Detlef Grumbach
«… eigentlich eine
Hommage an Tschaikowsky»
Fredric Kroll und sein
Engagement für Klaus Mann
Kilchberg und Zürich, April 1970: Ein 25 Jahre junger Amerikaner sichtet den Nachlass Klaus Manns. Er liest unter anderem das Fragment von Klaus Manns letztem Romanprojekt: «The Last Day». Der junge Mann ist erschüttert.
«Der letzte Krieg war ein Irrtum», so wirbt ein amerikanischer Oberst in dem Text drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs schon wieder für einen neuen Krieg. «Unser Feind ist nicht der Faschismus, der Faschismus ist in Ordnung – er respektiert die heilige Grundlage der abendländischen Zivilisation: das Privateigentum. Unser Feind ist der Kommunismus.» Julian, einer der beiden Protagonisten und das Alter Ego des Autors, hat auf Seiten der Amerikaner gegen das nationalsozialistische Deutschland gekämpft. Zurück im New York der McCarthy-Ära schreibt er an einem politischen Manifest: «Sie reden von Freiheit, von Demokratie – sie missbrauchen diese großen Worte als Köder, um die Massen anzulocken und sie zu verwirren. Die Demokratie, wie der Oberst und seine Freunde sie auffassen, hat nur einen Zweck, eine einzige raison d’être: die Privilegien, die Reichtümer und die Macht der herrschenden Klasse zu verewigen und zu vermehren. Das, was sie Freiheit nennen …» Dieser niederschmetternden Skizze der politischen Situation in den USA steht eine ebenso niederschmetternde Skizze der Lage in Ost-Berlin gegenüber. Klaus Mann hat Angst vor einem neuen Krieg. Der Krieg in Korea, die Kuba-Krise und der Krieg in Vietnam werden diese Angst bestätigen, lassen sie gut 20 Jahre später hoch aktuell erscheinen.
Fredric Kroll, so der Name des jungen Mannes, war 1969 aus seiner amerikanischen Heimat nach Deutschland gekommen. Sein Grund: der Vietnam-Krieg. Eigentlich war er der Musik zugetan – die Mutter war Sopranistin, der Vater Komponist. Das Studium der Musik blieb ihm verwehrt, er hat sich für die Germanistik entschieden – und dann drohten irgendwann die Einberufung in die Armee und der Krieg. Der einzige vernünftige Weg, der ihm einfiel, dieser persönlichen und politischen Katastrophe zu entgehen, war der Plan einer Promotion. Zunächst hatte er eine Arbeit über Thomas Mann in Erwägung gezogen, doch das Ausmaß der Sekundärliteratur schreckte ihn ab. Da besann er sich auf seine Klaus-Mann-Lektüre.
Als Schüler schon hatte er die amerikanische Ausgabe von «Symphonie Pathétique», gelesen: «In Klaus Manns Darstellung seiner Hauptfigur erkannte ich vieles von mir wieder», schreibt er Jahre später im Vorwort der «Klaus-Mann-Schriftenreihe»: «Menschenscheu, den Glauben an einen persönlichen Gott, der einem einen Auftrag erteilt, Schwermut, Zweifel am eigenen Wert als Komponist (hier hatte ich damals schon stärkste Ambitionen) und Mensch» (KMS 1, S. 15).
Den «Wendepunkt» hat er 1963 gelesen. Wie Klaus Mann dort über den Selbstmord seines Freundes Ricki Hallgarten schreibt, hat Kroll fasziniert und sein Interesse für den Selbstmörder Klaus Mann geweckt. Dieser Autor, so empfand er, war es wert, «ausgegraben zu werden», sein Werk war «praktisch unbekanntes Terrain»1. So war er auf der Flucht vor einer Einberufung zum US-Militär nach Kilchberg gekommen.
Im August 1969 hatte er an die Erben Klaus Manns geschrieben – ein schlechtes Timing, denn Erika Mann war gerade gestorben. Niemand fühlte sich richtig zuständig und Martin Gregor-Dellin, der Herausgeber der Werke Klaus Manns in der Nymphenburger Verlagshandlung, vertröstete ihn. Es dauerte bis ins Frühjahr 1970, bis Kroll einen Brief von Anita Naef, der ehemaligen Sekretärin Erika Manns bekam. Anita Naef schrieb dem ungeduldig wartenden Doktorand, sie könne ihm «einiges zeigen». Genauer hat sie sich nicht ausgedrückt. «Ich komme also Anfang April 1970 nach Kilchberg, und Anita Naef war erst einmal sehr vorsichtig. Sie hat damit angefangen, mir ein paar veröffentlichte Übersetzungen von ‹Symphonie Pathetique› zu zeigen, um meine Reaktion auszutesten. Sie gewann zum Glück den Eindruck, dass ich seriös sei und brachte mir nach und nach Sachen aus dem Nachlass. Die durfte ich dann mit ins Hotelzimmer nehmen.» Er saß dann in dem «wohl schlechtesten Hotelzimmer in ganz Zürich» und konnte unter anderem den Bauplan und die wenigen ausgearbeiteten Szenen von «The Last Day» lesen: «Das dauerte etwa dreieinhalb Stunden, und während dieser gesamten Zeit habe ich geheult wie ein Schlosshund: zum einen wegen Klaus Manns Verzweiflung und zum anderen, weil es zur damaligen politischen Situation passte. Denn es war auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges, und Klaus Manns radikale Enttäuschung über Amerika, so wie sie ausgedrückt wird von der Hauptfigur Julian in New York, das war genau meine eigene.» Ein drittes Mal hatte Klaus Mann ihn gepackt!
