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Wege aus einer kranken Gesellschaft

AutorErich Fromm
VerlagEdition Erich Fromm
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl Seiten
ISBN9783959120319
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Dieses Buch markiert eine wichtige Vertiefung im Denken und politischen Wirken von Erich Fromm: Der Charakter eines einzelnen, aber auch der vieler Menschen wird sich nur ändern, wenn sich die wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Lebenspraxis ändert, die die Gesellschafts-Charakterorientierung hervorbringt. In einer krank machenden oder gar kranken Gesellschaft werden die individuellen Bemühungen um eine produktive Charakterorientierung kaum Aussicht auf Erfolg haben - geht man mit Fromm davon aus, dass der Mensch ein Bezogenheitswesen ist und dass sein Bezogensein auf eine soziale Gruppe von existenzieller Bedeutung für ihn ist. Die Frage, ob das gesellschaftliche Zusammenleben das psychische Gelingen des Menschen fördert, hemmt oder gar vereitelt, steht deshalb im Mittelpunkt von Wege aus einer kranken Gesellschaft. Fromm fragt deshalb in diesem Buch nach alternativen Gesellschaftsentwürfen zur vorherrschenden kapitalistischen Gesellschaft. Am Ende des Buches macht er konkrete Vorschläge, wie eine psychisch gesunde Gesellschaft gestaltet und organisiert sein müsste. Der Ausgangspunkt ist eine Konfrontation des kranken Menschen der Gegenwart mit seinen wahren Bedürfnissen. Die in Kapitel 3 ausgeführte Bedürfnislehre findet sich in dieser Ausführlichkeit nirgends mehr sonst in den Schriften Fromms. Die Tatsache spezifisch menschlicher Bedürfnisse und die Notwendigkeit ihrer Befriedigung ist die Basis eines normativen Humanismus, der den Versuch unternimmt, das zu formulieren, was seelische Gesundheit in der jeweiligen Gesellschaft heißt. In Kapitel 4 beleuchtet Fromm die gesamte Wertungsfrage 'krank-gesund' beim Einzelnen wie bei der Gesellschaft.

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten 'Frankfurter Schule' um Max Horkheimer. 1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch 'Die Furcht vor der Freiheit' weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch 'Die Kunst des Liebens' schrieb, sondern auch das Buch 'Wege aus einer kranken Gesellschaft'. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch 'Haben oder Sein'. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.

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Leseprobe

1. Sind wir gesund?


Keine Idee ist so verbreitet wie die, dass wir, die in der westlichen Welt des 20. Jahrhunderts lebenden Menschen, überaus gesund seien. Trotz der Tatsache, dass viele von uns unter mehr oder weniger schweren Formen seelischer Erkrankung leiden, zweifeln wir kaum an dem allgemein guten Zustand unserer seelischen Gesundheit. Wir sind sicher, dass wir durch die Einführung besserer Methoden seelischer Hygiene den Zustand unserer seelischen Gesundheit noch weiter verbessern werden. Was aber die psychischen Störungen bei einzelnen betrifft, so sehen wir darin nur durchaus individuelle Vorkommnisse, wobei wir uns vielleicht lediglich etwas darüber wundern, dass in unserer angeblich so gesunden Kultur derartige Einzelfälle so häufig anzutreffen sind.

Können wir tatsächlich so sicher sein, dass wir uns nicht täuschen? Mancher Insasse einer Nervenheilanstalt ist überzeugt, dass alle anderen verrückt seien, nur er selbst nicht. Mancher schwerkranke Neurotiker glaubt, dass seine Zwangsrituale und seine hysterischen Ausbrüche die normale Reaktion auf irgendwie anomale Umstände seien. Und wie ist das mit uns selbst?

