1. Das Problem
Nie zuvor war der Mensch der Erfüllung seiner liebsten Hoffnungen so nahe wie heute. Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Errungenschaften befähigen uns, den Tag vorauszusehen, an dem der Tisch für alle Hungrigen gedeckt sein wird – einen Tag, an dem das Menschengeschlecht eine einzige Gemeinschaft bilden und nicht mehr in getrennten Einheiten leben wird. Tausende von Jahren waren nötig für diese Entfaltung der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, für sein wachsendes Vermögen, eine Gesellschaftsordnung aufzubauen und seine Kräfte zweckorientiert zu gebrauchen. Der Mensch hat eine neue Welt mit eigenen Gesetzen und eigenem Schicksal geschaffen. Wenn er seine Schöpfung betrachtet, kann er sagen: Wahrlich, sie ist gut.
Aber was kann er sagen, wenn er sich selbst betrachtet? Ist er der Verwirklichung eines anderen Traumes der Menschheit nähergekommen – dem von der Vervollkommnung des Menschen? Des Menschen, der seinen Nächsten liebt, Gerechtigkeit übt, die Wahrheit spricht und das zur Wirklichkeit gemacht hat, was er der Möglichkeit nach ist – das Ebenbild Gottes?
Die Frage aufwerfen, heißt uns Pein bereiten, denn die Antwort ist so schmerzlich eindeutig. Während wir wunderbare Dinge geschaffen haben, versäumten wir, uns selber zu Wesen zu machen, welche dieser gewaltigen Anstrengung wert wären. Unser Leben ist nicht das der Brüderlichkeit, des Glücks und der Zufriedenheit, sondern es gleicht einem geistigen Chaos und einer Verworrenheit, die einem Zustand des Verrücktseins gefährlich nahekommt – nicht jener hysterischen Form von Verrücktheit, die es im Mittelalter gab, sondern einer Verrücktheit, welche der Schizophrenie verwandt ist, bei der der Kontakt mit der inneren Realität verlorengegangen, und bei der das Denken vom Gefühl abgespalten ist.
Sehen wir uns nur einiges aus dem Nachrichtenteil der Presse an, wie wir ihn täglich morgens und abends lesen. Als Reaktion auf die Wasserknappheit in New York ermahnen die Kirchen, um Regen zu beten, und gleichzeitig versuchen die Regenmacher, mit chemischen Mitteln Regen herzustellen. Mehr als ein Jahr lang wurde von fliegenden Untertassen berichtet. Die einen bestreiten ihr Vorhandensein, andere erklären sie für wirklich und der eigenen oder einer fremden Militärmacht zugehörig, [VI-231] während wiederum andere ernsthaft behaupten, es seien Maschinen, welche die Bewohner eines andern Planeten zu uns schickten. Man sagt uns, nie habe Amerika so gute Aussichten auf eine helle Zukunft gehabt wie jetzt um die Jahrhundertmitte; auf derselben Seite wird die Wahrscheinlichkeit eines neuen Krieges erörtert, und die Gelehrten streiten sich darüber, ob die Atomwaffen zur Zerstörung des Erdballs führen werden oder nicht.
Die Leute gehen in die Kirchen und hören Predigten, in denen die Grundsätze der Liebe und der Barmherzigkeit gepriesen werden; und dieselben Leute würden sich für Narren oder Schlimmeres halten, wenn sie Bedenken hätten, einem Kunden etwas aufzuschwatzen, wovon sie wissen, dass es über seine Verhältnisse geht. Kinder lernen in der Sonntagsschule, dass Ehrlichkeit, Lauterkeit und die Sorge um das Seelenheil die leitenden Prinzipien des Lebens sein sollten, während „das Leben“ lehrt, dass die Befolgung dieser Grundsätze uns bestenfalls zu weltfremden Träumern macht. Wir haben die erstaunlichsten Möglichkeiten der Mitteilung durch Presse, Rundfunk und Fernsehen, und zugleich werden wir täglich mit einem Unsinn gefüttert, der für den Verstand von Kindern beleidigend wäre, würden diese nicht damit großgezogen. Viele Stimmen verkünden, unsere Lebensweise mache uns glücklich. Aber wie viele Menschen unserer Zeit sind glücklich? Es ist interessant, sich an eine zufällige Aufnahme zu erinnern, die kürzlich in der Zeitschrift „Life“ erschien. Eine Gruppe von Menschen wartet an einer Straßenecke auf das grüne Licht. Was an diesem Bilde so auffällig war und so aufrüttelnd wirkte, war der im Text erklärte Umstand, dass diese Menschen, die alle wie gelähmt und verängstigt aussahen, nicht etwa einen schrecklichen Verkehrsunfall mitangesehen hatten, sondern beliebige Leute waren, die ihren Geschäften nachgingen.
Wir klammern uns an den Glauben, wir seien glücklich; wir lehren unsere Kinder, dass wir es weiter gebracht haben als irgendeine frühere Generation und dass im Endeffekt kein Wunsch unerfüllbar und nichts uns unerreichbar sein werde. Der äußere Anschein unterstützt diesen Glauben, der uns unablässig eingehämmert wird.
Aber hören unsere Kinder eine Stimme, die ihnen sagt, wohin sie gehen und wofür sie leben? Irgendwie fühlen sie, wie alle menschlichen Wesen, dass das Leben einen Sinn haben muss – aber welchen? Finden sie ihn in den Widersprüchen, in Doppelzüngigkeiten und der zynischen Resignation, der sie auf Schritt und Tritt begegnen? Sie sehnen sich nach Glücksgefühl, nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, nach Liebe, nach einem Objekt der Hingabe – vermögen wir ihr Verlangen zu befriedigen?
