Eng ist die Welt des Huhns
Wo einer zur Welt gekommen ist, kann dessen ganzes Leben bestimmen. Ein Kind, das Mitte des 19. Jahrhunderts in der lauten Hektik einer frühindustriellen Stadt aufwuchs, um sich herum Menschen, die sich in ein und derselben Sprache verständigten, wird eine andere sinnliche Wahrnehmung, ein anderes Bild von der Welt entwickelt haben, als jener Junge, der im Sommer des Jahres 1854 in Nordostmähren geboren wurde. Das siebente Kind des Lehrers Jiří Janáček und seiner Frau Amalie hörte die Natur, das Rauschen des Waldes und des Wassers, die Tiere am Boden und in der Luft. Das Tschechisch, dass seine Eltern und Verwandten sprachen, war »dadurch charakterisiert, dass alle Vokale ohne Ausnahme kurz sind … und dass der Ton (wohl unter polnischem Einfluss) von der Anfangssilbe, die er in allen tschechischen Worten festhält, manchmal gegen die Wortmitte zurückweicht«.1 Daher sprach man den Nachnamen des Komponisten zu Hause vielleicht so aus, wie es unbefangene Deutsche tun, die das Häkchen (Háček) auf dem c wohl kennen, aber nicht wissen, dass nach den Ausspracheregeln des Hochtschechischen das erste a in Janáčeks Namen betont, aber kurz, das zweite á hingegen unbetont, jedoch lang zu klingen hat. Andere Menschen, die das Kind hörte, sprachen Deutsch. Und wer aus gar nicht weiter Entfernung zu Besuch kam, aus den nahen österreichisch- und preußisch-schlesischen oder slowakischen Gebieten, hatte bereits einen ganz anderen Sprachklang als die Leute am Ort. Bis nach Teschen, wo man viel Polnisch sprach – und es eine große jüdische Gemeinde gab –, waren es gerade dreißig Kilometer; heute liegt die Stadt als Cieszyn und Český Těšín halb in Polen und halb in der Tschechischen Republik. Damals war man dort mitten in Österreichisch-Schlesien; und auch etwas weiter östlich, wo zwischen Bielitz und Biala, dem heutigen polnischen Bielsko-Biała, das Kronland Königreich Galizien und Lodomerien begann, regierte der Kaiser.
Das um eine alte Burg herum gewachsene Dorf Hukvaldy liegt am nördlichen Auslauf der mährisch-schlesischen Beskiden, die der mehr als elfhundert Meter hohe, nach einer slawischen Gottheit benannte Berg Radhošť (von Radegast) beherrscht, wo die Slawenapostel Kyrillos und Methodios die Mähren zum Christentum bekehrt haben sollen. Es lag im mährischen Komitat Neu-Titschein (Nový Jičín). Der Nachbarlandkreis im Südosten gehörte bereits zum ungarischen Reichsteil der Wiener Krone; im heute slowakischen Trenčín lebten aber auch damals nur wenige Ungarn, wiewohl es nicht weit von Janáčeks Geburtsort mährische Städte gibt, die Ungarisch-Hradisch oder Ungarisch-Brod heißen. Ein Kind, das in dieser Umgebung genau hinhörte und nicht allein darauf aus war, zu verstehen, was die Leute redeten, sondern auch, wie sie es taten, konnte viel mehr lernen als die bloße Bedeutung von Worten. Manch einer redete Stakkato, ein anderer schien die Worte zu singen …
Wenn man den am 3. Juli 1854 in Hukvaldy geborenen Leoš Janáček heute einen tschechischen Komponisten nennt, dann klingt das selbstverständlich, aber es ist dennoch eine fahrlässige Ungenauigkeit. Er selbst hätte sich mitnichten als Tschechen (»čech«) bezeichnet. Janáček war Mähre. Ein Mähre besonderer Herkunft, nämlich vom Rande des tschechischen Sprachraums, wo dieser sich mit denen anderer slawischer Sprachen berührte und wo seit Jahrhunderten auch eine deutschsprachige Bevölkerung lebte. Das Adjektiv »český« bezeichnete damals ausschließlich die böhmische Bevölkerung. Es konnte also durchaus eine deutsche Familie in Böhmen meinen, aber keinen Mähren, auch wenn dessen Muttersprache Tschechisch war. In einem Brief, den Janáček auf Deutsch schrieb, berichtete er, dass er in Leipzig einen Polen getroffen und die beiden in ihrer Muttersprache gesprochen hätten: der Pole Polnisch und er »Böhmisch«2. »Das klingt alles verwirrend kompliziert«, meint Kurt Honolka, »und das war es auch.«3 Seinen Namen hat Hukvaldy womöglich einem Arnold von Hückeswagen aus dem Bergischen Land zu verdanken, der, vom böhmischen König nach Mähren geholt, die Burg im Hochmittelalter gebaut hatte. »Hochwald« nannten später die Österreicher den Ort, was wohl lediglich eine willkürliche, bequeme Eindeutschung war, leiteten doch die Hückeswagener ihre Herkunft von den längst in historische Vergessenheit geratenen »Hukingern« her, die hier vielleicht eine letzte Namensspur hinterließen.
