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Transitional Justice in der Weltgesellschaft

AutorFatima Kastner
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783868546392
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Das Völkerrecht fordert, dass ehemals repressive Staaten ihre gewaltvollen Vergangenheiten aufklären müssen und verpflichtet diese darüber hinaus dazu, den Opfern von schweren Menschenrechtsverletzungen Wiedergutmachung zukommen zu lassen. Tatsächlich ist eine Vielzahl von Postkonfliktstaaten in Mittel- und Osteuropa, in Afrika, Asien, Lateinamerika und mit Marokko und Tunesien nun auch in der Region des Maghreb und des Nahen Ostens dieser Verpflichtung der transitionalen Gerechtigkeit auch wirklich nachgekommen. Angesichts der Tatsache, dass auf der Ebene der internationalen Politik effektive Durchsetzungsmechanismen fehlen, die souveräne Staaten zur Durchführung von Transitional-Justice-Prozessen zwingen könnten, ist das ein eher unerwarteter Befund. Wie lässt sich dieses erstaunliche Phänomen erklären? Fatima Kastner unternimmt erstmals den Versuch, die Globalisierung von Transitional Justice aus einer Perspektive der historischen Soziologie der Weltgesellschaft zu erklären. Sie beschreibt die Herausbildung dieses neuartigen Konfliktbewältigungsmodells als eine direkte Folge der Wirkmacht weltkultureller Struktur- und Deutungsmuster und rekonstruiert die sozialhistorischen Ausgangsbedingungen und weltgesellschaftlichen Dynamiken, die zur globalen Ausbreitung von Normen, Standards und Institutionen von Transitional Justice geführt haben. Am Beispiel des Transitionsprozesses in Marokko wird die lokale Wirkweise des globalen Rechtsregimes von Transitional Justice herausgearbeitet und seine weltgesellschaftliche Funktion deutlich gemacht. Transitional Justice ist zu einem globalen Handlungsmodell der Übergangsgerechtigkeit in der Weltgesellschaft geworden. Kastner beschreibt eindrücklich die sozialstrukturellen Ursprünge und ideengeschichtlichen Entwicklungslinien, die transitionale Gerechtigkeit von der normativen Ausnahme zur weltpolitischen Regel werden ließ.

Fatima Kastner, Dr. phil., Rechtssoziologin; seit 2004 Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg; bis 2013 Wissenschaftlerin am Hamburger Institut für Sozialforschung; seit 2010 Mitglied des Instituts für Weltgesellschaft, Universität Bielefeld. 2012 wurde ihr der renommierte Adam Podgórecki-Preis durch das Research Committee on Sociology of Law der International Sociological Association verliehen und seit 2014 ist sie als Science Ambassador der Arab-German Young Academy of Sciences and Humanities an der Berlin-Brangendburgischen Akademie der Wissenschaften tätig.