Sehen wir uns nach altbewährter psychiatrischer Methode die Tatsachen einmal näher an. Wir haben in den letzten hundert Jahren in der westlichen Welt einen größeren materiellen Reichtum geschaffen, als es irgendeiner anderen Gesellschaft in der Geschichte der menschlichen Rasse gelungen ist. Dennoch haben wir es fertiggebracht, Millionen von Menschen durch eine Einrichtung zu töten, die wir „Krieg“ nennen. Von kleineren Kriegen abgesehen, hatten wir 1870, 1914 und 1939 drei große Kriege. Während dieser Kriege glaubte jeder Kriegsteilnehmer fest, dass er zu seiner eigenen Verteidigung und um seine Ehre kämpfe, oder dass Gott auf seiner Seite stehe. Die Gruppen, mit denen man sich im Krieg befindet, sieht man – oft von einem Tag zum anderen – als grausame, unvernünftige, schlimme Feinde, die man vernichten müsse, um die Welt von allem Bösen zu erretten. Aber wenn dann ein paar Jahre nach dem gegenseitigen Gemetzel verstrichen sind, sind aus den Feinden von gestern Freunde geworden, und die Freunde von gestern sind unsere Feinde, und wir fangen wieder allen Ernstes an, sie in den entsprechenden Schwarz-Weiß-Farben zu malen. Heute, im Jahre 1955, sind wir auf ein Massengemetzel gefasst, das – wenn [IV-008] es dazu kommen sollte – jedes andere Gemetzel, das die menschliche Rasse bisher arrangiert hat, übertreffen wird. Eine der größten Entdeckungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaft steht zu diesem Zweck bereit. Jedermann blickt mit einer Mischung von Vertrauen und Angst auf die „Staatsmänner“ der verschiedenen Völker – bereit, sie in den Himmel zu heben, wenn es ihnen gelingt, einen Krieg zu vermeiden, wobei man völlig übersieht, dass es ausschließlich diese Staatsmänner sind, die die Kriege verursachen, und gewöhnlich nicht einmal aus böser Absicht, sondern durch einen unvernünftigen und falschen Umgang mit den ihnen anvertrauten Angelegenheiten.

Bei diesen Ausbrüchen von Destruktivität und paranoidem Misstrauen benehmen wir uns nicht anders, als es der zivilisierte Teil der Menschheit in den letzten dreitausend Jahren seiner Geschichte getan hat. Nach Victor Cherbulliez sind von 1500 v. Chr. bis 1860 n. Chr. nicht weniger als achttausend Friedensverträge unterzeichnet worden, von denen jeder angeblich den ewigen Frieden sicherstellte und von denen jeder durchschnittlich zwei Jahre dauerte! (Vgl. H. B. Stevens, 1949, S. 221.)

Auch die Art, wie wir unsere wirtschaftlichen Angelegenheiten handhaben, ist nicht ermutigender. Wir leben in einem Wirtschaftssystem, in dem eine besonders gute Ernte oft eine wirtschaftliche Katastrophe ist, und wir schränken unsere landwirtschaftliche Produktivität ein, um „den Markt zu stabilisieren“, obwohl es Millionen von Menschen gibt, die eben die Dinge, deren Erzeugung wir einschränken, nicht haben und sie bitter nötig hätten. Im Augenblick funktioniert unser Wirtschaftssystem sehr gut, neben vielen anderen Gründen deshalb, weil wir pro Jahr Milliarden Dollar für die Herstellung von Waffen ausgeben. Unsere Wirtschaftswissenschaftler sehen der Zeit mit einiger Besorgnis entgegen, in der wir die Waffenproduktion einstellen werden, und der Gedanke, dass der Staat Häuser und andere nützliche und benötigte Dinge anstelle von Waffen herstellen könnte, führt leicht zu dem Vorwurf, dies gefährde die Freiheit und lähme die persönliche Initiative.

Etwa 90 Prozent unserer Bevölkerung können lesen und schreiben. Wir bieten jedermann täglich Rundfunk, Fernsehen, Filme und Zeitungen. Statt dass diese Medien uns aber täglich neben der Reklame das Beste aus der früheren und gegenwärtigen Literatur und Musik bieten, stopfen sie die Köpfe mit billigstem Schund, dem jeder Bezug zur Realität abgeht, voll, und mit sadistischen Phantasien, die so sind, dass sich jeder nur halbwegs gebildete Mensch schämen würde, wenn er ihnen auch nur vorübergehend nachhinge. Und während so das Denken von jedermann, ob jung oder alt, vergiftet wird, achten wir unverdrossen weiter darauf, dass nichts „Unmoralisches“ auf den Bildschirm kommt. Jeder Vorschlag, die Regierung solle die Herstellung von Filmen und Radioprogrammen finanzieren, welche die Menschen aufklären und weiterbringen, würde nur immer wieder auf Entrüstung und Vorwürfe im Namen von Freiheit und Idealismus stoßen.

