[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
TEIL 2
ZEHN SCHRITTE ZU EINER SCHRIFT- UND TEXTGEMÄSSEN AUSLEGUNG DER BIBEL
Die hier vorgestellte 10-Schritt-Methode soll allen Auslegern – besonders denen, die auf die deutsche Übersetzung der Bibel angewiesen sind – die Hilfestellungen bieten, die sie zu einer sorgfältig begründeten und biblisch-theologisch verantworteten Erklärung und Anwendung der Heiligen Schrift benötigen. Dabei gilt der Grundsatz, dass sich die Methode nach dem Text selbst zu richten hat und der biblische Text nicht an die Methode angepasst wird. Jede Methodik besitzt nur eine dienende Funktion. Ist sie schrift- und textgemäß, dient sie der Kommunikation: Sie hilft, dass andere die Gedanken des Auslegers nachvollziehen und selbst am Text der Bibel überprüfen können, ob sie dem offenbarten Willen Gottes entsprechen. Natürlich ist die hier vorgestellte 10-Schritt-Methode keine Garantie für eine gute Auslegung. Aber sie ist ein Leitfaden, der helfen kann, eine schlechte Auslegung unwahrscheinlicher zu machen. Die Aufteilung in verschiedene kleine Arbeitsschritte hilft, die große Aufgabe der Bibelauslegung schultern und bewältigen zu können. Methodisch werden wir also versuchen, das Ganze in verschiedene überschaubare Teilschritte aufzuteilen, diese kleineren Herausforderungen so zu lösen, dass sie dem Selbstanspruch der Bibel gerecht werden, um dann am Schluss die verschiedenen Einzelergebnisse zu einem harmonischen Ganzen zusammenzufügen.
Bei der 10-Schritt-Methode wird der Auslegungsprozess in drei Phasen strukturiert. Sie sollen den Ausleger in die Lage versetzen, den »Schatz« des Wortes Gottes schrift- und textgemäß zu Tage zu fördern. Der Ausleger kann so in den Lobpreis des Psalmisten einstimmen: »Ich freue mich über dein Wort wie einer, der große Beute macht« (Ps 119,162). In einer ersten Phase geht es unter der Überschrift »Lesen, was da steht« darum, sich einen Überblick über den Text zu verschaffen. Hierzu ist es nötig, zuerst einmal den vorgegebenen »Schatzplan« des Wortes Gottes genau zu studieren. Dazu gehört, dass der Ausleger einfach liest und wahrnimmt, »was da steht«, und dass er die offensichtlichen Stolpersteine und Hindernisse auf dem Weg zur Kenntnis nimmt und markiert, damit er auf dem Weg zum Ziel später nicht durch sie zu Fall kommt. So wird die Wegstrecke schon einmal vertraut und das Gelände grob untersucht. In einer zweiten Phase, die unter dem Motto steht: »Merken, worum es geht«, dreht es sich dann darum, sich auf den Weg zu machen und die »Schatzsuche« konkret zu beginnen. Durch einen vertieften Einblick und detaillierte Untersuchungen des Weges wird der genaue Fundort des Schatzes lokalisiert und seine Bergung vorbereitet. Der Ausleger richtet seine Aufmerksamkeit auf das, »worum es geht«, und kann die bereits markierten »Stolpersteine« wegräumen, damit der Weg zum Ziel nicht versperrt bleibt. Ist der Schatz lokalisiert und sind Stolpersteine und Hindernisse weggeräumt bzw. als Bausteine integriert, kann der Ausleger nun in einer dritten Phase seinen Schatz endgültig bergen. Diese Phase steht unter der Überschrift: »Sagen, wo es hingeht«. Da die Schätze und Reichtümer des Wortes Gottes aber nicht zum reinen Privatgenuss des Auslegers dienen, geht es um zweierlei: zusammenfassend den Wert des Schatzes zu benennen und seine Verteilung (z. B. die Anwendung des Wortes Gottes) vorzubereiten. Dieser Ausblick bildet die Nahtstelle und Grundlage für die »Wirklichkeitsexegese« der gegenwärtigen Situation, die bei der Vorbereitung einer Predigt, Bibelarbeit oder Andacht hilft, das Zielgebiet für die Anwendung präzise in den Blick zu nehmen.12
Die nachfolgende Übersicht zeigt die verschiedenen Einzel- bzw. Arbeitsschritte der 10-Schritt-Methode im Prozess der Bibelauslegung:
Überblick: Lesen, was da steht.
Den »Schatzplan« studieren – »Stolpersteine« markieren
Schritt 1: Mit dem Text vertraut werden
● Die Texteinheit mehrmals in verschiedenen Übersetzungen lesen
● Den Gedankengang der Texteinheit aufnehmen
● Die »Stolpersteine« markieren
Einblick: Merken, worum es geht.
