EINLEITUNG
Das jüdische Volk existiert seit rund 4000 Jahren und ist nach dem Untergang des alten Israel seit 2000 Jahren über die ganze Welt verstreut. Trotz wiederkehrender Pogrome und Vertreibungen, verbunden mit ständiger Wanderschaft, und eines unvorstellbaren Genozids durch die deutschen Nationalsozialisten, hat sich das Judentum erhalten und steht heute in voller Blüte.
Im Jahre 2014 kann man von weltweit rund 14 Millionen Jüdinnen und Juden ausgehen, wovon etwa sechs Millionen in Israel, 5,5 Millionen in den USA und der Rest in unzähligen Ländern verteilt leben. Die Israeli und die über die ganze Welt verstreuten sog. Diasporajuden machen gerade 0,2 % der Weltbevölkerung aus. Diese verschwindend kleine Menschengruppe hat sich jedoch im Kultur-, Wissenschafts-, Wirtschafts– und Gesellschaftsleben außerordentliche Verdienste erworben, und jüdische Persönlichkeiten nehmen in der abendländischen Welt nach wie vor eine prägende Stellung ein.
Dem Phänomen Judentum nachzugehen und das Mysterium Judentum zu begreifen, ist das Ziel dieses Buches. Dazu soll der Leser – soweit dies im Rahmen einer überschaubaren Abhandlung überhaupt möglich ist – in die jüdische Welt eingeführt werden, und zwar aus dem Blickwinkel eines nichtjüdischen Betrachters.
Das Eindringen in diese faszinierende Welt und deren Verstehen bedingen, dass man die Grundzüge der jüdischen Geschichte, die eng mit der jüdischen Religion verknüpft ist, kennt. Die Hebräische Bibel oder – nach christlicher Diktion – das Alte Testament ist nicht nur das Fundament der jüdischen Geschichte, sondern sie beeinflusst durch die aus der Bibel direkt abgeleiteten 613 Gebote und Verbote auf vielfältige Weise das Leben der gläubigen Juden auch in der heutigen Zeit.
Die jüdische Religion hat erstmals den Monotheismus entwickelt und ist die Mutter der beiden anderen Weltreligionen Christentum und Islam. Die interessante Frage, ob der einflussreichste Jude aller Zeiten – Jeschua alias Jesus – tatsächlich eine neue Religion begründen oder nur das Judentum reformieren wollte, wird nie schlüssig zu beantworten sein. Im Verhältnis des Judentums zum Christentum darf auch das unrühmliche, von einer Blutspur gekennzeichnete Verhalten der römisch-katholischen Kirche und der von ihr geförderte verheerende Antijudaismus nicht totgeschwiegen werden.
Mit dem Judentum untrennbar verbunden ist der Holocaust. Die industriell betriebene Vernichtung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten ist das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Der Massenmord ist in seiner Monstrosität nicht nur für den normalen Menschen unfassbar, sondern er hat auch das Selbstverständnis der Juden nachhaltig geprägt und macht zudem manche Verhaltensweisen und Reaktionen jüdischer Bürger und des Staates Israel erklärbar. Im Zusammenhang mit dem Holocaust werden auch heikle Themen wie deutsche Kollektivschuld, jüdischer Widerstand und Kollaboration oder die Vermarktung des Holocaust angeschlagen. Aufwühlende authentische Erlebnisberichte von Holocaust-Opfern lassen diese grauenvolle Zeit nachfühlen.
Wer ist ein Jude?, ist die Kernfrage jeder Betrachtung des Judentums, die sich vorab um die jüdische Identität dreht. Dieser aufschlussreichen Frage wird ohne Tabuscheu vor Themen wie jüdisches Gen und jüdisches Blut nachgegangen. Die Tatsache, dass es gläubige und säkulare, christliche und atheistische, weiße und dunkelhäutige Juden gibt, macht die Antwort nicht einfacher. Auch die klare religiöse Definition der mütterlichen Abstammung vermag nur einen kleinen Teil der Menschen, die sich als Juden bekennen und auch als Juden wahrgenommen werden, abzudecken.
Der Antisemitismus hat die Juden immer wieder existentiell bedroht, jedoch auch zusammengeschweißt. Der Judenhass ist völlig irrational, aber nichtsdestoweniger unausrottbar und die typischen antisemitischen Klischees von den geldgierigen und schlauen Juden halten sich hartnäckig, selbst in Kreisen, deren Anhänger noch nie mit jüdischen Mitmenschen in Berührung gekommen sind. Weiter zu erklären sind verwandte Begriffe wie Philosemitismus, sekundärer Antisemitismus, jüdischer Selbsthass und die oft verwendete sog. Antisemitismuskeule. Mit diesem buchstäblich schlagenden Argument sollen unangenehme Kritiken, vor allem am Verhalten des Staates Israel, diskussionslos zum Verstummen gebracht werden.
