Kaija Saariaho und Finnland
«Eine Frau muss, wenn sie eine Künstlerin wird, auf vieles verzichten
und den Druck der Gemeinschaft aushalten – warum habe sie keine
Kinder, warum sei sie nicht verheiratet usw. Obwohl ich bereits
als junge Frau wusste, dass ich eine Künstlerin bin, dauerte es lange,
bevor ich das Gefühl von Nutzlosigkeit und Schuld loswurde.
Jetzt tue ich nur das, was ich meiner Arbeit wegen tun muss.»
Kaija Saariaho in Helsingin Sanomat, 23. Oktober 19831
Anlässlich der Uraufführung von Adriana Mater in Paris erschien in Ligne8, der illustrierten Programmzeitschrift der Opéra Bastille, ein Interview mit der Komponistin.2 Ihre Gedanken und Visionen sind jenen Klischees verblüffend ähnlich, die seit mehr als hundert Jahren das Nachdenken über Jean Sibelius und Finnland prägen – und en detail trotzdem originell. Bei Sibelius ist es gang und gäbe, die finnische Natur zu thematisieren, zu Beginn nahezu jeder Veröffentlichung außerhalb Finnlands.3 Ähnlich analytische Worte wie die von Kaija Saariaho zu diesem Thema gibt es jedoch weder von Sibelius selbst noch von den berufenen und unberufenen Interpreten seiner Kunst.
Während Sibelius in (Süd-)Finnland über Finnland schreibt und spricht, äußert sich Saariaho zu Finnland auf eine Art und Weise, die für all diejenigen typisch ist, die ihre Kindheit im Norden zwar (wie Sibelius) verbracht, aber sich dann doch für eine andere, südlichere oder einfach nur urbanere Umgebung entschieden haben.4 Möglicherweise wird einem manches erst durch die Trennung vom Ursprung bewusst. Dieses Phänomen ist spätestens seit dem 18. Jahrhundert bekannt, als Herder und Goethe in Italien nicht nur über das Land der Gastgeber, wo die Zitronen blühen, sondern auch über die nördliche Heimat räsonierten. Ähnlich entdeckten finnische Intellektuelle und Künstler die Idee «Finnland» im Paris und Berlin der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts neu. Die Melancholie des Heimwehs wurde zur Geburtshelferin der eigenen regionalen Identität. Wer also wie Saariaho in der ultramodernistischen Mitte von Paris über Finnland als «Heimat» spricht, sieht vor seinem inneren Auge (bezugnehmend auf Erinnerungen) manche Besonderheiten Finnlands (d. h. seine unverwechselbaren Gesichtszüge) klarer als es für Sibelius etwa (ungeachtet seiner vielen Reisen) vielleicht möglich war.
Dem Publikum von Adriana Mater gibt Saariaho in Ligne8 folgende Hinweise zu ihrer eigenen Kulturidentität und zu dem auditiven «Ort», von dem ausgehend diese zutiefst symbolistische, humane und keineswegs leicht zu verortende Oper verstanden werden sollte: «Ich lebte bis zum Alter von 26 Jahren in Finnland. Und obwohl ich seit zwanzig Jahren in Paris wohne, bin ich eine Finnin. Wenn ich an Finnland denke, erinnere ich mich an wunderbare Veränderungen des Lichts. Alles ist markant. Der Winter ist unglaublich dunkel. Der Sommer ist berauschend. Die Natur schafft sich ihre eigene Akustik. Insbesondere im Frühjahr und Sommer. Ich bewundere diesen magischen Augenblick, wenn im Wald, nach dem Regen, sich die Vögel durch die feuchten Blätter bewegen und singen. Oder wenn es sehr kalt ist, wenn der Schnee wie feiner weicher Puder ist, es verursacht eine ganz besondere Stille. Und dann gibt es die Akustik des feuchten, schweren Schnees: Alles ist tönende Atmosphäre und hängt eng mit speziellen klimatischen Bedingungen zusammen.»