Bei Klaus Mann sind, wie bei kaum einem anderen Schriftsteller, Leben, politisches Engagement und Literatur miteinander verschmolzen. Diese enge Verbindung begann bereits, als er seine Leidenschaft für Frankreich entdeckte, nach Paris kam, dort viele Freunde gewann und sich fragen musste, warum Franzosen und Deutsche sich als Erbfeinde gegenüberstanden. Sie setzte sich fort, als er zu einem der Motoren der antifaschistischen Volksfront zur Verteidigung der Kultur wurde und später, in amerikanischer Uniform, nach Europa zurückkam. Seine Hoffnung, dass nach dem Sieg über Nazi-Deutschland eine gerechtere und friedlichere Welt aufgebaut würde, wurde zerschlagen. Nachdem die USA dann ohne jede militärische Notwenigkeit die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abwarfen, nachdem aus der Koalition gegen Hitler zwei unversöhnlich sich gegenüberstehende Blöcke gewachsen waren und die Gefahr eines neuen Kriegs mit Händen zu greifen war, konnte er nur noch verzweifeln. Sein Vermächtnis, der postum veröffentlichte Essay «Die Heimsuchung des europäischen Geistes», das Fragment «The Last Day», aber auch sein Freitod zeugen davon.
Die Rezeption Klaus Manns in der jungen Bundesrepublik, die sich auf der Seite des Westens und der USA positioniert hatte und zum Bollwerk gegenüber der sozialistischen Staatengemeinschaft ausgebaut wurde, stand unter einem schlechten Stern. Dieses Schicksal teilte er mit den meisten der Intellektuellen, die nach der Machtübertragung an Hitler ins Exil gegangen waren. Klaus Mann war es, der den Vater im Mai 1945 vor einer baldigen Rückkehr gewarnt hat. Zahlreiche Exilanten zögerten, überhaupt nach Deutschland zurückzukehren, andere fanden in der DDR ein Zuhause. Klaus Mann besuchte nach dem Krieg mehrfach Berlin und auch München, doch blieb er nach seinem Ausscheiden aus der US-Armee ein Heimatloser und starb im Mai 1949 in Cannes. Trotz dieses Unverhältnisses zu seinem Heimatland erschien der «Wendepunkt» im Fischer-Verlag erstmals 1952. Es folgten mehrere Auflagen, sogar eine Ausgabe im Bertelsmann Lesering (1960) und in der Fischer Bücherei (1963), wenige weitere Titel erschienen zunächst bei Fischer und später in der Nymphenburger Verlagshandlung. Einen deutlichen Rückschlag erlitt die Klaus-Mann-Rezeption allerdings, als die 1965 erschienene Ausgabe von «Mephisto» 1966 auf Betreiben Gustaf Gründgens’ verboten wurde. In der DDR fanden die Autorinnen und Autoren des Exils im Aufbau-Verlag eine «Heimat», dort wurden sie als Repräsentanten des anderen Deutschlands geachtet, wurden ihre Bücher gedruckt. Auch einige von Klaus Mann. In der Bundesrepublik dauerte es noch bis zum Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, bis die Autoren des Exils wieder gelesen und einem breiteren Publikum bekannt wurden. «Praktisch unbekanntes Terrain» – gute Voraussetzungen für Pionierarbeiten und Entdeckungen aller Art. Fredric Kroll hat sie genutzt.
Später wird Fred Kroll sagen, dass er in Kilchberg einmal in seinem Leben der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Ein Zufall, aber einer mit gravierenden Folgen. Kaum jemand dort verfügte über die Sprachkenntnisse, um sich das zum großen Teil auf Englisch abgefasste Material anzueignen, Kroll hatte nach dem geglückten Entree freie Bahn und für einen entscheidenden Zeitraum beinahe ein Monopol.
Seine Dissertation über «Moral und Schönheit im Frühwerk von Klaus Mann» legte er 1973 in Rochester vor, aber auch danach bestimmte Klaus Mann sein Leben. Als Herausgeber und wichtigster Autor der «Klaus-Mann-Schriftenreihe» (1976–2006) wurde er zum Motor der Wiederentdeckung Klaus Manns. «Vier Jahrzehnte haben die Autoren recherchiert, umfangreiche Korrespondenzen und persönliche Gespräche geführt», heißt es auf dem Buchumschlag 2006: «Auf diese Weise konnten sie die autobiografischen Zeugnisse Klaus Manns und die vorhandenen, bruchstückhaften Faktensammlungen um zahlreiche substanzielle Daten, Namen, Milieu- und Hintergrundinformationen bereichern. Die sechsbändige ‹Klaus-Mann-Schriftenreihe› zeichnet den Lebensweg des Autors nach, spürt das Wechselspiel persönlicher und zeithistorischer Umstände auf und leistet vor diesem Hintergrund eine...