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Leseprobe

I. Transitional Justice im Königreich Marokko


Das Erbe der »bleiernen Jahre«


Im Jahr 1956 erlangte Marokko seine Unabhängigkeit von den beiden ehemaligen Protektoratsmächten Frankreich und Spanien. Anders als in den benachbarten maghrebinischen Staaten, wo die Königsfamilien bei den jeweiligen postkolonialen Staatsbildungsprozessen keine Rolle spielten, konnte sich im marokkanischen Fall der damalige Sultan Mohammed Ben Youssef aus der Scherifen-Dynastie der Alawiden als wirkmächtige Figur im antikolonialen Unabhängigkeitskampf behaupten.1 An der Spitze der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen avancierte er zum zentralen Symbol der Einheit des Landes und wird 1957 König von Marokko. Von Beginn an ist die Staatsgründung der Monarchie von Unruhen und Aufständen seitens der aufstrebenden Berber im Rif-Gebirge und anderen antimonarchistischen Bewegungen im Land begleitet, gegen die der König mithilfe der Armee gewaltsam vorgeht. Nur wenige Jahre später stirbt Mohammed V. unerwartet und sein Sohn Hassan II. folgt ihm am 3. März 1961 auf dem Thron. Nach anfänglich großen Hoffnungen hinsichtlich konstitutioneller Reformen, die man in der Bevölkerung im Hinblick auf den Amtsantritt des jungen Königs hegte, zeigte sich jedoch, dass der Monarch keine Begrenzung seiner Macht über eine verfassungsmäßige Gewaltenteilung nach westlichem Vorbild anvisierte. Vielmehr fixierte er seinen absolutistischen Machtanspruch, indem er seine außerrechtliche Führungsrolle in der von ihm neu verabschiedeten Verfassung festschreiben ließ. Dem darauf folgenden heftigen Widerstand im Parlament und den Protesten in den Reihen der Opposition gegen das autokratische Staatsverständnis begegnete Hassan II. 1962 mit der Auflösung des Parlaments und dem Ausbau der vormals eher sporadischen Unterdrückungspraktiken seines Vaters zu einem systematischen Repressionsapparat. Politische Verfolgung Tausender Regimegegner, willkürliche Festnahmen von Mitgliedern linksgerichteter Parteien und separatistischer Gruppierungen, Verschwindenlassen führender Militärs nach den Putschversuchen 1971 und 1972, Vergewaltigung, Folter und Mord in Geheimgefängnissen wurden zu üblichen Praktiken des Geheimdienstes und anderer staatlicher Organe in diesen Jahren, für die heute der Ausdruck die »bleiernen Jahre« steht.2

Als am 7. Januar 2004 der amtierende König von Marokko, Mohammed VI., in einer feierlichen Ansprache die Einsetzung einer Untersuchungskommission zur Aufarbeitung der Massenverbrechen nach dem Vorbild der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission ankündigte, staunten nicht nur die Marokkaner und ihre arabischen Nachbarstaaten. Per königlichem Dekret am 10. April desselben Jahres als »Instance Équité et Réconciliation: Commission Nationale pour la Vérité, l’Équité et la Réconciliation« (IER) etabliert, war bereits die Zusammensetzung der marokkanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission von großer gesellschaftlicher Symbolkraft. Die beteiligten Persönlichkeiten stammten aus unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, Menschenrechtsaktivisten, unabhängige Intellektuelle, Historiker und Ärzte waren darunter. Der im Frühjahr 2007 verstorbene, hoch angesehene ehemalige Präsident der Kommission, Driss Benzekri, und fünf weitere Mitglieder der Untersuchungskommission hatten selbst unter der staatlichen Verfolgung gelitten und zum Teil langjährige Haftstrafen verbüßt. Das Ziel der Kommission bestand vornehmlich darin, schwere Menschenrechtsverletzungen aus der Ära der »bleiernen Jahre« aufzuklären, zu dokumentieren und den Opfern bzw. deren Hinterbliebenen Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen zukommen zu lassen. Dem Aufruf, Anfragen zur Untersuchung und Aufdeckung des staatlich zu verantwortenden Unrechts einzureichen und die damit verbundenen Aufklärungs-, Reparations- und Rehabilitierungsleistungen einzufordern, folgten über 20000 Antragsteller; etwa 17000 Anspruchsklagen wurden von der Kommission anerkannt, knapp 10000 Fälle positiv beschieden.3