Das Finnland-Bild des Durchschnitts-Parisers dürfte immer noch weitestgehend den Eindrücken und Visionen ähneln, welche die Leser von Charles Baudelaire kennen, und somit kein geeignetes Fundament für das Verständnis der Bilder darstellen, die Saariaho hier entwirft. In «Anywhere out of the world» – Irgendwo außerhalb der Welt – von 1867, weltweit verbreitet in der Sammlung Le Spleen de Paris, sagt das erzählende Ich Baudelaires seiner eigenen kranken Seele: «‹Bist du in so tiefe Erstarrung verfallen, dass du dich nur noch an deinen Leiden vergnügst? Wenn dem so ist, lass uns nach Ländern, die Sinnbilder des Todes sind, fliehen! Ich nehme unsere Sache in die Hand, arme Seele! Wir werden unsere Koffer nach Torneo senden. Oder lass uns noch weiter, ans äußerste Ende des Baltikums gehen! Noch weiter weg vom Leben, wenn es möglich ist: Wir wollen uns am Pol einrichten. Dort streift nur schräge die Sonne den Erdball, und der langsame Wechsel von Licht und Nacht unterdrückt die Vielfalt, vermehrt die Eintönigkeit, jene Hälfte des Nichts. Dort können wir lange in Dunkelheiten baden, indes die Morgenröten der Arktis uns von Zeit zu Zeit zur Unterhaltung ihre rötlichen Garben senden, wie Widerschein höllischen Feuerwerks!› Da endlich brach meine Seele aus und schrie mir aus tiefer Weisheit zu: ‹Ganz gleich wo! Wenn es nur außerhalb dieser Welt ist!›»5
Die Stadt Torneo liegt nicht außerhalb dieser Welt, sondern an der Grenze von Finnland zu Schweden, an der Südkante Lapplands. Höchstens der antiken Geografie entsprechend ist Baudelaires Vorstellung, das Baltikum befände sich hinter der finnischen Stadt Torneo. Baudelaires von Saariahos Visionen abweichende Vorstellung, wonach es im Norden generell düster und eintönig ist (was auch der Autor dieses Beitrags nicht nachzuvollziehen vermag), was den Norden zu einer anderen Welt im Sinne der Romantiker macht (wobei der Fortschritt zwischen Baudelaire und Adalbert von Chamisso also darin besteht, dass der Norden nicht auf Rügen, sondern in Torneo gesehen wird), hat sich im Laufe der Jahre trotz vielfältiger Bemühungen finnischer Behörden nicht eliminieren lassen. Also schreibt Harald Peters in der Berliner Zeitung am 9. Februar 2006 über die finnische Heavy Metal-Rockgruppe H.I.M. (His Infernal Majesty) wie folgt: «Weil in Finnland nur selten die Sonne scheint, ist die Musik grundsätzlich düster, selten kommt ein Song ohne den Sensenmann aus.» Diese Zeile dürfte ein Dokument der intensiven Baudelaire-Rezeption sein.
Hier ist nicht der richtige Ort für eine Analyse der Musik von H.I.M., zumal die Ähnlichkeiten mit Saariahos Kompositionen trotz der gleichen kulturellen Herkunft der Künstler marginal sind, aber der Verdacht liegt nah, dass vage (kaum empirisch untermauerte) Vorstellungen vom Norden, kombiniert mit dem naiven Ersteindruck von der Musik, zu konventionellen Assoziationen geführt haben, die beides unglücklich verbinden und sich selbst dabei (scheinbar subjektiv) bestätigen. Das ist ein Zerrbild des hermeneutischen Zirkels. Fakt ist, dass es sogar im Winter im zugeschneiten Finnland oft heller ist als im nebligen Mitteleuropa. Zudem ist Helsinki, wo Saariaho ihre Kindheit verbrachte, etwa 700 Kilometer südlich vom Polarkreis entfernt. Überdies scheint Peters nicht zu wissen, dass die sonnenarmen Wintertage sowohl in Finnland als auch in Kanada und anderswo durch weiße Sommernächte ausgeglichen werden.
Wenn Saariaho durch ihr Interview zu einer Debatte über «Musik und Landschaft» oder «Musik und kulturellen Kontext» einlädt, darf diese Debatte nicht von Baudelaire verzerrt, sondern sollte von einer aufgeklärten, humanistischen Kulturgeografie gestützt werden. Es bleibt zu hoffen, dass Saariaho die rezeptionsgeschichtlichen Irrwege erspart bleiben, die Sibelius’ Musik dank unberufener Verortungsversuche erleben musste und immer noch erleben muss – etwa dort wo Sibelius-Bücher vorzugsweise mit Bildern aus Lappland illustriert werden, obwohl Sibelius selbst diese extrem nördlichen Landschaften nie erlebte und sich dafür auch nicht interessierte.6 Während die Debatte bei Sibelius ohne Beteiligung des Künstlers losging und von ihm auch später öffentlich nicht gelenkt wurde, haben wir (übrigens auch im September 2006 in Frankfurt) das Privileg, Saariaho zuhören und ihre Äußerungen auf die Goldwaage legen zu können. Während Sibelius sich über die Rezeption seiner Musik nur zu Hause aufregte und den Kontakt zu der schreibenden Zunft zunehmend vermied, setzt sich Saariaho mutig mit der Musikwissenschaft und -publizistik auseinander, besucht Symposien über ihre Musik, beteiligt sich an Veröffentlichungen etc. – und gibt offen zu, dass diese Art Öffentlichkeit ihr nicht wirklich liegt; aber sie sieht offenbar die Notwendigkeit.
Bemerkenswert in ihrer Darstellung von Finnlands gehörter Landschaft bzw. auditiver Natur ist ihre Sensibilität für feine Nuancen trotz der immer wieder auch von ihr zu Recht betonten spektakulären Dramaturgie des Wechsels von Jahreszeiten im Norden. Sie spricht nicht von den Reflexionen von Sonnenstürmen oder Nordlichtern, sondern (originell und poetisch, gleichzeitig aber die Wirklichkeit erkennend) von Vögeln, die sich im feuchten Laub bewegen und zu singen beginnen. Eine solche Sensibilität, die auch Sibelius eigen war und häufig ganzheitlich synästhetischer...