KRAFT
Warum und wie
Körperliche Kraft ist das Wichtigste im Leben – ob uns diese Aussage nun gefällt oder nicht. Zwar wurde im Lauf der Menschheitsgeschichte die reine Körperkraft für die Bewältigung des Alltags immer unwichtiger, aber sie spielt trotzdem noch eine entscheidende Rolle in unserem Leben. Mehr als unser gesamtes Hab und Gut entscheidet sie auch heute noch darüber, wie hoch unsere Lebensqualität und -erwartung ist. Während in früheren Zeiten die körperliche Kraft dafür verantwortlich war, wie viel Essen auf den Tisch kam oder ob man es warm und trocken hatte, sorgt sie heute lediglich dafür, dass wir uns gut in der Umwelt zurechtfinden, die wir mit unseren fortgeschrittenen Kulturtechniken geschaffen haben. Aber letztendlich sind wir immer noch Tiere – unsere physische Existenz entscheidet nach wie vor darüber, wie wir uns fühlen und wie erfolgreich wir sind. Kein Zweifel, wer Körperkraft hat und sich etwas zutraut, wird sich immer besser fühlen als derjenige, dem diese Kraft fehlt. Mir ist bewusst, dass diese Behauptung bei vielen Zeitgenossen auf Kritik stößt, die den Geist über den Körper stellen. Es wäre sicher interessant zu beobachten, wie sich ein entsprechender Kraftzuwachs auf ihre Meinung auswirken würde.
Ebenso wie sich unsere Kultur verändert hat, hat sich auch unser Verhältnis zu körperlicher Aktivität verändert. Unsere frühere physische Stärke rührte daher, dass wir uns in einer rauen Welt behaupten mussten. Nur wer stark genug war, blieb am Leben. Wir mussten uns anpassen, weil wir keine andere Wahl hatten. Auf diese Weise formte sich die Physiologie des Menschen und der mit ihm verwandten Primaten. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Da sich durch das Konzept der arbeitsteiligen Gesellschaft die meisten von uns nicht mehr selbst um die Nahrungsbeschaffung kümmern müssen, ist körperliche Aktivität optional geworden. Wir sind also nicht mehr darauf angewiesen, als Jäger und Sammler durchs Land zu streifen, aber Jahrmillionen der Anpassung an unwirtliche Lebensbedingungen werden sich nicht einfach so in Luft auflösen, nur weil jemand den Schreibtisch erfunden hat. Und die arbeitsteilige Lebensweise ist evolutionsbiologisch schlichtweg noch zu neu, als dass sich unsere genetische Grundausstattung daran hätte gewöhnen können.
Ob es Ihnen gefällt oder nicht, wir besitzen nach wie vor das Potenzial für starke Muskeln, Knochen, Sehnen und Nerven, und diese evolutionär hart erarbeiteten Strukturen müssen wir hegen und pflegen. Ihre Entwicklung hat viel zu lange gedauert, um sie jetzt zu vernachlässigen. Vielmehr noch: Wenn wir das tun, schaden wir uns selbst. Sie sind die Bausteine unserer Physis, und unsere Lebensqualität hängt stark von unserer bewussten, gezielten Anstrengung ab, ihnen die Reize zu bieten, die sie benötigen, um in dem optimalen Zustand zu bleiben, für den sie gedacht sind. Sport kann diese Reize liefern.
Unabhängig von jedem Gedanken an Rekorde und Medaillen bietet eine regelmäßige sportliche Betätigung alle Reize, die den menschlichen Körper in den Zustand zurückversetzen, für den er eigentlich geschaffen wurde. Es ist für den Homo sapiens physisch gesehen nicht normal, sich nicht zu verausgaben. Deshalb ist es auch der falsche Ansatz, erst dann sportlich aktiv zu werden, wenn wir ein Problem beheben wollen – wir müssen uns auf jeden Fall bewegen, um Probleme schon im Vorfeld zu vermeiden. Wir müssen uns bewegen, um die Bedingungen zu simulieren, unter denen sich unsere Physiologie in grauer Vorzeit entwickelt hat. Sportliche Betätigung ist also ein Ersatz für den steinzeitlichen Alltag – das, was man tun muss, um auch im 21. Jahrhundert Körper und Geist zu einer normalen Funktion zu verhelfen. Aber was heißt schon normal? Für jeden, der etwas auf sich hält, reicht das nicht aus.
Die Entscheidung eines Athleten, systematisches Krafttraining zu betreiben, kann entweder durch den Wunsch motiviert sein, einen Teamsport auszuüben, der eine gewisse körperliche Robustheit voraussetzt, oder aber durch andere, persönlichere Gründe. Viele haben das Gefühl, nicht stark genug zu sein bzw. stärker sein zu können, ohne dass sie eine Mannschaftssportart betreiben. An diese Menschen richtet sich dieses Buch.
Warum Langhanteln?
