Unterschiedlich lange Beine
»Dass meine Beine nicht gleich lang sind, müsste ich doch gemerkt haben« ist die häufigste Reaktion auf die Vermutung, dass ungleich lange Beine die Rückenschmerzen verursacht haben könnten. Manche Patienten, vor allem Frauen, haben vielleicht ab und zu beim Kleider- oder Hosenkauf einen Hinweis bekommen. Da muss dann zum Beispiel der Rocksaum einseitig gekürzt werden oder nur ein Hosenbein. Möglicherweise hat sich die Betreffende sogar schon daran gewöhnt und denkt, dass man da ja sowieso nichts machen kann.
Es gibt aber oft schon viel früher Indizien dafür, dass mit der Statik etwas nicht stimmt. Beim Baby weist die asymmetrische Pofalte auf einen Hüftschiefstand hin, der mit einer doppelten Windel, einer Spreizhose oder gar dem Gipsbett gerichtet werden soll. Später, wenn das Kind laufen kann, gibt es weitere Hinweise auf Probleme mit der Statik. Wenn man davon ausgeht, dass alle Kinder gern laufen (sonst würden sie es ja nicht mühsam erlernen), muss es verwundern, dass manche dabei keine große Ausdauer entwickeln. Sie quengeln schon nach kurzer Zeit und wollen lieber getragen oder gefahren werden, als die eigenen Beine zur Fortbewegung zu benutzen. Vermutlich kommt in diesem Verhalten ein Unbehagen zum Ausdruck, das beim Gehen durch die Beinlängendifferenz verursacht ist. In den seltensten Fällen handelt es sich um Faulheit, die dem Kind dann häufig unterstellt wird.
Bei allen Patienten, die unter Rückenschmerzen leiden, auch schon bei Kindern, ist eine Kontrolle und Korrektur der Beinlängen erforderlich. Ein Dorn-Therapeut überprüft Ihre Beinlängen, während Sie ganz entspannt und angekleidet auf dem Rücken liegen. Auch die Schuhe behalten Sie an. Vor allem aber wissen Sie, dass diese Prozedur keinesfalls schmerzt. Der Therapeut hebt Ihre Beine nun in einem Winkel von etwa 60 Grad an, wobei die Knie durchgedrückt bleiben.
Abbildung 16
Das ist manchmal leichter gesagt als getan. Viele Patienten lassen ihre Beine nicht einfach vom Therapeuten anheben, sondern helfen mit, und zwar meist vollkommen unbewusst. Ein erfahrener Dorn-Therapeut kann gut beurteilen, wie schwer die Beine seines jeweiligen Patienten sind. Er merkt, ob Sie mithelfen, und weiß, dass kaum eine Aussage zur Beinlängendifferenz möglich ist, wenn Sie es tun. Vielleicht hilft es, wenn er Ihre Beine beim Anheben ein wenig spreizt. Die Beine werden ja eigentlich nur angehoben, damit Sie als Patient selbst sehen, um wie viel länger eines Ihrer Beine im Vergleich zum anderen ist. Am besten können Sie das natürlich an den Absätzen Ihrer Schuhe sehen. Und wenn Sie es selbst gesehen haben, so unsere Vermutung, werden Sie die zur Korrektur notwendigen Übungen nicht so leicht vergessen. In den allermeisten Fällen kann derTherapeut die Differenz auch feststellen, wenn Sie nur entspannt und gerade auf dem Rücken liegen.
Beim Anheben der Beine sollten die Daumen des Therapeuten in der Mitte des Schuhabsatzes liegen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass locker sitzende Schuhe das Bild verfälschen. Meistens zeigt sich ein deutlicher Unterschied in den Beinlängen. Auf der Abbildung 17 ist beispielsweise das linke Bein länger.
Abbildung 17
Wenn die Absätze der Schuhe parallel stehen, die Fußsohlen aber ungleich sind (Abb. 18), so deutet dies auf einen Beckenschiefstand hin.
Abbildung 18
Man kann die Beinlängendifferenz natürlich auch ohne Schuhe messen. Manchmal hat der Patient die Schuhe schon ausgezogen. Oder er hat bereits eine Absatzerhöhung an einem Schuh, oder die Patientin trägt ganz leichte Sandalen oder, zum Glück immer seltener, »Stöckelschuhe«. Dann muss der Therapeut die genaue Beinlängendifferenz auch am unbekleideten Fuß diagnostizieren können. Er legt seine Daumen in die Mitte der Ferse auf die Fersenbeinhöcker. Ein leichter Druck auf diese härteste Stelle der Ferse zeigt die Differenz genauso deutlich an wie die Messung mit Schuhen. Diesmal schaut sich der Therapeut nicht die Absätze der Schuhe an, sondern seine eigenen Daumen.