Im Vergleich zu der Zeit vor hundert Jahren haben wir die Arbeitszeit auf etwa die Hälfte reduziert. Wir haben heute mehr Freizeit zur Verfügung, als es sich unsere Vorfahren hätten jemals träumen lassen. Aber was ist geschehen? Wir wissen nicht, was wir mit dieser neugewonnenen Freizeit anfangen sollen; wir versuchen, die gewonnene Zeit totzuschlagen, und sind froh, wenn wieder einmal ein Tag vorüber ist. [IV-009]

Ich brauche dieses Bild, das ohnehin jeder kennt, nicht weiter auszumalen. Wenn jemand das täte, würden sicher ernsthafte Zweifel an seiner geistigen Gesundheit laut. Behauptete er dagegen, nichts liege im Argen und man benehme sich völlig vernünftig, so würde die Richtigkeit dieser Diagnose nicht einmal angezweifelt.

Dennoch weigern sich viele Psychiater und Psychologen zuzugeben, dass die Gesellschaft als Ganzes vielleicht nicht mehr ganz gesund sein könne. Sie behaupten, das Problem der seelischen Gesundheit in einer Gesellschaft betreffe nur die Zahl der „nicht angepassten“ Individuen und nicht eine mögliche Nicht-Anpassung der Kultur selbst. Das vorliegende Buch befasst sich mit dem zweiten Problem, also nicht mit der individuellen Pathologie, sondern mit der Pathologie der Normalität, insbesondere mit der Pathologie der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft. Aber bevor wir an die komplizierte Diskussion des Begriffs der gesellschaftlichen Pathologie herangehen, wollen wir uns zunächst einige Daten ansehen, die schon an sich aufschlussreich und bezeichnend sind und die sich auf das Auftreten individueller Erkrankungen in der westlichen Kultur beziehen.

Wie häufig treten seelische Erkrankungen in den verschiedenen Ländern der westlichen Welt auf? Es ist eine höchst erstaunliche Tatsache, dass uns keine Daten zur Beantwortung dieser Frage zur Verfügung stehen. Während wir exakte vergleichende Statistiken über materielle Mittel, über Beschäftigung, Geburts- und Todesraten besitzen, gibt es keine adäquate Information über psychische Krankheiten. Wir besitzen bestenfalls einige exakte Daten für einige Länder, wie für die Vereinigten Staaten und Schweden, aber diese beziehen sich nur auf die Aufnahme von Patienten in Nervenheilanstalten. Man kann daraus keine Schlüsse ziehen auf die relative Häufigkeit von psychischen Krankheiten. Solche Zahlen sagen uns genauso wenig über eine verbesserte psychiatrische Versorgung und institutionelle Möglichkeiten wie über die Zunahme der Häufigkeit von psychischen Krankheiten. (Vgl. H. Goldhamer und A. Marshall, 1953.) Die Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller Krankenhausbetten in den Vereinigten Staaten von Patienten mit psychischen Störungen belegt sind, für die wir jährlich eine Summe von über einer Milliarde Dollar ausgeben, braucht kein Hinweis auf eine größere Häufigkeit von psychischen Krankheiten zu sein, sondern könnte ebenso eine verbesserte Fürsorge signalisieren. Einige andere Zahlen jedoch weisen deutlicher auf die Häufigkeit schwererer psychischer Krankheiten hin. Wenn im letzten Krieg 17,7 Prozent aller für wehrdienstuntauglich Erklärten dies auf Grund von psychischen Krankheiten waren, so zeugt das gewiss von einem hohen Häufigkeitsgrad psychischer Störungen, selbst wenn uns keine Vergleichszahlen aus der Vergangenheit oder aus anderen Ländern zur Verfügung stehen.

Die einzigen Vergleichsdaten, die uns einen groben Hinweis auf den Zustand der psychischen Gesundheit geben, sind die Daten über Selbstmord, Mord und Alkoholismus. Zweifellos ist das Selbstmordproblem außerordentlich komplex, und man kann daher nicht einen einzigen Faktor als die Ursache annehmen. Aber auch wenn man bei der Erörterung des Selbstmords auf diesen Punkt nicht näher eingeht, so glaube ich doch mit Sicherheit annehmen zu dürfen, dass eine hohe Selbstmordrate bei einer bestimmten Population auf einen Mangel an psychischer Stabilität und psychischer Gesundheit hinweist. Dass Selbstmord nicht die Folge materieller Armut ist, geht [IV-010] deutlich aus allen Zahlen hervor. Die ärmsten Länder haben die niedrigsten Selbstmordraten, und mit dem wachsenden materiellen Wohlstand in Europa ging eine zunehmende Zahl von Selbstmorden Hand in Hand. (Vgl. M. Halbwachs, 1930, S. 109 und 112.) Was den Alkoholismus...

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