Wir sind ebenso hilflos wie sie. Wir kennen die Antwort nicht, weil wir sogar vergessen haben, die Frage zu stellen. Wir geben vor, unser Leben habe eine feste Grundlage und leugnen die Schatten des Unbehagens, der Angst und der Verwirrung, die uns nie verlassen.
Manche Menschen halten die Rückkehr zur Religion für die Antwort; doch nicht als einen echten Glaubensakt, sondern um quälenden Zweifeln zu entgehen; sie entscheiden sich dafür nicht aus Hingabe, sondern aus Sicherheitsbedürfnis. Wer die gegenwärtige Zeit erforscht und wessen Hauptanliegen nicht die Kirche, sondern die Seele des Menschen ist, sieht in einem solchen Schritt ein weiteres Symptom für die Schwäche unserer Lebenskraft. [VI-232]
Diejenigen, welche die Lösung in einer Rückkehr zur traditionellen Religion sehen, sind von einer Auffassung beeinflusst, die häufig von Religionsanhängern vorgebracht wird, nämlich dass wir zu wählen hätten zwischen Religion und einer Lebensweise, die sich einzig um die Befriedigung unserer instinktiven Bedürfnisse und materiellen Annehmlichkeiten kümmert; dass wir, wenn wir nicht an Gott glauben, keinen Grund – und kein Recht – hätten, an die Seele und ihre Forderungen zu glauben. Priester und Seelsorger scheinen die einzigen Berufe zu sein, die sich mit der Seele befassen, die einzigen Anwälte für die Ideale Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit.
Geschichtlich ist dies nicht ganz zutreffend. Während in einigen Kulturen, wie der ägyptischen, die Priester die „Seelenärzte“ waren, lag diese Aufgabe z.B. in Griechenland mindestens teilweise in den Händen der Philosophen. Sokrates, Plato und Aristoteles behaupteten nicht, im Namen irgendeiner Offenbarung zu sprechen; vielmehr beriefen sie sich auf die Autorität der Vernunft und auf ihr Anliegen, dem Menschen zum Glück und zur Entfaltung seiner Seele zu verhelfen. Sie beschäftigten sich mit dem Menschen als einem Selbstzweck und sahen in ihm den wichtigsten Gegenstand der Forschung. Ihre Abhandlungen über Philosophie und Ethik waren zugleich Werke der Psychologie. Diese Tradition der Antike hat die Renaissance fortgeführt, und es ist sehr charakteristisch, dass das erste Buch, das in seinem Titel das Wort Psychologie enthält, den Untertitel trägt: Hoc est, de hominis perfectione („Das heißt: Von der Vervollkommnung des Menschen“, R. Goeckel, 1590).[3] Zur Zeit der Aufklärung erreichte diese Tradition ihren Höhepunkt. Aufgrund ihres Glaubens an die menschliche Vernunft bejahten die Philosophen der Aufklärung, die zugleich Seelenforscher waren, die Unabhängigkeit des Menschen von politischen Fesseln ebenso sehr wie von den Banden des Aberglaubens und der Unwissenheit. Sie lehrten ihn, sich gegen Existenzbedingungen zu wehren, welche die Aufrechterhaltung von Illusionen verlangten. Ihre psychologische Forschung wurzelte in dem Versuch, die Bedingungen des menschlichen Glücks zu entdecken. Ein Zustand des Glücklichseins, sagten sie, könne nur erreicht werden, wenn der Mensch innere Freiheit erlangt habe. Nur dann vermöge er geistig gesund zu sein. Doch hat der Rationalismus der Aufklärung bei den darauf folgenden Generationen einen drastischen Wandel erfahren. Berauscht von einem neuen materiellen Wohlstand und vom Erfolg bei der Beherrschung der Natur, hat der Mensch aufgehört, sich selbst für das Wesentliche des Lebens und den wichtigsten Gegenstand der wissenschaftlichen Erforschung zu halten. Statt mit der Vernunft die Wahrheit zu entdecken und mit ihr durch die Oberfläche hindurch zum Wesen der Phänomene vorzudringen, setzte man auf den technischen Verstand[4] als einem bloßen Werkzeug zur Manipulation der Dinge und Menschen. Der Mensch hat aufgehört zu glauben, dass die Kraft der Vernunft die Gültigkeit von Normen und Ideen für das menschliche Verhalten begründen kann.
Dieser Wandel des intellektuellen und emotionalen Klimas hat einen gewaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Psychologie als Wissenschaft gehabt. Ungeachtet gewisser Ausnahmen, wie Nietzsche und Kierkegaard, wurde die Tradition, nach der die Psychologie die Erforschung der Seele im Blick auf des Menschen Tugend und Glück war, verlassen. Die akademische Psychologie beschäftigte sich, indem sie die Naturwissenschaften und deren Laboratoriumsmethoden des Wägens und Zählens [VI-233] nachahmte, mit allem, ausgenommen der Seele. Sie versuchte, jene Aspekte des Menschen zu verstehen, die im Laboratorium geprüft werden können, und behauptete, das Gewissen, die Werturteile, das Wissen um Gut und Böse seien metaphysische Vorstellungen, deren Abklärung außerhalb der Aufgaben der Psychologie liege; sie befasste sich weit häufiger mit...