in die Kamera. Er aus großen Augen hinter einer randlosen Brille, mit Vatermörder und gestreifter Krawatte, er wirkt entschlossen und gleichzeitig erstaunt. Milicas helles Blumenkleid steht im Kontrast zu ihrem dunklen, zurückgekämmten Haar, das ein auffallend schönes Gesicht umrahmt und Augen, die Leid erwarten.

Danica wurde im August 1932 in Zagreb, der kroatischen Hauptstadt, geboren, auf der Rückreise von einem Besuch bei Eduards Bruder Adolf, der mit seiner italienischen Frau in Triest lebte. Das zweite Kind kam am 22. Februar 1935 in Subotica zur Welt: »Danilo / männlich / Jude« steht im Geburtenregister der Stadt. Danica und Danilo sind montenegrinische Namen.

Eduard war ein schwieriger Mensch. 1934 musste er für drei Monate in eine psychiatrische Anstalt bei Belgrad, 1939 folgten zwei kürzere Aufenthalte. Der Besuch beim Vater im September 1939 brannte sich Danilo ein. Eduard verlangte von Milica eine Schere, »um seinem Leiden ein Ende zu setzen. Es ist Spätsommer, der Rost des Herbstes beginnt das Platanenlaub anzufressen, mein Vater sitzt im Krankenhauspyjama auf einer Holzbank des Spitalparks, mit abwesendem Blick.«

Danilo wuchs im Glauben auf, Alkohol sei die Ursache für die Krankheit seines Vaters. Erst viel später, Anfang der Siebziger, erfuhr er, dass das Trinken nur Symptom tiefer...

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