Man sagt, dass etwa achtzig Prozent aller Menschen mit Rückenproblemen unterschiedlich lange Beine haben. Die Erfahrung zeigt, dass dieser Prozentsatz noch viel zu niedrig angesetzt ist. Bei Patienten, die einen Dorn-Therapeuten aufsuchen, oder bei unseren Seminarteilnehmern finden sich fast immer Unterschiede in den Beinlängen, die in der Regel zwischen einem und vier Zentimetern liegen. Meist ist dies den Betroffenen gar nicht bewusst, denn schließlich humpeln sie ja nicht. Meine (Gerda Flemmings) Erfahrung ist, dass nur bei jedem tausendsten Patienten die Beine gleich lang sind. Eine anatomische Beinlängendifferenz fand ich bisher nur bei zwei Patienten. Der eine war ein Erwachsener, der als Kind einen Schienbeinbruch erlitten hatte. Da war die Kallusbildung beim Zusammenwachsen der Knochen so überschießend gewesen, dass das gebrochene Bein schließlich um zwei Zentimeter länger war als das andere. Bei einem elfjährigen Mädchen wuchs das linke Bein ohne ersichtlichen äußeren Grund schneller als das rechte. Als dieses Kind in meine Praxis kam, betrugt der Unterschied bereits drei Zentimeter. Trotz sorgfältiger Überprüfung konnte ich in den Gelenken keine Ursache für die Beinlängendifferenz finden. Unter- und Oberschenkel waren deutlich länger als beim rechten Bein.
Wenn festgestellt wird, dass die Beine nicht gleich lang sind, sollte man nicht warten, bis sich daraus zunächst ein Beckenschiefstand und später eine Wirbelsäulenfehlstellung entwickelt, sondern diesen Zustand gleich korrigieren.
Zunächst wird das Sprunggelenk gerichtet, danach das Kniegelenk und schließlich das Hüftgelenk. Diese Korrektur ist völlig schmerzlos, denn dabei werden nur die Knochen der entsprechenden Gelenke wieder zusammen geschoben. Natürlich wird nach dem Richten eines Gelenkes immer nachgemessen. Denn Sie als Patient müssen wissen, welches Gelenk für das Ungleichgewicht in Ihrer Statik verantwortlich war, damit Sie dann entsprechende Übungen machen können.
Ein sportlicher junger Mann, der leidenschaftlich gern Squash spielte, hatte trotz dieser regelmäßigen sportlichen Betätigung Schmerzen im Rücken. Seine Beine schienen zunächst gleich lang zu sein.
Abbildung 19
Eine gründliche Untersuchung und Korrektur zunächst des linken Beines hatte jedoch zur Folge, dass nun das rechte Bein um drei Zentimeter länger war als das korrigierte Bein. Also wurde die gleiche Prozedur auch am rechten Bein durchgeführt, bis beide Beine wieder gleich lang waren. Dieser junge Mann hatte eine Fehlstellung an fünf von sechs möglichen Gelenken gehabt.
An diesem Beispiel sehen Sie, dass es nicht ausreicht, den Gleichstand zu diagnostizieren. In Fällen wie diesen finden wir fast immer Schäden sowohl am rechten als auch am linken Bein. Mit der Korrektur hören wir natürlich erst auf, wenn beide Beine wieder gleich lang sind.
Wie kommt es zu unterschiedlich langen Beinen?
Manchmal, wenn auch äußerst selten, ist ein Bein wirklich länger als das andere, zum Beispiel aufgrund eines in der Kindheit oder im Jugendalter erlittenen Beinbruchs. In diesem wie in anderen Fällen, in denen die Beinlängendifferenz anatomisch bedingt ist, ist es natürlich sinnvoll, das kürzere Bein durch Einlagen oder Absatzerhöhungen künstlich zu verlängern.
Diese Maßnahmen sind jedoch nicht sinnvoll, wenn die unterschiedlich langen Beine durch ein Verrutschen oder Verkanten einzelner Knochen im Gelenk (besonders im oberen Sprunggelenk) oder durch Vergrößerung eines oder mehrerer Gelenkspalte entstanden sind. Und das ist bei etwa 98 Prozent aller Patienten mit unterschiedlich langen Beinen der Fall.
Abb. 20 zeigt schematisch ein Gelenk. Jedes echte Gelenk ist durch den Gelenkspalt definiert. Ein solches Gelenk sorgt ja dafür, dass sich zwei Knochen gegeneinander bewegen können, was nicht möglich wäre, wenn sie, wie bei den unechten Gelenken, durch Knorpel relativ fest miteinander verbunden wären. Der Gelenkspalt eines echten Gelenks kann sich aus unterschiedlichen Gründen vergrößern: durch einen Unfall, ein unglückliches Umknicken, ein Hinfallen oder ähnliches, durch eine Operation oder, im günstigsten Fall, nur durch lange falsche Gewohnheiten, auf die wir bei den hauptsächlich betroffenen Gelenken noch im einzelnen hinweisen werden. Dann dehnen sich die Bänder, Sehnen und Muskeln, die dafür sorgen sollen, dass die Knochen passgenau und im richtigen Abstand voneinander sitzen. Eine Vergrößerung des Gelenkspalts verursacht Schmerzen. Wenn die Knochen in eine Fehlstellung geraten sind, wird die schützende Knorpelschicht beschädigt. Bei den Beinen kann es dann zu Beschwerden im Sprunggelenk, im Knie oder in der Hüfte kommen. Hier liegt unserer...