Training zur Kraftsteigerung ist so alt wie die Zivilisation selbst. Die antike Legende über den griechischen Athleten Milon zeigt, wie alt das Interesse an körperlicher Entwicklung und an den dafür verantwortlichen Prozessen ist. Es heißt, Milon habe täglich ein Kalb gestemmt und als das Kalb größer wurde, wuchs auch Milons Kraft. Dass sich Kraft progressiv entwickelt, war also schon vor Tausenden von Jahren bekannt, aber erst vor (auf die Menschheitsgeschichte bezogen) vergleichsweise kurzer Zeit fand der technische Fortschritt eine Antwort auf die Frage, wie sich ein progressives Widerstandstraining am besten umsetzen lässt.
Zu den ersten Geräten, die zu diesem Zweck entwickelt wurden, zählte die Langhantel, ein langer Metallstab, an dessen beiden Enden sich ein Gewicht befand. Die ersten Langhanteln waren mit Kugeln versehen, die man nach Bedarf mit Sand oder Kies füllen konnte. David Willoughbys hervorragendes Buch The Super Athletes (A. S. Barnes and Co., 1970) beschreibt die Geschichte des Gewichthebens sowie die Ausrüstung, die diesen Sport erst möglich machte. Willoughby konnte aber nicht ahnen, dass sich Mitte der 1970er die Ereignisse überschlagen würden. Ein gewisser Arthur Jones erfand ein Gerät, das das Krafttraining revolutionierte. Leider sind nicht alle Revolutionen uneingeschränkt produktiv. Seine Nautilus-Maschinen nutzten das »Prinzip des variablen Widerstands«, demzufolge sich die Kraftkurve während der Bewegung gegen einen Widerstand verändert – dass also ein Muskel, abhängig vom momentanen Winkel des Gelenks, unterschiedlich viel Kraft entwickeln kann. Für jedes Körperteil gab es nun eine eigens entwickelte Maschine, und die Kette, die mit dem Gewichtsblock verbunden war, wurde mit einer Umlenkrolle ausgestattet, die während der Bewegung den Widerstand veränderte, gegen den das Gelenk arbeiten musste. Die Maschinen waren darauf ausgelegt, in einer bestimmten Reihenfolge benutzt zu werden, eine nach der anderen, ohne Pause zwischen den Sätzen, da jeweils ein anderes Körperteil trainiert wurde. Der (unter wirtschaftlichen Überlegungen durchaus gerechtfertigte) Grundgedanke war, dass man ein umfassendes Ganzkörpertraining erhalten konnte, sofern genügend Maschinen vorhanden waren, die einen Zirkel ergaben – und alle ein anderes Körperteil trainierten. Diese Trainingsgeräte waren extrem hochwertig verarbeitet und optisch ansprechend gestaltet, und bald besaßen die meisten Studios den obligatorischen, sehr teuren Nautilus-Zirkel mit zwölf Stationen.
Kraftmaschinen waren allerdings keineswegs etwas Neues. An den meisten Highschools gab es schon damals eine Gladiator Multi-Station von Universal, und jeder, der mit Gewichten trainierte, kannte Übungen wie das Beinstrecken und Latziehen. Der Unterschied lag im Marketing der neuen Geräte. Nautilus hob den Ganzkörpereffekt des kompletten Zirkels hervor, der zuvor nie für wichtig erachtet worden war. Uns wurden Vorher-nachher-Bilder vorgesetzt, unter anderem von Casey Viator, der angeblich nur mithilfe von Nautilus-Geräten eine stattliche Physis erzielt hatte. Was aber nicht erwähnt wurde, war, dass der gute Herr Viator ein erfahrener Bodybuilder war, der lediglich seine alte Muskelmasse wiederaufbaute, die er sich zuvor mit altbewährten Methoden antrainiert hatte.
Jones ging sogar so weit zu behaupten, dass man die Kraft, die man sich mit Nautilus-Maschinen aneignete, auf komplexe Bewegungsmuster übertragen konnte, wie sie beispielsweise im olympischen Gewichtheben vorkamen, ohne die entsprechenden Übungen mit schweren Hanteln ausführen zu müssen – eine Behauptung, die allen gängigen Trainingstheorien und praktischen Erfahrungen widerspricht. Aber Nautilus war bereits so erfolgreich und hatte einen so großen Namen, dass niemand widersprach. Seither gelten die Maschinen dieses Herstellers als internationaler Standard in kommerziellen Fitnessstudios.
Der Hauptgrund für diesen Siegeszug war, dass die Fitnessstudios (die damals noch »Gesundheitsclubs« hießen) mit Nautilus-Maschinen der Öffentlichkeit etwas bieten konnten, das es in dieser Form zuvor nicht gegeben hatte. Wenn vor der Erfindung von Nautilus ein Clubmitglied ein hartes Training absolvieren wollte, das sich mit der Universal-Ausrüstung nicht umsetzen ließ, dann musste er den Umgang mit Langhanteln erlernen. Das musste ihm aber jemand beibringen. Und zu diesem Zweck musste jemand den Club-Angestellten beibringen, wie man es ihm beibringt. Eine solche professionelle Fortbildung war und ist zeitaufwendig und nicht überall verfügbar. Und sie kostet entsprechend. Mit der Nautilus-Ausrüstung allerdings konnte jedermann...