Aufgelockert wird das ernste Thema durch eine kleine Galerie von Antisemiten, in der honorige Persönlichkeiten wie Martin Luther oder Richard Wagner vertreten sind. Selbst ein Max Frisch, wohl kaum ein Judenhasser, ließ sich in einem seiner Frühwerke zum üblen Satz „vom schmierigen Jüdlein mit Dreckhals“ hinreißen.
Ein umfangreiches Kapitel ist der jüdischen Präsenz und dem jüdischen Einfluss gewidmet. Wie erwähnt, machen Jüdinnen und Juden nur knapp zwei Promille der Weltbevölkerung aus. Diese verschwindend kleine Menschenmenge stellt jedoch über 20 % aller Nobelpreisträger, ist in der Musik mit hervorragenden Künstlern wie Mendelssohn, Bernstein, Barenboim vertreten, brachte außerordentliche Wissenschaftler und Denker wie Marx, Freud, Einstein hervor, kann sich Dichter wie Kafka, Tucholsky, Pasternak rühmen und ist bekanntlich auch in der Wirtschaft mit gewichtigen Namen markant vertreten. Selbst in der von Christen dominierten Weltpolitik fanden und finden sich bekannte Persönlichkeiten jüdischer Herkunft. Diese herausragende jüdische Präsenz wird anhand von 250 Kurzporträts bekannter Persönlichkeiten mit jüdischen Wurzeln dargestellt. Mancher Leser wird dabei Personen begegnen, die er kaum mit dem Judentum assoziiert hätte. Die illustre Liste reicht vom russischen Revolutionär Lew Bronstein alias Leo Trotzki über die Familie Thomas Mann und den katholischen Kardinal Jean-Marie Lustiger bis zum preisgekrönten Filmstar Meryl Streep.
Mit der herausragenden Rolle der Juden im Kultur– und Geistesleben stellt sich die naheliegende, ebenfalls tabubehaftete Frage nach einer überdurchschnittlichen jüdischen Intelligenz. Entscheidend für die Beantwortung der heiklen Frage ist die schwierige Definition des Begriffs Intelligenz.
Das jüdische Leben ist untrennbar auch mit dem bekannten, typisch jüdischen Humor verbunden, von dem einige Beispiele wiedergegeben werden. Hier eine kleine Kostprobe: Ein Jude sitzt neben einem fremden Herrn im Varieté. Ein Vortragskünstler tritt auf. Der Jude dreht sich seinem Nachbarn zu und flüstert „Einer von unsere Leut“. Eine Sängerin tritt auf. „Auch von unsere Leut“, sagt der Jude. Ein Tänzer kommt auf die Bühne. „Auch von unsere Leut“, erklärt der Jude. „O Jesus!“, stöhnt der Nachbar angewidert. „Auch von unsere Leut“, bestätigt der Jude.
Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts stand die Schweiz weltweit im Brennpunkt um Wiedergutmachungsforderungen. Es ging um die nachrichtenlosen Vermögen und das Nazigold. Die unzimperlichen Boykottdrohungen von US-Regierung und jüdischen Organisationen ließen die Nerven der schweizerischen Bankenvertreter und Politiker blank liegen, bis es schließlich zum bekannten Milliardenvergleich kam. Für große Aufregung auf beiden Seiten sorgten Bundespräsident Delamuraz‘ rhetorische Frage, ob Auschwitz in der Schweiz liege und das böse, aber wohl nicht ganz falsche Wort der Lösegelderpressung. Wiederum kehrte der Antisemitismus aus seinen dunkelsten Abgründen ans Tageslicht.
Die Schweiz wurde nicht zuletzt deshalb als Opfer und Prototyp für spätere weitere Begehren gegenüber anderen Ländern ausgesucht, weil sie tatsächlich ein nicht unbeträchtliches Verschulden traf, finanziell potent und in Europa isoliert war.
Jede Diskussion um Juden und Judentum mündet in das zentrale Thema Nahostkonflikt bzw. Israel und Palästina. In diesem Kapitel erfolgt ein Überblick des jüdischen Staates sowie die Analyse seiner internen Probleme, hervorgerufen durch die soziale Kluft und das Vordringen der Ultraorthodoxen. Interessant ist die Feststellung, dass es einen palästinensischen Staat nie gegeben hat und sich ein palästinensisches Nationalbewusstsein erst langsam ab Mitte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts entwickelte. Auch wenn durch die kompromisslose Siedlungspolitik der israelischen Regierung eine Zwei-Staaten-Lösung in immer weitere Ferne rückt, ist diese einzige Option eines realistischen Nahostfriedens noch nicht völlig vom Tisch. Als Modell dient die ausgeklügelte sog. Genfer Initiative, die auf illusionistische Vorstellungen beider Seiten keine Rücksicht nimmt, sondern die Lösung in Gebietsabtretungen und -kompensationen und einem Sonderstatus von Jerusalem sieht.
Abgerundet wird der Streifzug durch das Judentum mit der Vorstellung von verschiedenen herausragenden jüdischen Stätten, hauptsächlich in Berlin, Jerusalem und Prag, die dem Besucher einen...