Die »Schatzsuche« beginnen – »Stolpersteine« wegräumen
Schritt 2: Die Textbasis feststellen
● Einen Übersetzungsvergleich der Texteinheit durchführen
● Die Textbasis für die Auslegung festlegen
Schritt 3: Die ursprüngliche Kommunikationssituation klären
● Die literarische Abfassungssituation der Texteinheit betrachten
● Die geschichtlich-kulturelle Abfassungssituation der Texteinheit betrachten
● Die geographische Abfassungssituation der Texteinheit betrachten
Schritt 4: Den Zusammenhang der Texteinheit erfassen
● Die Einbettung der Texteinheit im Buchkontext feststellen
● Die Funktion der Texteinheit im Abschnittskontext ermitteln
● Die Abgrenzung der Texteinheit vornehmen
● Die parallelen Texte zur Texteinheit beachten
● Die Harmonisierung der Texteinheit im Schriftkontext erwägen
Schritt 5: Die Textart der Texteinheit untersuchen
● Die Literaturgattung der Texteinheit bestimmen
● Die Literaturformen der Texteinheit bestimmen
● Die Stilfiguren der Texteinheit auflösen
Schritt 6: Die Begriffe und ihre Verbindung in der Texteinheit erkennen
● Die Wörter der Texteinheit wägen
● Die Sätze der Texteinheit analysieren
Schritt 7: Den Gedankengang der Texteinheit entfalten
● Das Textschaubild anfertigen
● Die Struktur der Texteinheit entfalten
Schritt 8: Verbleibende Probleme der Texteinheit lösen
● Die gesamtbiblisch-theologische Betrachtung
● Die systematisch-theologische Betrachtung
Ausblick: Sagen, wo es hingeht.
Den »Schatz« heben – »Stolpersteine« werden zu Bausteinen
Schritt 9: Die Aussage der Texteinheit präzise zusammenfassen
● Das Textthema formulieren
● Die Textgliederung erstellen
Schritt 10: Sich der Bedeutung der Texteinheit für heute stellen
● Den eigenen heilsgeschichtlichen Standort vergegenwärtigen
● Den heilsgeschichtlichen Standort der Texteinheit wahrnehmen
● Die Texteinheit vor dem Hintergrund der fortschreitenden Offenbarung einordnen
● Die heilsgeschichtlich relevante Anwendung für die Gegenwart entdecken
● Die Anwendung der Texteinheit vornehmen
Wir hoffen auf motivierte Leser mit langem Atem, wenn wir im Folgenden in methodisch aufbereiteter Form die Grundzüge einer biblisch-historischen Exegese erläutern, also aufzeigen, wie eine schrift- und textgemäße Bibelauslegung verwirklicht werden kann. Wir hoffen auf Leser, die überzeugt sind, dass eine schrift- und textgemäße Bibelauslegung die Mühen einer intensiven Vorbereitung lohnt, und sich darauf einlassen. Trotzdem mag sich der eine oder andere fragen: »Kann ich all diese detaillierten Auslegungsschritte in der Vorbereitung auf meine nächste Predigt, Bibelarbeit, Andacht usw. wirklich leisten?« Nein, gewiss nicht. Es braucht Übung, Ausdauer und Fleiß. Auslegen will Schritt für Schritt eingeübt werden. Langfristig kann man sich so aber umfassende Fähigkeiten zur Bibelauslegung aneignen. Man bekommt ein Handwerkszeug, mit dem man effektiv, gründlich und gar nicht mehr so zeitaufwändig Predigten, Bibelarbeiten oder Andachten vorbereiten kann.
Es ist wie in der Fahrschule. Zunächst sind alle Hebel und Vorgänge fremd. Jeden einzelnen Bewegungsablauf muss man sich bewusst einprägen (Kupplung drücken – Gang einlegen – Kupplung kommen lassen – dabei etwas Gas geben … – und schon wieder hat man den Wagen abgewürgt). Später aber, wenn man genug Übung hat, geht alles wie von selbst.
Den schnellen Weg zu Qualitätsandachten und -predigten, die den Anspruch und Zuspruch des Wortes Gottes schrift- und textgemäß verkündigen, gibt es nicht. Aber dieses Ziel lohnt den mühevollen Weg. Ziel unserer Auslegung ist und bleibt die Entdeckung der ursprünglichen (= wortgemäßen; von Gott durch die biblischen Autoren beabsichtigten), natürlichen (= textgemäßen; buchstäblich oder bildlich gemeinten) und allgemeinen (= schriftgemäßen; in Übereinstimmung mit dem Gesamtzeugnis der Bibel stehenden) Bedeutung des Bibeltextes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hierzu ist wichtig, dass der Ausleger erkennt, dass die...