Der erwachsene Leoš Janáček in der Burgruine von Hukvaldy, 1880
Zwischen dem tschechischen Teil Schlesiens mit Opava (Troppau), den man in Janáčeks Kindertagen natürlich noch Österreichisch-Schlesien nannte, und der mährischen Walachei gelegen, der Gegend um Zlín und Rožnov, in der sich rumänische Walachen niedergelassen hatten, nennt sich die Region um Hukvaldy Lachei (Lašsko). Hier hatten sich ein ganz spezielles Brauchtum und ein von den heterogenen ethnischen Gegebenheiten geprägter eigener Dialekt entwickelt; Volksmelodien, Lieder und Tänze gehörten natürlich dazu. In der kleinen Lachei liegt auch Freiberg (Příbor), wo 1856 Sigmund Freud geboren wurde. Einen Steinwurf von Freiberg entfernt stand das Schlösschen von Sedlnitz, auf dem Joseph von Eichendorff seine letzten Sommer verbrachte. Und ebenso kaum zehn Kilometer von Hukvaldy liegt, am Fuße einer weiteren ehedem Hückeswagener Burg, die Stadt Kopřivnice, die die Österreicher Nesselsdorf nannten. Hier wurde der erste Pkw im Reiche Kaiser Franz Josephs I. gebaut. Noch zu Janáčeks Lebzeiten entstanden dort die Werke des berühmten tschechoslowakischen Automobilherstellers Tatra und Ferdinand Porsche erfand in Kopřivnice den luftgekühlten Motor, der dann den deutschen Volkswagen laufen ließ. Die Industrialisierung der Region um den Fluss March (Morava) herum, der Mähren den Namen gab, kam in Janáčeks Jugendjahren rasant in Gang, vor allem wegen der nun vollständig betriebenen Kaiser-Ferdinands-Nordbahn von Wien nach Oderberg (Bohumín) und deren Nebenbahnen und Fortsetzungen nach Berlin und Kaschau (Košice). Die Kleinstädte Mährisch- und Schlesisch-Ostrau, keine zwanzig Kilometer nördlich von Hukvaldy, entwickelten sich zur Industriestadt Ostrava, heute die drittgrößte Stadt Tschechiens. Schließlich war das Marchfeld als Teil der Bernsteinstraße, jenes uralten Handelsweges von der Ostsee nach Venedig, über Jahrhunderte eine Region des Austauschs zwischen dem nordslawischen Raum und Italien. Nur die Teilung Mitteleuropas während eines knappen halben Jahrhunderts in einen Osten und einen Westen hat in ebenjenem Westen dazu geführt, Leoš Janáček für einen Künstler aus einer entlegenen Region zu halten. Dabei kam er aus einer Mitte, die ihre Vitalität vielleicht gerade aus ihrer sprachlichen und ethnischen Vielfarbigkeit gewann.
Auch in Hukvaldy stand in der Mitte des Dorfes die Kirche, und es war eine römisch-katholische, im kaiserlich-österreichischen Reich nicht von geringer Bedeutung. In ihrem Bereich begegneten sich die Interessen der multiethnischen Bevölkerung und hatten es dort bisweilen sogar leichter miteinander als in der säkularen Welt. Vater Jiří Janáček kam besonders oft ins Gotteshaus, denn der Lehrer war auch der Kirchenmusiker von Hukvaldy, Organist und Chorleiter. Der kleine Leoš hörte in der Kirche zum heiligen Maximilian nun auch noch in lateinischer Sprache reden und singen. Der gewaltige Klang der Orgel und die Glocken werden ihm Eindruck gemacht haben, aber auch die anderen Instrumente, mit denen bei festlichen Anlässen aufgespielt wurde, wenn sogar Pauken auf die Orgelempore getragen wurden.
Einen Tag nach der Geburt wurde der kleine Sohn des Kantors getauft. Ins Kirchenbuch der zuständigen Hauptgemeinde in Rychaltice trug man jedoch nicht »Leoš« ein, sondern »Leo Eugen«. Hier war Deutsch Amtssprache, weshalb man den Nachnamen des Täuflings »Janatschek« schrieb, was nicht unbedingt als diskriminierende Germanisierung empfunden worden sein mag, denn es war ja noch eine Zeit, wo man Vornamen übersetzte und sich ein Antonín oder Bedřich bisweilen selbst Anton oder gar Fritz nannte, ohne etwas von seinem Nationalstolz aufzugeben. Überdies scheint man es ohnehin nicht so genau genommen zu haben, denn der...