Dieser Schritt war für ein als eher konservativ geltendes, arabischislamisches Land aus zweierlei Gründen ein unglaublicher Skandal. Zum einen ist dieses von Mohammed VI. in Gang gesetzte Verfahren der Vergangenheitsarbeit mit dem ausdrücklichen Ziel, die Menschenrechte »in der Praxis und als Kultur«4 zu fördern, in der arabisch-islamischen Welt – bisher jedenfalls – einzigartig. Keiner der Machthaber in Saudi-Arabien oder gar im Iran würde derzeit eine Kommission zur Untersuchung von Staatsverbrechen bei sich dulden. Zum anderen handelt es sich darüber hinaus um einen unerhörten Tabubruch, denn der marokkanische König galt laut Verfassung als heilig und unantastbar.5 Und mit den systematischen Verbrechen in der Vergangenheit, die als Aufdeckungs- und Dokumentationsgegenstand der Kommissionsarbeit in ihren Statuten auf der Grundlage nationalstaatlichen Rechts fixiert worden sind, ist, wie eingangs eingeführt, nicht weniger als von den massiven Menschenrechtsverletzungen die Rede, die sein eigener Vater, König Hassan II., während seiner Regierungszeit zu verantworten hatte. »Wird man nun über Hassan II. richten und dessen Regime den Prozess machen?«, so fragte die einflussreiche Wochenzeitung Maroc Hebdo als Reaktion auf die königliche Ankündigung. Eine Aufklärungskommission barg nach Ansicht des Blattes und anderer konservativer Stimmen im Land die Gefahr, dass das gesamte Legitimations- und Staatsmodell der muslimischen Monarchie und der damit verbundenen feudalen Machtstruktur ins Wanken geriet. Der Hintergrund dieser Befürchtungen: König Mohammed VI. hat den Thron 1999 von seinem Vater nach dessen Tod geerbt. In Ländern wie Südafrika, Argentinien oder Chile war der Einberufung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission jedoch ein Regimewechsel vorausgegangen. In Marokko aber gab es einen solchen historischen Bruch nicht. Nur der König ist ein anderer.

Die entscheidenden Fragen, die sich hier stellen, lauten: Warum entschied sich der junge Monarch für diese Konfrontation mit seinem blutigen Erbe und riskierte damit die konkrete Gefahr der Destabilisierung und Delegitimierung seines Königtums und somit vielleicht auch seinen eigenen Kopf? Weshalb sollte das von staatlichen Funktionsträgern systematisch begangene Unrecht nicht mit den strengen Mitteln des nationalen oder gar globalen Strafrechts,6 sondern mit einer versöhnungsorientierten Aufklärungs-, Anhörungs- und Narrationseinrichtung bewältigt werden? Warum votierte er für die öffentliche Thematisierung vergangener Systemverbrechen und nicht etwa – was mit den vorhandenen Mitteln des nationalen Rechts ja durchaus möglich gewesen wäre – für »oblivio et amnistia«,7 also für das Vergessen, beispielsweise durch Amnestien, durch Begnadigung der Täter oder schlicht durch das Verbot, sich mit den entsprechenden Themen und Thesen zu befassen? Und was hat das alles mit der angekündigten Förderung von Geltung und Einhaltung der universalen Menschenrechte »in der Praxis und als Kultur« zu tun?

Staatszentrierte Deutungen: Heuchelei, Pragmatismus oder gar nachholende Demokratisierung?


Eine eher kritisch-pragmatische Einschätzung der marokkanischen Verhältnisse würde wohl auf folgende Erklärung hinauslaufen: dass weder die angekündigte Absicht der Aufklärung historischer Schuld noch die Förderung und Einhaltung der Menschenrechte wirklich ernst gemeint gewesen seien. Wie eine Analyse der kulturellen, politischen und sozialen Situation des Landes leicht zeigen könnte, erschiene in der Tat eine derartige Orientierung an westliche Norm- und Wertvorstellungen, die ja zugleich einen massiven Eingriff in die islamisch-arabische Identität und eine Einschränkung und Unterminierung der Souveränität der absoluten Monarchie nach sich ziehen würde, als illegitime Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, handelte es sich bei den Ankündigungen des Königs lediglich um einen diplomatischen »cheap talk« oder, provokativer formuliert, um eine bewusst »organisierte Heuchelei«.8 Eine zwar bestimmte, aber letztlich folgenlose »folklore d’état«9, deren Zweck allein darin bestünde, die langjährige und systematische, über transnationale NGOs wie Human Rights Watch und Amnesty International mobilisierte Anklage und Kritik der Menschenrechtsverletzungen in Marokko zu entschärfen, ohne dass die eigene repressive innenpolitische Situation geändert oder gar die eigentliche Beendigung solcher Praktiken tatsächlich anvisiert werden würde. Die Einrichtung der Wahrheits- und Versöhnungskommission wäre demnach lediglich eine taktische Konzession an Forderungen der westlichen...

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